Ken Liu stellt in dieser zweiten ursprünglich in den USA veröffentlichten Anthologie chinesischer Science Fiction Kurzgeschichten nach eigenem Bekunden vor allem Texte vor, die ihm gefallern haben und die ihm im Gedächtnis geblieben sind. Viele der Kurzgeschichten sind auch von ihm ins Englische übersetzt worden. Wer regelmäßig vor allem das von Neil Clarke betreute Magazin "Clarkesworld" liest, wird einige extra aus dem Chinesischen direkt ins Deutsche übersetzten Texte kennen.
Die Anthologie wird von Xia Jias „Gute Nacht, Traurigkeit“ eröffnet. Xia Jia erweist sich mehr und mehr als Bastlerin, die historische Fakten geschickt in ihren Fiktionen extrapoliert und so eine herausfordernde, niemals wirklich einfache Mischung aus Erzählung und Studie präsentiert.
Die Novelle ist in zwei Handlungsebenen aufgespalten, die vor allem hinsichtlich der Entwicklung künstlicher Intelligenz miteinander verbunden sind. Die Vergangenheit befasst sich mit den letzten Lebenstagen Alan Turings, eines der wichtigsten Forscher hinsichtlich künstlicher Intelligenz schon in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Da viel über seine letzten Tage spekuliert worden ist, hat die Autorin den Text mit ihrer eigenen Idee einer von Turing schon geschaffenen künstlichen Intelligenz namens Christopher angereichert. Eine weitere Frage stellt sich in der Zukunftshandlung. Wie bei Dick und seinem „Blade Runner“ geht es um die Idee, ob Maschinen überhaupt Maschinen identifizieren können. In einer Zeit, in welcher der Android äußerlich natürlich nicht mehr vom Menschen zu unterscheiden ist. Xia Jia präsentiert eine Reihe von interessanten, auch geschickt für den Leser nachvollziehbaren Thesen. Hinzu kommt ebenfalls die Begegnung zwischen Mensch und Maschine auf einer sehr persönlichen Ebene.
Ihre Novellen im Allgemeinen und die hier vorliegende im Besonderen sind keine intellektuell leichte Kost. Nicht selten nimmt sie aus der westlichen SF bekannte Idee und extrapoliert diese auf einer sehr intellektuellen und dadurch auch emotionslos erscheinende Ebene, während die Grundthemen bis zum offenen Ende eher angerissen werden. Dadurch wirken ihre Texte in ihren literarischen Konzepten teilweise ein wenig statisch, aber es sind die stimulierenden Zwischentöne, welche den Reiz dieser Texte ausmachen.
Cixin Lius "Mondnacht" ist eine für diesen Autor fast klassische Geschichte. Ein zukünftiges Ich ruft den Protagonisten an und schlägt ihm nacheinander mehrere bahnbrechende, die Ökologie schonende revolutionäre Erfindungen - per E Mail direkt in sein Postfach - vor. Nur haben die auch negative Folgen für die Zukunft. Ohne Antworten zu liefern spielt der Autor mit Hilfe seines liebeskranken Protagonisten verschiedene Szenarien durch und scheint vor der absoluten Scheuklappenperspektive zu warnen. Eine abschließende Antwort wird dem Leser allerdings verwehrt.
Tang Feis Titelgeschichte "Gebrochene Sterne" leidet wie Cixin Lius Text unter der Prämisse, einen Plot zu entwickeln, aber Antworten zu verweigern. Natürlich soll sich der Leser eigene Gedanken machen, aber die Autoren machen es sich in mehrfacher Hinsicht auch zu sein. Tang Fei impliziert noch mehr als Cixin Liu, wenn ein zur High School gehendes Mädchen von einer alten Frau träumt, die wiederum die Zukunft aus Sternenkonstellationen zu lesen glaubt. Sie erfährt durch diese "Visionen" einiges Negatives auch über ihre angebliche verstorbene Mutter. Am Ende begehen zwei Nebenfiguren ohne weitere Erläuterungen mehrere Kapitalverbrechen. Diese Idee könnte darauf hindeuten, dass das Universum außer Kontrolle geraten ist, aber es fehlen wie gesagt sowohl Hintergrundinformationen als auch überzeugende Protagonisten.
"Großes steht bevor" erschien in der ersten von C.C. Finlay betreuten Ausgabe von "The Magazine of Fantasy & Science Fiction" im März/ April 2015. Es ist die einzige Novelle der damaligen Ausgabe gewesen und gleichzeitig auch eine der überzeugsten Geschichten dieser Anthologie wie auch des Magazins. Ken Liu vergisst aber anzumerken, dass die Geschichte in China nicht erscheinen durfte und deswegen das Licht der Welt in seiner Übersetzung in den USA erblickte.
Es wird schwer, den politisch nachdenklich stimmenden Gehalt gänzlich zu in seiner systemkritischen Tiefe gänzlich als "Außenseiter" zu verarbeiten, beginnend mit dem melacholischen wie stimmungsvollen englischen Titel: „What has passed Shall in kinder Light Appear“.
Es ist grundsätzlich eine Liebesgeschichte. Das wunderschöne Cover dieser „The Magazine of Fantasy and Science Fiction“ Nummer hält den Schlüsselmoment der Geschichte sehr gut fest. Zwei Menschen wachsen gemeinsam auf, verlieren sich und kommen kurzeitig wieder zusammen, bevor sie lange getrennt werden. Das Ende könnte kitschig und rührselig sein. Zu diesem Zeitpunkt ist dem Leser aber schon vertraut, in welche Richtung sich der politische Hintergrund der Geschichte nur bewegen kann. Denn während seine Protagonisten ihre beschwerlichen Leben vorwärts ertragen müssen, verläuft die Zeit nicht rückwärts. Es sind die markanten historischen Ereignisse, die „rückwärts“ verlaufen. Beginnend in einer noch fiktiven Zukunft über den Anschlag vom 11. September, die Mondlandung, Vietnam und schließlich der Zweite Weltkrieg. Bao Shu hat diese historischen Meilensteine mit ihren entsprechenden, teilweise natürlich umkehrten Einflüssen wie bei einer Perlenschwur anders herum aufgereiht und arbeitet sie stoisch, für den Leser ab einem bestimmten Moment nicht mehr überraschend, aber anrührend ab. So entsteht aus dem Nichts heraus eine Parallelwelt, die vertraut und verstörend zu gleich ist. Gegen Ende des Spannungsbogens wartet man förmlich darauf, mit welchem Paukenschlag Bao Shu seine verdrehte Geschichtsstunde zu beenden sucht. Aber wie es sich für den eindringlichen, aber auch unauffälligen, niemals belehrenden Stil des Chinesen gehört endet seine Welt nicht auf einem Höhepunkt, sondern sich wieder auf das zwischenmenschliche Drama fokussierend überwiegen die leisen Töne. Wie seine gut gezeichneten, so lebensechten und doch teilweise stilisierten Figuren muss der Leser am Ende dieser erschütternden Geschichtsstunde einmal Atem fassen und über den Irrsinn der Welt nachdenken. Geschichten, die sich durch diese Intensität auszeichneten, verleiten zu einer zweiten und dritten Lektüre.
Zu den politisch provokanten Beiträgen gehören die beiden Miniaturen von Han Song, einem führenden Mitarbeiter einer der wichtigsten Nachrichtenagenturen Chinas. In „U- Boote“ geht es um das Schicksal von Wanderarbeitern in China, die ein wenig surrealistisch in den U Booten quasi in die Städte kommen, aber trotzdem nicht anerkannt werden. In „Salinger und die Koreaner“ setzt sich der Autor mit den Schwierigkeiten eines geheimnisvollen, wie unglaublichen beliebten Schriftstellers in einer Diktatur auseinander, wobei der chinesische Beobachter fast eine Art Heiligenschein tragen müsste. Es sind die bösen Nordkoreaner, die erst die Nachbarn im Süden und schließlich die USA in dieser Farce erobern, um den in der Selbstisolation lebenden Salinger zu ihrem Fanal zu machen. Viele bizarre Ideen treffen in diesen beiden kurzen Texten auf abschließend zu wenig Handlung, um über Gedankensplitter hinaus überzeugen zu können.
„Des ersten Kaisers liebstes Spiel“ von Ma Bayong ist eine herrliche Farce, welche die chinesische ehrenvolle Geschichte mit Videospielen verbindet. Der chinesische Kaiser der Frühzeit hat Zugang zu Videospielen und ist von ihnen besessen. Der Autor erwähnt die ganze Bandbreite vom Ballern bis zu Sims oder Civilization. Interessant ist der Kontrast zwischen der Politik eines Diktators und den Zielen der Spiele, eine möglichst tragfähige Gesellschaft aufzubauen. Der Kontrast zwischen den erzieherischen Aspekten der Spiele, der vom Diktator ignorierten Realität und schließlich des Beweises, das er im Grunde furchtbar naiv ist, macht den Gehalt dieser humorvollen Story aus.
Auch „Der Neujahrszug“ von Hao Jingfang ist eine dieser bizarren Geschichten, in denen mathematische Ideen mit den Besonderheiten Chinas im Allgemeinen und deren Reiselust im Speziellen verbunden wird. Der Interviewstil ist passend, die kleinen Zeichnungen so bezeichnend, dass der Leser immer wieder schmunzeln muss. .
Auch Anna Wus „Das Restaurant am Ende des Universums: Laba Porridge“ ist nicht nur eine Anspielung auf Douglas Adams berühmte Romane, sondern erzählt mit dem würdigen Rahmen die Entstehung dieses berühmten Gerichts. Der Humor ist nicht so absurd und aufgesetzt wie bei Douglas Adams, die Charaktere wirken eindimensionaler gezeichnet, aber der Text liest sich ausgesprochen kurzweilig und beweist wie Ma Bayongs Story, das Humor und chinesische Science Fiction kompatibel sind.
Cheng Jingbos „Der herabhängende Himmel“ ist eine Mischung aus interplanetarischer Kolonistengeschichte und Coming of Age. Eine junge Frau begegnet einem Mythos dieser fremden Welt und verbindet es mit der Geschichte eines besonderen Sternbilds. Atmosphärisch und stimmungsvoll mit überzeugenden Charakteren, aber einem fast zu ruhig entwickelten Plot.
„Der Roboter, der gerne Quatsch erzählte“ von Fei Dao. Es handelt sich wieder um eine Art Parabel. In einer fernen Zukunft ist der Sohn des amtierenden Herrschers als notorischer Lügner bekannt geworden. Trotzdem wird er irgendwann die Macht übernehmen. Die Dynastie schickt Roboter aus, welche nicht nur die Galaxis erkunden sollen, sondern vor allem Geschichten sammeln. Der mechanische Protagonist hört den Menschen mit ihren übertriebenen Geschichten zu und beginnt selbst, Legenden zu spinnen. Stilistisch eher getragen, ein wenig distanziert wie es sich für Märchen oder Fabeln gehört entwickelt sich gegen Ende ein kurzweiliger Plot, der allerdings sehr stark auf die obligatorische Pointe zusteuert. Im Gegensatz zu den teilweise selbstironischen Texten seiner chinesischen Kollegen wirken Fei Daos in „Clarkesworld“ abgedruckte Storys immer getragener, bemühter und irgendwie auch die Vergangenheit mit einer potentiellen Zukunft verbindend weniger systemkritisch, sondern abstrakt.
Mehrere der Texte werden nicht nur über ihre neuen Technologien miteinander verbunden, sondern greifen das Thema der letzten Minuten eines Menschen auf oder verbinden das „Jenseits“ mit der Gegenwart. In Regina Kanyu Wangs „Brainbox“ werden die letzten fünf Minuten eines sterbenden Menschen aufgezeichnet, wobei ein Ehemann nicht das „erhält“, was er sich eigentlich gewünscht hat. In Quifan Chens „Das Licht“ wird ein App Entwickler beschrieben, der anfänglich die Vorstellungen seines Auftraggebers hinsichtlich der reklametechnischen Verbreitung nicht erfüllen kann: Er das Segnen der App bringt eine ungeahnte Aufmerksamkeit. In Quifan Chens zweiter Geschichte „Eine kurze Geschichte zukünftiger Krankheiten“ geht es um soziale Konflikte und vor allem eine Reihe von medizinischen Querverweisen, welche die potentielle zukünftige Entwicklung eines deutlich politisch befreiteren und damit auch kapitalistischeren Chinas beschreibt. Auch Gu Shis „Spiegelbild“ nimmt die triste Gegenwart und hält den Protagonisten einen noch dunkleren Spiegel ins Gesicht. Alle Autoren legen ihre Finger in offene gesellschaftliche Wunden, extrapolieren teilweise mit sehr zynischem Humor gegenwärtige Trends, kommen aber abschließend doch zu hoffnungsvollen Urteilen. Es ist bezeichnend für die Widerstandsfähigkeit der Protagonisten dieser Geschichten, obwohl sie als Charaktere teilweise ein wenig zu mechanisch skizziert erscheinen.
Neben Ken Lius ausführlichen Vorwort runden drei Artikel die Anthologie ab. Von der langen Geschichte des Landes ausgehend bis in die politische Gegenwart wird nicht nur auf die kontinuierlich stärker werdende Bedeutung der Science Fiction hingewiesen, sondern auch das Fandom und die semiprofessionelle Szene bis hin zu den wenigen Kino- oder Fernsehproduktionen beleuchtet. Auch wenn die Artikel eher unpolitisch erscheinen, kann der Leser zwischen den Zeilen erkennen, welche Wechselwirkung es zwischen diesem wirklich gigantischen, aber zentralistisch geführten Reich und den wenigen Möglichkeiten, soziale oder politische Kritik in Form von Parabeln zu publizieren wirklich gibt. Sie runden die Themen ab, welche die einzelnen Kurzgeschichten mehr oder minder pointiert aufwerfen.
Zusammengefasst ist diese für die USA zweite, in Deutschland erste Anthologie chinesischer Science Fiction seit mehr als sechsunddreißig Jahren für Leser empfehlenswert, die über den weiten Schatten Cixin Lius hinaus in das Reich der Mitte schauen wollen. Viele Texte erscheinen seit Jahren in Magazinen wie „Clarkesworld“, dessen Bemühungen auch in den Anhängen noch einmal deutlich herausgestellt werden. Sie bieten ein sehr breites Spektrum an Science Fiction von der sozialkritischen Satire über den klassischen Technikoptimismus bis zu den verspielten, an die Märchen/ Sagen erinnernden Phantasien. Wer sich mit der Materie intensiver beschäftigt hat, kann direkt auf die zahlreichen Veröffentlichungen vor allem in den englischen/ amerikanischen Magazinen zurückgreifen und inzwischen aus einer reichhaltigen Auswahl seine Favoriten aussuchen.
- Originaltitel : Broken Stars
- Broschiert : 672 Seiten
- ISBN-10 : 3453320581
- ISBN-13 : 978-3453320581
- Größe und/oder Gewicht : 13.7 x 4.5 x 20.7 cm
- Herausgeber : Heyne Verlag; Deutsche Erstausgabe Auflage (9. März 2020)