Nova 29

Michael Haitel/ Michael Iwoleit

Mit emotionalen Worten leitet Michael Haitel als Mitherausgeber die 29. Ausgabe von „Nova“ ein. Über eine verschwundene Graphik endet diese Nummer mit zwei Nachrufen. Einmal auf den Autodesignern und Filmausstatter Syd Mead, sowie Cory Doctorows Abschiedsworte über Mike Resnick. Sie zeigen gleichzeitig die Problematik vieler freischaffender Künstler, die über keine oder nur unzureichende Krankenversicherungen verfügen und deswegen entweder die Behandlungskosten nicht bezahlen können oder ihre Erben Schulden hinterlassen.

 Insgesamt zehn Kurzgeschichten deutscher Autoren sowie eine Übersetzung bilden das literarische Herzstück der Ausgabe. Der sekundärliterarische Teil setzt sich neben den beiden angesprochenen Nachrufen vor allem mit verschiedenen Simulationstheorien auseinander. Interessant ist, dass die Autoren dieses Abschnitt auf der vielleicht vergebliche Suche nach der perfekten Realität sind, während sich die Literaten in ihren Texten intensiver mit der Idee der Menschlichkeit, aber auch des Menschseins auseinandersetzen.

 T. Ellings „Die letzte Jungfrau“ zielt in eine andere Richtung als es der Leser anfänglich vermutet. Die Erzählerin ist die letzte Frau, die noch in ihrem natürlich gealterten Körper lebt. Der Autor spielt mit heiteren doppeldeutigen Monologen lange Zeit mit der Erwartungshaltung der Leser, bevor er mit passenden Beispielen plakativ aufzeigt, wie sich eine soziale Gesellschaft am Rande einer künstlich erschaffenen körperlichen Unsterblichkeit benehmen könnte.

 „Die Pinoccio- Abteilung“ von Tom Turtschi setzt sich dagegen vor dem Hintergrund einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung mit der Idee auseinander, was erstens den Menschen definiert und zweitens die Maschinen – das Ende gibt der Geschichte noch einmal eine pointierte Note – dazu bringt, menschlich mit nur wenigen Stärken, aber vielen Schwächen sein zu wollen.

 Beide Geschichten präsentieren ihre Plots auf eine zwar positiv gesprochen ungewöhnliche Art und Weise, die aber nicht um ihrer Selbstwillen gewählt worden ist, sondern aus den subjektiven Perspektiven die Leser zum Nachdenken nicht unbedingt zwingen, aber mindestens auffordern möchte. 

 Sowohl J. A. Hagen in „Das Ebenbild“ als auch Moritz Greenmans „Spiegelzeit“ setzen sich mit Klonen auseinander. Bei der ersten Miniatur werden die drastischen Folgen für die Klone angesichts einer sich gesellschaftlich verändernden Ordnung gezeigt, während in „Spiegelzeit“ aufgezeigt wird, wie wertlos ein Klon plötzlich sein kann, wenn das Original doch nicht im Sterben liegt. Beide Texte sind kompakt und intensiv. Sie bieten keine Lösungen an, sondern zeigen aus der Perspektive von Opfern die Folgen. Der Widerstand ist auch nur jeweils ein Pyrrhussieg, der Strom lässt sich nicht aufhalten. Im Gegensatz zu vielen anderen kürzeren Texten ist die Stärke der beiden Geschichten ihre kompakte Fokussierung auf das individuelle Schicksal. Die weiterreichenden Folgen werden nur impliziert, so dass die Storys auch abgerundet erscheinen.

 Als Übersetzung präsentiert „Nova 29“ mit Louis B. Shalakos „Anna“ eine hinsichtlich der Erzählstruktur interessante, aber angesichts des vorhersehbaren Plotverlaufs wenig originelle Geschichte. Der Erzähler berichtet von seiner „unsterblichen“ Liebe zu Anna, nachdem er aus dem Gefängnis gekommen ist und auf sein Vermögen bei einer Schweizer Bank zurückgreifen konnte. Der Funke will nicht richtig überspringen. Das liegt nicht an der Übersetzung Tommi Brems. Die Protagonisten erscheinen zu distanziert beschrieben und der Auftakt soll den Leser absichtlich ablenken, was aber nur bedingt funktioniert. Der Handlungsverlauf bestehend aus Rückblicken auf einzelne Episoden vor allem des Protagonistenlebens besticht weniger durch Tempo als den Versuch, Atmosphäre zu entwickeln.

 Uwe Post „...und mir wird nichts mangeln“ ist angesichts seiner zynischen Grundhaltung der Kirche und deren Glaubensdogmen gegenüber einer der Höhepunkte dieser Anthologie. Die katholische Kirche scheint die Welt zu regieren. Homosexualität und Kindesmissbrauch unter dem Tarnmantel der Liebe sind alltäglich. Kinder werden zwar nicht von den Klapperstörchen, aber verhüllten Boten nachts vor die Türen gelegt. Wahrscheinlich nicht männliche Babys. Damit beginnt der nächste Schritt im dogmatischen Reifeprozess. Ohne die sonstigen verbalen Übertreibungen Uwe Post, die nicht immer im Einklang mit den dunklen nachdenklich stimmenden Botschaften seiner Geschichten stehen, erzählt der Autor stringent und packend im Grunde eine ungewollte Suche des Protagonisten nach Antworten auf die Fragen.  Ausgelöst und beschleunigt durch einen Doppelmord.

Uwe Post spielt mit den Versatzstücken der Kirche und setzt diese pointiert wie effektiv ein. Gute Dialoge und interessant gezeichnete Charaktere runden die Geschichte ab. 

 Stilistisch experimentell verspielt schildert Frank Hebben mit „Am letzten Tag“ möglicherweise real oder im Angesichts des Betrachters eine Umweltkatastrophe oder einen Atomkrieg oder auch nur das Sterben eines Protagonisten. Wie Delaney versucht der „Realität“ aufzulösen und sie durch fragmentarische Begegnungen zu ersetzen. Am Ende findet der Leser aber keinen echten Zugriff auf die Protagonisten und viele der von Dialogen getriebenen Szenen wirken als Ganzes betrachtet aufgesetzt und wenig Ziel fördernd.   

 Gleich zu Beginn der Ausgabe setzt sich  Tino Falke mit „Im Bärental“ – eindrucksvoll visuell eingeleitet von Christian Günther-  mit den Spätfolgen eines Krieges auf der Erde auseinandergesetzt. Überlebt haben vor allem die Kampfbären, die nicht mehr aus ihrer Rolle schlüpfen können und wollen. In einer tragisch emotionalen Szene finden und fangen sie Menschen, von denen sie sich eine Belebung ihrer Existenz erhoffen. Emotional ansprechend ohne kitschig zu wirken geschrieben überzeugt die Story auch durch ihre Kompaktheit und die Naivität der Kampfbären dem eigenen Schicksal, aber auch ihres Verhältnisses den Menschen gegenüber ist anrührend.  

 Norbert Stöbe nutzt bei „Expedition 13b/ Regalis“ auch ein klassisches Science Fiction als Ausgangsbasis. Bei der Erkundung eines Planeten stößt die Expedition auf ein seltsames Phänomen, das der Leser durch die wechselnde Erzählebene besser einordnen kann als die Protagonisten. Der Text wirkt aber zu komprimiert. Die Erkenntnisse bleiben oberflächlich und eine Novelle hätte Norbert Stöbe die Möglichkeit gegeben, die in dieser Form distanzierten Protagonisten besser zu entwickeln.

 „Geifer“ von Martin Wambsganß nutzt auch klassische Science Fiction Elemente. Die Begegnung mit dem Unbekannten, wobei deren Geifer eine „wundersame“ Wirkung hat. Der Autor beschwört eine Atmosphäre, die wahrscheinlich auch absichtlich ein wenig an die klaustrophobischen Zustände der Alien Filme erinnert. Aber wie bei vielen Texten dieser „Nova“ Ausgabe wird den Leser fast zu wenig präsentiert. Die beiden Protagonisten sind eher pragmatisch gezeichnet worden, der „Feind“ bleibt angedeutet. Positiv dagegen erschafft der Autor eine beklemmende Stimmung und präsentiert eine originelle Variation eines gängigen Themas. 

 „Keine Maßnahmen erforderlich“ von Peter Stroehl ist eine Geschichte, die auf ihre Pointe vertraut. Bis dahin wird der Leser mit einer Welt konfrontiert, die wie Kafkas labyrinthische Erzählungen steril und distanziert ist. Hinter jeder Ecke lauert möglicherweise auch aus Furcht vor der Obrigkeit der Wahnsinn. Die einzelnen Sequenzen scheinen schwer einzuordnen zu sein, wobei sich auch rückblickend nur einen Sinn ergeben, wenn der Leser die absichtlich inhaltlichen Auslassungen mit eigenen Gedanken füllt. Wie bei Norbert Stöbe steckt in der sehr kompakt geschriebenen Kurzgeschichte das Potential für eine Novelle, das noch gehoben werden sollte.

 Neben den beiden Nachrufen besteht der sekundärliterarische Teil aus vier Artikeln, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit der Idee des Lebens in einer Simulation auseinandersetzen. Thomas A. Sieber leitet diesen Block mit „Die ultimative Verschwörungshypothese“ ein. Er geht auf die literarischen Vorläufer gegenwärtiger Theorien genauso ein wie auf die wichtigsten cineastischen Exkursen mit dem ersten Teil der „Matrix“ Trilogie quasi als Wendepunkt. Erfan Kasraie nimmt den Faden in „Philosophische Hypothese, Science Fiction oder Bullshit?“ auf. Er sieht die Science Fiction eher als expressives Puzzlestück und versucht die verschiedenen Theorien kompakt zusammenzufassen. Religiös wird es in den beiden abschließenden Essays. Fabian Vogt stellt mit „Die beste aller Simulationen“ Vergleiche zwischen den biblischen Geschichten und der „Gegenwart“ oder einer Simulation der Gegenwart an. Wolfgang Mörth beendet diesen Block mit Die Gummiwelt- Illusion“ , wobei er die einzelnen Ansätze der vorangestellten Artikel wieder mit einem Bogen in die Science Fiction zusammenfasst, aber auch ergänzt.

Alle Artikel sind sachlich fundiert geschrieben worden und versuchen auf einer bodenständigen Basis zu spekulieren, was angesichts des Themas ohne Frage auch eine mehrfache Herausforderung ist.

 Neben den Geschichten und Sekundärbeiträgen sind es vor allem die Graphiken von Lothar Bauer über Gerd Frey bis zu Detlef Klewer oder Christine Schlicht zu einer Augenweide machen. Neben „Exodus“ präsentiert „Nova“ eine Kombination aus Text und Bild, die überdurchschnittlich und gleichzeitig auch experimentell ist.

 Die Qualität der Kurzgeschichten ist überdurchschnittlich, wobei einige der Texte basierend auf guten Ideen quantitativ ausbaufähig sind und eher Novellen verdient hätten. Die Themen sind vielfältig, stilistisch sind alle Texte ansprechend. Eine überdurchschnittliche „Nova“ Ausgabe.

 

 

Michael K. Iwoleit & Michael Haitel (Hrsg.)
NOVA Science-Fiction
Ausgabe 29
p.machinery, Winnert, August 2020, 220 Seiten, Paperback
ISSN 1864 2829
ISBN 978 3 95765 205 8 – EUR 16,90 (DE)
E-Book: ISBN 978 3 95765 885 2 – EUR 8,49 (DE)