Quantenträume

Jing Dr. Bartz u.a. (Hrsg.)

Eingeleitet von einer Vorwort Cixin Lius, aber auch abgeschlossen von Dr. Jing Bartzs erläuternden Worten präsentiert der Heyne Verlag eine Themenanthologie. Insgesamt fast zwanzig Jahre chinesischer Science Fiction finden sich in den fünfzehn Geschichten. In China erschien sie als Sonderausgabe der populären Zeitschrift „People´s Literature“, die vor einigen Jahren schon eine  Extranummer zu diesem Thema als quasi Einstieg in die Anthologie publiziert hat.  Nur zwei der Geschichten sind vorher schon auf Englisch in Neil Clarkes Magazin „Clarkesworld“ publiziert worden.

 Xia Jias „Chinesische Enzyklopädie“ ist im Grunde keine echte Science Fiction Story. Es geht um eine seltene Krankheit – Das Babely Syndrom- und um Wege, trotzdem mit den Menschen, die einem wichtig sind, zu kommunizieren. Die Charaktere sind unabhängig von der Kürze gut gezeichnet, die Grundideen gut umgesetzt und die Autorin schafft es, eine konsequentes, aber auch überzeugend nicht kitschiges Ende zu gestalten.

 „Das Hausmädchen“ von Liu Yang ist lange Zeit fast ein klassischer Krimi mit einer Verdächtigen, die es aufgrund der Robotergesetze im Grunde nicht sein kann. Die Story wird überwiegend aus der Perspektive der Roboterhausdame erzählt. Liu Yang setzt die richtigen falschen Spuren, gibt nicht nur der morbiden Phantasie der Leser die Sporen, sondern dreht den Plot auf den letzten Seiten im Grunde zweimal um die eigene Achse. Dadurch ist der Leser erst der Überzeugung, das alles aufgeklärt ist, bevor die Autorin die Handlung indirekt auf den Startpunkt zurückdreht.

 Luo Longxiangs „Hotel Titania“ ist eine der Geschichte, in denen sich die Roboter  wie in „Das Hausmädchen“ zu sehr an die Anweisungen ihrer menschlichen Herren halten. Der Hintergrund erscheint absurd. Es gibt auf einem der Monde draußen ein Hotel unter einer durchscheinenden Kuppel, das ausschließlich von Roboter betrieben wird. In der langen Nacht – da befind sich der Mond auf der anderen Sonnenseite – bleiben sie alleine zurück, renovieren das Hotel und versuchen ein kulinarisches Problem zu lösen. Der Plot funktioniert nur bedingt. Die Roboter agieren zu menschlich. Es gibt keine Erklärungen für dieses manchmal fast neurotisch erscheinende Verhalten. In dieser Pracht macht das Hotel auch keinen Sinn, wenn zum Beispiel Raumfahrer quasi auf dem Durchflug dort Station machen können. Die Raumfahrt müsste angesichts der technischen Herausforderungen viel weiterentwickelt worden sein, als es die Prämisse des Plots notwendig macht.

Bei "Der Geschichten erzählende Roboter“ von Fei Dao. Es handelt sich wieder um eine Art Parabel. In einer fernen Zukunft ist der Sohn des amtierenden Herrschers als notorischer Lügner bekannt geworden. Trotzdem wird er irgendwann die Macht übernehmen. Die Dynastie schickt Roboter aus, welche nicht nur die Galaxis erkunden sollen, sondern vor allem Geschichten sammeln. Der mechanische Protagonist hört den Menschen mit ihren übertriebenen Geschichten zu und beginnt selbst, Legenden zu spinnen. Stilistisch eher getragen, ein wenig distanziert wie es sich für Märchen oder Fabeln gehört entwickelt sich gegen Ende ein kurzweiliger Plot, der allerdings sehr stark auf die obligatorische Pointe zusteuert. Im Gegensatz zu den teilweise selbstironischen Texten seiner chinesischen Kollegen wirken Fei Daos in „Clarkesworld“ abgedruckte Storys immer getragener, bemühter und irgendwie auch die Vergangenheit mit einer potentiellen Zukunft verbindend weniger systemkritisch, sondern abstrakt.

 A Ques "Mordfall LW31" ist nur vordergründig ein Krimi. Ein reicher Unternehmer wird ermordet, der Roboter gesteht die Tat, obwohl er eigentlich nicht zu Gewalttätigkeiten gegenüber Menschen in der Lage sein sollte. Ein Detektiv gelingt es, den Fall zu klären, aber die Pointe beinhaltet sehr viel mehr explosives Potential als die Gewalttat eines Roboters gegenüber einem Menschen. Es stellt sich die Frage, ob in diesem allerdings auch relativ simpel gestalteten Krimi die Büchse der Pandora wirklich unter Verschluss gehalten werden kann.

Das Thema intelligente oder besser selbstlernende Roboter wird von Hun Song in "Der Erleuchtete" pointiert abgeschlossen. Es ist die einzige Geschichte, die sich intensiver mit dem Thema Religion auseinandersetzt. In einem abgeschiedenen Kloster gibt es einen Priester, dessen Wurzeln künstlich sind. Er wird von den Mönchen akzeptiert. Die außenstehenden durchreisenden Ingenieure sind allerdings verblüfft, wie gut der Roboter quasi seine Rolle ausfüllt. Allerdings beschränkt sich diese Version des Erleuchteten auf das abgeschieden gelegene Kloster. Dabei folgt Hun Song der Tradition vieler Geschichten die Anthologie, in welchen sich "Veränderungen" oder "Lernprozesse" immer in einem überschaubaren Rahmen abspielen und die Öffentlichkeit so gut wie nicht in die Vorgänge einbezogen wird. Es scheint sich immer (noch) um Einzelfälle zu handeln, deren Auswirkungen die Rahmen der Kurzgeschichten sprengen würden.   

„Der umgekehrte Turing-Test“ aus der Feder Sun Wanglus ist eine der für die moderne chinesische Science Fiction so typischen Geschichten. Ein theoretisches Problem wird extrapoliert, die Auflösung kommt abschließend aus einer anderen, nicht vorhersehbaren Ecke. Es geht um die Frage, wenn eine künstliche Intelligenz den Menschen herausfordern und besiegen kann, hat der Mensch eine Chance, die angesprochenen Turing-Test aus seiner Perspektive zu gewinnen. Die Auflösung ist ein wenig zu simpel und basiert einmal auf dem Prinzip des Zufalls, zum Anderen auf menschlicher Intuition. Auch in „Das Hausmädchen“ wird die mögliche Bedrohung durch die unerschütterliche Logik des Roboters unabsichtlich aufgedeckt, denn falsche Spuren können die Maschinen trotz ihrer Menschlichkeit noch nicht legen, während viele Handlungen der Menschen auf dem simplen Prinzip des Bluffs basieren und in einer Reihe der hier zusammengefassten Texte dadurch zu einem Erfolg führen. 

 Auch „Der Wannengeist“ von Shuang Chimu basierend auf dem anonym veröffentlichten Libretto „Der Topfgeist“ setzt sich irgendwann mit der Idee eines Turing- Tests auseinander, um die künstliche Intelligenz in diesem Fall von anderen höheren Mächten zu unterscheiden. Die grundlegende Handlung mit einer wehleidigen Badewanne inklusiv künstlicher Intelligenz und einer Sehnsucht nach ihrem ersten Besitzer wirkt eher wie eine Farce. Eine andere Idee besticht viel mehr. Junge Männer durchstreifen mit einem Koffer China. Mittels virtueller Projektionen entsteht so ein ganzer Gerichtshof inklusiv Richter, Staatsanwalt und manchmal auch Schöffen. Hier werden die kleinen Urteile gefällt und diesem sind bindend, wenn sich die Beteiligten von Beginn an dem Richterspruch unterwerfen. Diese kleinen Ideen negieren die ein wenig zu kitschig pathetischen Szenen, in denen die Badewanne und ihr überforderter Besitzer eine Art Beziehung aufbauen zu suchen.

 Quifan Chens „Cloud- Liebe“ spricht trotz eines männlichen Autoren ein „typisch“ weibliches Thema ein. Es ist nicht die einzige Geschichte, die sich mit neuartigen Spielen auseinandersetzt. In „Das Hausmädchen“ waren diese Entwicklungen elementarer Teil der Pointe. Chen geht aber einen Schritt weiter. Vordergründig ist es nur ein Spiel, dass die Menschen auf einer Datingplattform die künstlichen Intelligenzen herausfinden sollen und durch deren Entlarvung nicht nur eigene Punkte sammeln, sondern erkennen müssen/ sollen, wie viel Betrug hinter diesen Organisationen steckt. Die Protagonistin geht anfänglich voller Eifer auf die Suche nach dem künstlichen Partner, bis sie irgendwann erkennen muss, dass sie einen obligatorischen Schritt zu weit gegangen ist. Emotional ansprechend überdreht der Autor aber am Ende die Schraube, in dem er eine Problematik entwickelt, welche der Leser in der vorliegenden Form nicht nachvollziehen kann.

 "Der neue Tag" von Ling Chen setzt sich abermals mit einer neuen Art von Spiel auseinander. Der Protagonist denkt, gemäß der anstehenden Emmerich Verfilmung "2012" an einer Art Testrunde für ein apokalyptisches Spiel teilzunehmen. Der Funke will nicht wirklich überspringen, da erstens das Jahr 2012 schon lange zurückliegt und die Prophezeiungen der Mayas ja nicht auf die eine oder andere Art und Weise in Erfüllung gegangen sind.  Der Plot zieht sich entlang vertrauter Bahnen und auch die Pointe überzeugt nur bedingt.  

 Interessant ist, dass Gu Shis "Die Möbius- Raumzeit" zum ersten Mal außerhalb von China quasi in einer unbewusst so zusammengestellten "Clarkesworld" Themenausgabe erschienen ist. Sowohl Gu Shis Text als auch die beiden dortigen Nachdrucke  „Warmth“ von Geoff Ryman sowie „Bonding with Morry“ aus der Feder Tom Purdons nehmen einen Faden der sekundärliterarischen Artikel über die künstliche Befruchtung und die „Züchtung“ von Menschen außerhalb des Mutterleibs auf sehr unterschiedliche Art und Weise auf. Auch wenn in Gu Shis gegen Ende vorhersehbare Geschichte vor allem wie bei „Bonding with Morry“ die Idee im Vordergrund steht, dass erwachsene Menschen in cybernetischen Körpern leben und überleben, ist es „Warmth“, welche die Grundlage dieser Entwicklung darstellt. Der jugendliche Protagonist wird von einer BETsi, einer speziellen Maschine zur Kindererziehung, in seinen ersten Lebensjahren begleitet, da seine erfolgreiche Mutter eher dem Alkohol zugetan ist. Mit Beginn der Schule beginnt er seine BETsi zu vermissen. Er füllt sich leer und hat Angst, sich alleine dem Leben zu stellen. Die Suche sowohl nach seiner inzwischen weiterverkauften und neu programmierten BETsi führt ihn in eine emotionale Leere, aus welcher er sich im Grunde nicht mehr befreien kann. Er wird zu einer besonderen Art von Junkie. Geoff Ryman gelingt es, aus der subjektiven Perspektive des Erzählers den vielleicht dreidimensionalsten Charakter zu erschaffen. In „Möbius Continuum“ erleidet der Erzähler einen schweren Autounfall und sein Geist wird in einer künstlichen Körper versetzt. Er muss sich allerdings alle vier Stunden um seinen eigentlichen Körper noch kümmern. Diese Idee wird im Verlauf der Geschichte elegant zur Seite geschoben, bis ihm sein damaliger Mitfahrer beim Unfall erläutert, dass das Leben nicht nur eine Möbiusschleife, sondern viel schlimmer ein entsprechend geformtes Klebeband sein könnte. Die klebende Seite ist dabei immer innen und könnte beim Durchbrechen der Zeitbarriere zu Problemen führen.

 Einige Texte setzen sich weniger mit der Frage der künstlichen Intelligenz auseinander, sondern diskutieren, bis zu welchem Punkt ein Mensch noch ein Mensch oder besser gesagt menschlich sein kann. Den weitesten Bogen spannt in dieser Hinsicht Baoshus „Tochter des Meeres“. Die Protagonistin ist eines der nach einem Atomkrieg geborenen verstrahlten Kinder. Ihr Gehirn ist mit einem Androidenkörper fest verbunden worden. Sie arbeitet als Tiefseetaucherin. Ein Experiment der Menschheit geht schief und die Erde wird wie fast alle Kolonien unbewohnbar. Ab diesem Moment beginnt auf den beiden Handlungsebenen eine fast existentielle Reise, welche die Bedeutung des Individuums genauso hinterfragt wie die Verantwortung gegenüber der Menschheit. Die Auflösung wirkt ein wenig zu theatralisch, zu stark konstruiert, aber auch bei anderen in Englische übersetzten Texten Baoshus zeigt sich, das der Chinese gerne an Einzelschicksalen symbolisch sehr viel stellvertretend für die ganze Menschheit erzählt.

 Liu Weijas „Rettung der Menschlichkeit“ wird zwar aus der Perspektive eines Roboters erzählt, dreht sich aber auch um das Thema Menschlichkeit. Der Roboter schafft es nicht, einen Menschen in der Wüste zu retten. Er erfüllt seine Mission, kommt aber zu spät. Im Laufe seines weiteren „Lebens“ versorgt er einen Nomadenstamm in der Wüste und trifft schließlich auf marodierende Banditen, die ihn zwingen, Killermaschinen zu reparieren. Immer wieder konfrontiert Liu Weija ihren Protagonisten mit paradoxen Problemen, für die es der Logik einer Maschine folgend keine zufrieden stellenden Antworten gibt. Wie einige andere Protagonisten in dieser hier gesammelten Anthologien ist das ultimative Opfer zu Gunsten des großen Ganzen die einzige erträgliche Antwort.

 Wang Jinkangs Story „Bekenntnis“ hat eine einzige Schwäche. Der aufmerksame Leser ahnt ab der Mitte des Textes, dass die Prämisse verkehrt herum  ist. Ein Mann wacht nach einem schweren Unfall auf, seine Frau ist anscheinend so schwer verletzt worden, dass nur ihr Bewusstsein in einen Wirtkörper übertragen worden ist. Trotzdem finden die beiden wieder zusammen. Wang Jinkang überspannt den Bogen und versucht zu viel in den Text  einfließen zu lassen. Hinzu kommt, dass der Leser keinen zufrieden stellenden Zugriff auf die Protagonisten hat und dadurch die Geschichte an Effektivität verliert.

 Hao Jingfngs „Wo bist Du?“ ist eine der wenigen Geschichten, die sich mit der realistischen Einschätzung eines technologischen Fortschritts in einer kommunistisch kapitalistischen Welt auseinandersetzt. Der Protagonist hat eine Erfindung gemacht, die er im Grunde bei seinen Geldgebern nicht unterbringen kann. Die Marktreife wird ihm abgesprochen. Dadurch scheitert auch seine Beziehung zu seiner Frau. Es bleiben am Ende des Textes viele Fragen offen, zumal die grundlegende Idee nicht nur interessant ist, sondern ausgesprochen kommerziell ist.

 Der Untertitel der Anthologie ist irreführend. Nicht alle Geschichten behandeln „künstliche Intelligenzen“, wie es der Leser erwartet. Für die chinesischen Autoren ist jede Intelligenz künstlich, die nicht im Mutterleib geworden ist. Das Spektrum umfasst also auch intelligente wie lernfähige Roboter, die sich nicht nur mit den widersprüchlichen Menschen auseinandersetzen müssen, sondern in der Lage sind, Gefühle zu lernen. Auch kybernetische Wesen wie die Tochter des Meeres mit nur noch einem menschlichen Gehirn finden Einzug in diese Anthologie. Unabhängig davon, dass das zugrundeliegende Spektrum positiv gesprochen viel breiter als erwartet ist, überzeugen die Texte zwei unterschiedlicher Autorengenerationen vor allem auch ungewöhnlichere Blickweisen auf teilweise dem Leser auch bekannte Themen. Interessant ist, dass sich die jüngeren Autoren stilistisch mehr und mehr der direkten Erzählstruktur des Westens zuwenden, während die vor fünfzehn bis knapp zwanzig Jahren veröffentlichten Stories noch durch ihre distanzierte, sehr sachliche Erzählstruktur auffallen.

Das Ziel Chinas, in den nächsten Jahre die weltweit führende K.I. Macht zu werden zeigt sich in vielen Texten. Auch wenn die Menschheit es schafft, sich entweder durch Kriege oder Experimente fast gänzlich auszulösen, bleibt der Funke der Hoffnung in den Protagonisten der Autoren bestehen, ein beim nächsten oder vielleicht übernächsten Mal einfach besser zu machen. Das macht den Reiz dieser Anthologie zusätzlich aus, die eine Handvoll bislang unbekannter Autoren neben einigen vor allem durch „Clarkesworld“ bekannt gewordener Schriftsteller präsentiert und einen weiteren Einblick in die chinesische Science Fiction gibt.     

 

Quantenträume: Erzählungen aus China über Künstliche Intelligenz

  • Broschiert : 512 Seiten
  • ISBN-10 : 3453319044
  • ISBN-13 : 978-3453319042
  • Originaltitel : KI-Anthology People’s Literature
  • Abmessungen : 13.7 x 4.6 x 20.8 cm
  • Herausgeber : Heyne Verlag; Deutsche Erstausgabe Edition (14. September 2020)
  • Sprache: : Deutsch