2084

Rainer Schorm & Jörg Weigand

Jörg Weigand und Rainer Schorm haben mit „2084“ eine Anthologie von Geschichten zusammengestellt, die nicht Orwells Alptraum sind, sondern dessen Dystopie in sehr unterschiedliche Richtungen weiterentwickeln. Dabei reicht das Spektrum von Miniaturen bis zu Karl Ulrich Burgsdorfs Novelle. Es gibt Hoffnung und Verzweifelung. Zwar haben die beiden Herausgeber die angestrebten Veröffentlichungsdaten überschritten, aber die vielen Kurzgeschichten von namhaften wie jungen aufstrebenden Autoren passen in das paranoide globale Geschehen des Jahre 2020 vielleicht noch mehr als zum angestrebten Datum.

 Werner Zillig eröffnet die Anthologie mit „Das Vermächtnis des Großen Bruders“. Politisch brisant, aber auch in bestimmte Richtungen provokativ bleibt der Autor bei den Memoiren des politischen Anführers Deutschland in einer chaotischen Zeit erstaunlich sachlich. Der Leser kann, muss sich aber kein Urteil bilden. Interessant ist die Position des Protagonisten und vielleicht des Autoren, der den Kritikern und Neinsagern eine klare Absage zu Gunsten der Minderheit erteilt, die konstruktiv und manchmal auch pro aktiv überhaupt Vorschläge unterbreiten.

 Die Geschichte wird ausschließlich subjektiv aus der Perspektive des Großen Bruders erzählt, dessen politisches Sendungsbewusstsein genauso ein Teil der Manipulation sein kann wie die Bestrafung in weißen oder schwarzen Räumen Propaganda sein könnte. Werner Zillig verweigert Antworten und das Ende impliziert verschiedene Möglichkeiten. Unabhängig davon ist die Geschichte im Grunde aus der nahen Gegenwart zwanzig Jahre in die Zukunft konzipiert ein Steinwurf in ein tiefes Gewässer, dessen Wellen vielleicht Reaktionen auslösen könnten. Werner Zillig ist erfahren genug, dem Leser klarzumachen, dass eine Gegenreaktion nicht unbedingt gut sein muss, sondern nur durch den Drang des Menschen nach ein wenig Anarchie und damit auch „Freiheit“, etwas anderes zu tun, ausgelöst wird, ohne das es abschließend wirklich einen Sinn machen muss.

 Rainer Erlers "Die Auserwählten" feiert sein p.machinery Triple. Schon in "Gegen Unendlich 15" oder "Die Welten des Rainer Erler" publiziert veröffentlichen Jörg Weigand und Rainer Schorm diese im Grunde lesenswerte, aber nicht herausragende Story ein drittes Mal alleine in Michael Haitels Verlag. Das muss wirklich nicht sein. In "Die Auserwählten" wird die Fortpflanzung der Menschheit nicht dem Zufall überlassen. Es geht weniger um Emotionen wie Liebe oder länger dauernde Partnerschaften, sondern alleine um die gezielte Planung der besten zeugungsfähigen Männer und der fruchtbarsten Frauen, die unter der Überwachung der gesichtslosen Computer oder Menschen in riesigen Hallen quasi auf Kommando Sex haben müssen. Rainer Erler entwickelt sein Szenario mit sehr vielen, vor allem Männern auch ein wenig unangenehmen Details, bevor er aus dem Nichts heraus eine Variante einbaut. Um den Plot griffiger zu machen und die Fortpflanzungsmechanik zu demonstrieren, muss Rainer Erler seine Protagonisten zu Chiffren machen, sie anonymisieren.  Damit die Pointe funktioniert, muss der Autor sie aus diesem Zustand wieder erwecken und vermenschlichen. Auf der emotionalen Ebene hat Rainer Erler mehr Schwächen als Stärken, so dass die Geschichte als Ganzes eher wie ein Konzept als ein fertiger Text erscheint.

 Thomas leBlancs „Hochzeitsvorbereitungen“ beschreibt sachlich und distanziert eine perfekt durchgeplante Zukunft, in welcher es vor allem darum geht, mit Scorepunkten der Allgemeinheit zu dienen, dem Konsum eingeschränkt wie Ziel gerichtet zu frönen und vor allem gegenüber den allwissenden Behörden keine Angriffsflächen zu geben. Solide geschrieben und direkt auf eine passende Pointe hingetrieben ist die Kurzgeschichte aber auch eine übertriebene Satire auf eine Reihe von gegenwärtigen Trends. Monika Niehaus schließt sich einer Punktezukunft mit „Ein ganz normaler Tag im Leben der Birdie Brown“ an. Die Protagonistin muss vor dem Amt Rede und Antwort stehen. Die Behörden wissen und kontrollieren alles. In diese kleine Phalanx reiht sich auch Bernd Schuhs „Das Verhör“ ein, wobei die Maschine im Grunde zu spät kommt und versucht, die Informationen zusammenzusetzen, während sich die Protagonistin unschuldig fühlt. Von diesen drei Texten verfügt Bernd Schuh über die kraftvollste Pointe, auch wenn er auf dem Weg dahin einige kleinere konstruierte Klippen übersprungen muss. 

 Zu den dunkelsten Texten der ganzen Anthologie gehört Rainer Schorms „Vote!“. Der Plot ist klassisch aufgebaut. Ein inzwischen amtsmüde Polizist muss sich um eine Leiche kümmern, die anscheinend aus dem Nichts heraus an einem Herzinfarkt gestorben ist. Die Erkenntnisse hinter dem Fall lernt der Protagonisten wie der Leser zwar durch Augenzeugenberichte, aber niemals aus erster Hand kennen. Die Pointe ist zynisch, aber auch in Hinsicht auf Überbevölkerung und begrenzte Resourcen konsequent, wobei sich der Leser fragt, warum das beschriebene Phänomen angesichts des Katalysators nicht weitläufiger bekannt ist. Der Autor liefert zum Beispiel keine Erklärung, ob es sich um eine neue Methode handelt.

 Es wird viel geredet in „Zweitausendvierundachtzig“. Klara Weigand nutzt in „Die Eliten“ eine nicht einmal unbedingt futuristische Prämisse dazu, um mit dem gegenwärtigen Bildungssystem abzurechnen. Es steckt viel Wahrheit in ihrem Text und einige der beschriebenen, in dieser Geschichte abschreckend wirkenden Beispiele haben sich inzwischen vor allem in das System der Gemeinschaftsschulen mit ihrer großen Gleichmacherei förmlich eingeschlichen.

 Klaudia Vormann traut sich in „Lebe Deine Gefühle!“ nicht wirklich, ihre These konsequent zu Ende zu bringen. Während die erste Anmerkung noch passend ist, muss sie ihre provokante Rede hinsichtlich der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und damit auch Exzesse mit einer belehrenden offenen Frage negieren, auf welche sie im Grunde als Autorin selbst eine Antwort suchen sollte. Hätte sie den Text ohne diese Schlussnote beendet, dann würde diese verführerische Wunscherfüllung in jeglicher Form sich nahtlos in eine Reihe der bitterbösen, gegenwärtige Entwicklungen geschickt extrapolierenden Geschichten dieser Anthologie einreihen.

 Eine der längsten und gleichzeitig auch besten Geschichten stammt aus der Feder Karl- Ulrich Burgdorfs. „Die zweite Maschine“ zeigt eine Welt, in welche Nanobots und „DNA- Wächter“ quasi eine Selektion zukünftiger Bewohner einer Kolonie im All bestimmen. Nur gibt es anscheinend eine Art freies radikales Element, das den stoisch vorprogrammierten und kontrollierten genau zehntausend Bewohnern das kontinuierlich schlechte Gewissen nehmen will, um ihnen nicht nur eine intellektuelle, sondern möglicherweise auch amoralische Freiheit zu schenken. Dazu benötigt man anscheinend die „zweite Maschine“.

Karl Ulrich Burgdorf entwickelt seinen Plot insbesondere in der ersten Hälfte konsequent. Die Grenzen zwischen schwarz und weiß sind klar definiert, das Angebot trotz der Schmerzen verführerisch und unwiderstehlich. Anschließend kommt es zu einer emotionalen Eruption, die dem auch von Karl Ulrich Burgdorf angesprochenen Meisterwerk um Doktor Jekyll und Mister Hyde auf eine adäquate, aber nicht deckungsgleiche Art und Weise nahe kommt.

Es ist das letzte Drittel der Geschichte, in welchem der Autor den Plot noch einmal auf den Kopf stellt und impliziert, das die neu gewonnenen Freiheit vielleicht viel weniger ist als es der Protagonist erahnen kann.

Viele kleine Idee sind in die Geschichte eingeflossen. Das Format einer Novelle erlaubt es dem Autoren nicht, über den engen Horizont der Raumstation hinaus zu schauen und die „Umwelt“ näher in die Handlung einzubeziehen, so dass hier auch einiges an durchaus vorhandenem Spannungspotential wieder verloren geht.

Aber die routiniert subversive Art und Weise, mit welcher der Autor nicht nur mit den Erwartungen seines emotional überforderten, nach seinem Gewissen förmlich verzweifelt suchenden Protagonisten, sondern auch abschließend der Leser spielt, hebt die Novelle aus der breiten Masse positiv heraus.  

Interessant ist auch Ruben Wickenhäusers „Der fliegende Holländer“. Ausgangspunkt ist ein exzentrischer Hacker, der plötzlich durch Hinweise, Codewörter und vor allem E- Mails ferngesteuert wird. Während der normale Handlungsverlauf den etablierten Mustern folgt, ist es die Pointe, welche deutlicher nachhallt und zeigt, dass nicht nur die Menschen unter einer immer stringenter werdenden Zensur zu leiden haben.

Kai Fockes „Unter dem Datenradar“ zielt in eine ähnliche Richtung. In dieser perfektionierten Welt kann nur ein vordergründig systemkonformer Einzelgänger die Säulen zum Einsturz bringen. Wie bei „Der fliegende Holländer“ glaubt der Leser, die Pointe zu kennen und folgt den Mechanismen der Geschichte, um plötzlich eher im Alan Moore Land sich wieder zu finden und erkennen zu müssen, wie weit ein Einfluss wirklich reichen kann.    

 Einige Texte haben nur bedingt etwas mit dem Thema zu tun. Sie setzen sich mit anderen klassischen Science Fiction Sujets auseinander. Peter Mathys „Wahltag“ wirkt eher wie ein Expose für eine Novelle oder einen Roman, wobei der Autor dem grundlegenden Thema inklusiv des Bezugs auf Asimovs Robotergesetze keine wirklich neuen Impulse schenken kann. Die Roboter sind die „dominierende“ Klasse in dieser Zukunftswelt. Auch wenn sie weiterhin den Menschen dienen wollen, verlangen sie nach einigen Grundrechten. Das Problem der Geschichte ist, dass Peter Mathys auf der einen Seite eine wichtige Pointe vor dem Leser verstecken möchte, auf der anderen Seite aber die emotionale Seite impliziert, die in einem Widerspruch zu seinem sonstigen Hintergrund steht. Auch Chris Schmidts „Evolution“ setzt sich mit den besseren Menschen auseinander. Aber viele Ideen werden oberflächlich gestreift und wirken nicht ausgereift genug. Dabei bietet diese Story vor allem durch die Doppeldeutigkeit der Protagonisten ausgesprochen viel Potential und hätte vielleicht als kurze, mehrschichtiger aufgebaute Novelle effektiver und vor allem auch pointierter gewirkt.

 Herbert W. Frankes „Osiris“ ist eine First Contact Story mit einzelnen Bezügen auf sowohl das ägyptische Reiche wie auch fremde Wesen, welche die Menschheit vom Mond aus beobachten. Der Plot ist solide entwickelt, aber der Funke springt nicht so über, da der Autor eine deutliche Distanz zwischen den unsympathisch charakterisiertem Protagonisten und dem Leser aufbaut, auf der anderen Seite zu viele Informationen auf zu „wenig“ inhaltlichen Raum verteilt.  

 „Ungefiltert“ von Sabine Frambach ist eine der wenigen klassischen Post Doomsday Geschichten. Die Protagonisten ist anfänglich von ihren Eltern isoliert und damit auf die Zeit danach vorbereitet worden. Allerdings brechen anschließend zu viele konträre Informationen über ihr ein, so dass die Vorbereitung im Grunde ins Nichts führt. Auch wenn es sich nicht um eine Antiutopie handelt, versucht die Autorin ihrem Thema neue Ideen abzugewinnen. 

 Uwe Weinbörners „Evolution Homo KI 4.2084“ ist eine dieser subversiven Storys, bei denen die Reise interessanter ist als die zu komplexe, vielleicht sogar zu komplizierte Auflösung. Der Protagonist begegnet einem ehemaligen Kollegen, der aus den Fängen des restriktiven Systems geflohen ist. Aber dessen Geschichte erscheint fast zu phantastisch. Wie bei einigen anderen Storys ist die Pointe allerdings zynisch konsequent und stellt nicht nur das Weltbild des Protagonisten auf den Kopf, der Weg scheint allerdings ein wenig umständlich, um diese Ergebnisse zu erzielen und angesichts vor allem der genetischen Technik auch nicht wirklich notwendig. 

 Auch Katja Göddemeyers „Pirates of Love“ hätte bei einer konsequenteren und vor allem vielschichtigeren Umsetzung der guten Idee – Ausschaltung der Überwachungschip durch Alkohol – eine herausragende Story sein können. Die Idee, das im Grunde der Zauberlehrling der perfekten Überwachung gegen anarchistische Rebellen vorgehen soll und mit seiner gefangenen Freundin unter Druck gesetzt wird, ist ein guter Ansatz für eine dunkle subversive Geschichte mit entsprechend spröden Humor. Am Ende will die Autorin aber zu viele Ideen auf einmal abschließen und dadurch wirkt der ganze Text ein wenig unrund.

 „Exorzist 84“ (Andrea Schäfer) zeigt auf, welche unschuldige „Literatur“ in der Zukunft verändert, begradigt und damit auch entschärft werden kann. Es ist eine Art Streifzug durch eine farbenbunte Jugendwelt und zeigt, wie glücklich die Leser noch sein müssen, nicht wie zum Beispiel unter zahlreichen Diktatoren geglättete Literatur vorgesetzt bekommen zu haben. Ellen Norten nimmt sich bei „Schönheitsschlaf“ einer einzelne Komponente der Märchenwelt an. Dornröschen erwacht aus einer perfekten Diktatur kommend, um ihrem Mann zu gefallen, zehn Jahre später und damit in der Zeit nach dem Fall des großen Bruders. Es ist eine der wenigen Geschichten, die in der Zeit danach spielen und sich mit den wirtschaftlichen Folgen – vergleichbar dem Zusammenbruch der DDR und dem Verzicht auf die zahlreichen Vopos oder Ministeriumsmitarbeiter – auseinandersetzt, wobei der Ende fatalistisch konsequent, aber auch leider ein wenig einfallslos erscheint. „Fluchtgefahr“ von Hans- Dieter Furrer setzt ebenfalls auf eine sehr alte Idee. Die Menschen erhalten viel Geld, um später in Snufffilmen ihr Leben zu lassen. Bis zum Drehbeginn können sie ihrem Elend entkommen. Die Geschichte ist zwar routiniert geschrieben, verläuft aber leider sehr mechanisch. 

 Es finden sich eine Reihe von Miniaturen in der Sammlung. Auch wenn Rainer Maria Barleys „Rücktritt“ die Anthologie abschließt, trifft er mit seinem fiktiven Abschiedsbrief eines überforderten Wahlkampfleiters ins Schwarze und zeigt die momentan herrschende Idiotie sehr nachdrücklich auf.  Oder Jörg Weigands Verbot einer weiteren subversiven Schrift in „Ein gefährliches Dokument“.

Dagegen ist die Pointe von Martina Schleichs „Trautes Heim“ zu früh zu erkennen. Auch scheint der Aufwand, potentiell anders Denkende unter Kontrolle zu bringen vor allem angesichts der technischen Möglichkeiten viel zu einfach gestrickt. Das muss auch eine künstliche Intelligenz effektiver und subtiler hinbekommen. Auch Barbara Büchners „Das Abendritual seiner Allerhöchsten Majestät“ lässt sich in viele oder gar keine Richtung interpretieren. Der Leser kann nicht wissen, um wen es sich wirklich handelt und ob die Pointe in diesem Fall zynisch ist oder nur ein trauriges alltägliches Ritual bei einem in seiner eigenen Welt lebenden Menschen vollzogen wird.

Claudine J. Lamaisons „Smart Contract“ ist eine dieser bitterbösen Miniaturen, in welchem einem modernen Scrooge Recht angetan wird. Gute Dialoge,  interessante Exposition, aber nichts wirklich Überraschendes. Dietmar Kueglers „Social Media“ ist im Grunde nur bedingt eine phantastische Geschichte. Auch hier wird Arroganz und Hochmut umgehend bestraft, wobei Dietmar Kuegler den Drang der Menschen, sich im Netz zu positionieren und auf Kosten Anderer Likes zu erhaschen auf eine konsequente Spitze treibt.

Franziska Wolffs „Geliebte Miranda“ baut auch auf bekannten Versatzstücken auf. Wie leicht ist es auch für Politiker, die Ehefrau durch eine perfekte wie künstliche Gespielin mit den entsprechenden Folgen zu ersetzen. Aber wie einige andere Geschichten dieser Anthologie

Konzentriert sich die Autorin zu sehr auf das Vordergründige, anstatt die weiteren dunklen Seiten dieser Gesellschaft nachhaltiger und vor allem auch konsequenter zu extrapolieren. Die Pointe wirkt leider ein wenig aufgesetzt

 Ernst Kelheimers „Lehrjahre“ mit einer harten Sonderschulung im Reich der Mitte erinnert wieder mehr an das zugrunde liegende Thema der Anthologie „1984“. Mit einer speziellen Gehirnwäsche lässt sich alles erreichen, aber warum der Protagonist nicht über diese Behandlung sprechen kann wird ebenso wenig gesagt wie die Grundidee dahinter. Devote Mitarbeiter auf der einen Seite, vor allem wenn es sich um Fremde handelt, aber das die Geheimhaltung derartig perfekt sein soll, muss bezweifelt werden.

 Alleine in drei Geschichte muss der Sonderling teilweise wider Willen aufgefunden und im besten Fall eingenordet werden. „MySpace“ von Rene A. Raisch konzentriert sich auf eine perfekte letzte Oase, die in einer lauten Welt vor allem auf die Zeugen verstörend wirken kann. In „Ich töte im Namen der Menschheit“ von Kai Riedemann geht es um die sensationelle Ausmerzung der Anderen. Die Idee ist grundsätzlich nicht neu und die Pointe ist weit im Vorwege zu erkennen, aber im Grunde hat der Autor das alte Sheckley Thema digitalisiert. Iny Klocke und Elmar Wohlraths „Wohlfühlen in der Sphäre“ nimmt sich mehr Zeit, den Hintergrund der Geschichte zu entwickeln, auch wenn handlungstechnisch der Leser mitten ins Geschehen geworfen wird und intellektuell aufholen muss. Die beiden Autoren haben den Mittelteil ausgesprochen ambitioniert entwickelt, aber ihre Pointe wirkt nicht kräftig genug für die Ausgangsbasis. 

 Jan Osterlohs „Farbige Zeiten“ ist eine der Geschichten, in denen zu viele Ideen- vielleicht aus einem Vorgängertext – unerklärt aufeinander treffen und abschließend nicht zufrieden stellend bereinigt werden. Dabei verfügt der Autor hinsichtlich eines Überwachungsstaats über einen Fächer neuer Ideen, welche den drei Protagonisten das zukünftige „Leben“ schwer machen. Aber vieles wird zu hektisch und zu abrupt aufeinander folgend beschrieben, so dass die Geschichte nicht ihr volles Potential heben kann. 

 „Da Capo“ von Hinnerk von Robert erinnert an die zahlreichen Kriegsverbrechen der Vergangenheit. Es ist aber keine phantastische Geschichte.  

 „Wir brauchen Sensationen“ von Günther Stigler packt wieder das alte Thema der im Grunde manipulierten Nachrichten aus. Nur werden diese dieses Mal aktiv im Hintergrund auf beiden Seiten gesteuert.

 Hinzu kommen im Grunde mit zwei fiktiven Nachrufen „Ein Menschheitstraum“ (Marie Viking) und Hans Jürgen Kuglers auch so bezeichnetem „Nachruf auf ID 18.02.1234.6578.000-5“ zwei eher als Szenarien zu bezeichnende Miniaturen, welche grundlegende Themen wie eine vordergründig segensreiche, aber den Plänen widersprechende Forschung oder die Zusammenfassung von im Grunde nichts sagenden Verdienten für eine desinteressierte Allgemeinheit.

 Gisbert Haefs ist für die lyrische Seite zuständig. Es ist vielleicht nicht der bekannte oder markante Osterspaziergang, aber ein besonderer „Sonntagsspaziergang AD 2084“.  

 „Zweitausendvierundachtzig“ ist eine der am meisten ambitionierten Anthologie, welche Michael Haitel in seinem p. machinery Verlag veröffentlicht hat. Das hängt nicht nur mit dem Umfang zusammen, sondern auch das zugrunde liegende Thema ist herausfordernd. Nicht alle Autoren gehen auf die Ausgangsprämisse ein und setzen sich mit George Orwells Roman und dessen Dystopie auseinander. Trotzdem wirkt die Anthologie als Ganzes betrachtet überzeugend und einige der längeren Texte funktionieren vor allem neben der dreidimensional entwickelten Welt durch die zynischen Pointen, die aus dem Plot heraus zu ergeben und nicht nachträglich aufgesetzt worden sind. Das Spektrum der Geschichten ist ausgesprochen breit, das stilistische Niveau sehr hoch und wie eingangs erwähnt wechseln sich Herausforderer und etablierte Autoren sehr gut in dieser empfehlenswerten Anthologie ab.

 

AndroSF 107
p.machinery, Winnert, Juni 2020, 432 Seiten, Paperback
ISBN 978 3 95765 171 6 – EUR 17,90 (DE)
E-Book: ISBN 978 3 95765 913 2 – EUR 8,99 (DE)