Desperation

Stephen King

Stephen King mit "Desperation" und Richard Bachman mit seinem "posthum" veröffentlichten "Regulator" haben Literaturgeschichte geschrieben. Der Amerikaner ist immer für einen Streich gut. So erschien zum Beispiel "The Green Mile" als Fortsetzungsroman in Charles Dickens Manier. Dieses Mal haben King und sein literarisches Alter Ego zwei plottechnisch grundlegend deckungsagleiche Romane geschrieben, die aber vor unterschiedlichen Hintergründen mit den gleichen Antagonisten spielen. Beide Bücher sind eigenständig. Stephen King hat für beide Bücher zwar grundlegend die gleichen Namen verwandt, aber sie anders zugeordnet.  Dabei entsprechen die Charakterisierungen allerdings den jeweils ausgetauschten Namen. Ellen und Ralph sind in einem Roman die Eltern, im anderen Buch namentlich die Kinder. Trotzdem sind sie in ihren Handlungen klar zu erkennen.

   Kurz nach der zeitgleichen Veröffentlichung der beiden Bücher emfpanden viele den deutlich weniger umfangreicher gestalteten und inhaltlich komprimierten "Regulator" als die bessere der beiden Stephen King Arbeiten. Schon mit "Thinner" bzw. dem für die Pseudonym Veröffentlichung vor der Aufdeckung angedachten "The Dark Half" unterstrich der Amerikaner, dass manchmal weniger Beiwerk und eine extreme Fokussierung auf die Protagonisten und die Handlung mehr ist.

 Mit einem Abstand von über zwanzig Jahren lässt sich allerdings "Desperation" auch besser in Kings Gesamtwerk einordnen, ohne unbedingt nur den direkten Vergleich mit dem Zwillingsbuch in den Vordergrund zu stellen. 

 "Desperation" basierte auf einer Reise durch die USA. Stephen King fuhr in der Wüste durch eines dieser ausgestorben wirkenden Dörfer und fragte sich, wer die Bevölkerung getötet hat. In Frage kam nur der Sherriff. Auf dieser Prämisse basiert die erste Hälfte des Buches. Stephen King spielt hier mit den Urängsten der Menschen. Der Sheriff patrouilliert den Highway und verhaftet scheinbar wahllos Reisende. Zu Beginn noch, weil sie unwissentlich Rauschigift im Wagen mitführen, den sie für die Schwester eines der Protagonisten zurück nach New York bringen sollen. Oder weil der gigantisch wirkende Sherriff eine Familie in einem Camper angeblich vor flüchtigen Verbrechern schützen will. Letztendlich wird auch der seiner Ansicht nach Beste lebende amerikanische Schriftsteller mit einer Schreibblockade auf seinem Trip durch das Land verhaftet, weil der Hüter des Gesetzes es so will.

 Der Auftakt des Buches ist geschickt gewählt. Erst nach und nach zeigt sich, dass der Sheriff anscheinend den Verstand verloren hat.  Zu diesem Zeitpunkt befinden sich aber eine Handvoll Menschen in dessen Zellen, bewacht von einem bissigen Coyoten im Büro des Sheriffs. 

 Während „Desperation“ in der amerikanischen Einöde spielt, hat Richard Bachman seinen „Regulator“ in einer Kleinstadt in Ohio angesiedelt. Die Gefahr wird auch unmittelbarer und intensiver beschrieben. Futuristische Lieferwagen tauchen auf den Straßen auf und beginnen alle Menschen förmlich hinzurichten. Vom ersten Augenblick hat weiß der Leser bei Bachman, dass es sich in einem Alptraum befindet. Stephen King verschleiert diese Tatsache in „Desperation“ sehr viel geschickter.

 In „Regulator“ baut der Amerikaner auf der cineastischen Auftaktsequenz auf, in dem er beginnt, die Umgebung zu verfremden und die wenigen Überlebenden buchstäblich zu entwurzeln. In „Desperation“ befinden sich die Gefangenen erst in ihrer jeweiligen Zelle eingeschlossen und bewacht, später in der Kleinstadt mit den vom Sheriff getöteten Einwohnern ohne Handyempfang, ohne Telefonleitungen und vor allem ohne funktionierende Autos weiter gefangen und dem schwer entwaffneten Psychopathen.    

 Stephen King erschafft in „Desperation“ eine Frontiermentalität und im Grunde eine latent modernisierte Westernkulisse, während in "Regulator" sich die Menschen durch eine heute virtuell genannte Westernkulisse vielleicht auch als Hommage an Michael Crichtons "Wesdtworld", aber auch vor allem "Bonanza" kämpfen müssen.

Wie „Es“  sind sowohl „Desperation“ als auch „Regulator“ nicht chronologisch aufgebaut. Immer wieder fügt Stephen King Informationen über die „Helden“ hinzu. Die Gegenwartshandlung ist in beiden Bücher ausgesprochen stringent und lässt sich mit einem Satz zusammenfassen. Die Protagonisten begegnen einem unaussprechlichen „Bösen“ und müssen zum Teil mit Gottes Unterstützung und zahlreichen Opfern über sich hinauswachsen, um überleben zu können.

 Einige Punkte wird der Leser entweder aus anderen Stephen King Romanen kennen oder der Amerikaner greift zukünftigen Enden voraus. Der Gott Tak ist eine Anspielung auf die Serie um den dunklen Turm. Erweitert der Leser allerdings das Spektrum, dann erinnert diese Gottheit und ihre unfreiwillige Wiedererweckung auch stark an die Weird Fiction Geschichten, die unter anderem H.P. Lovecraft verfasst hat. Der Hintergrund sowohl Desperation als kleine Siedlung als auch die Manifestation des Bösen erstreckt sich über fast einhundertfünfzig Jahre und ein Bergwerksunglück, bei dem viele Menschen ums Leben gekommen sind. Auch bei „The Outsider“ wird das Finale schließlich unter der Erde ausgefochten. Ebenfalls an einem Ort, an dem vor vielen Jahren durch ein Unglück Menschen unter der Erde umgekommen sind.

 Der dunklen Gottheit Tak begegnet der Leser zusammen mit den Protagonisten in Form eines gigantischen Polizisten, der mit brachialer Gewalt über die kleine Siedlung herrscht. Der in dem Riesen innewohnende Wahnsinn tritt erst nach und nach zu Tage. Aber im Laufe des Plots fügt Stephen King andere Ideen hinzu. So kann Tak zwischen den Körpern wechseln. Anscheinend drohen seine menschlichen Hüllen relativ schnell zu „zerfallen“. In „The Outsider“ übernimmt Stephen King einen Teil dieser Idee und präsentiert im Grunde eine Art psychopathisches Chamäleon, das sich an seinen Opfern in mehrfacher Hinsicht vergeht. Auch in „The Outsider“ findet sich ein Hinweis auf Tak, wobei der „Tak“ aus dem Doppelband „Desperation“ /“Regulator“ auf keinen Fall mit der Inkarnation in „The Outsider“ verglichen werden kann. Auch die Anspielungen auf die Serie um den dunklen Turm sind eher spärlich gesät und dienen weder als umfangreicher Prequel noch als Fortsetzung.

 Aus seinem umfangreichen Werk kommen dem Leser einige seiner Helden indirekt bekannt vor.

 Mary und Peter Jackson sind durchschnittliche Amerikaner, die Peters Schwester einen Gefallen tun und deren Wagen zu ihrem neuen Zuhause in New York bringen. Im Kofferraum findet der Polizist Drogen und tötet relativ schnell auf der Polizeistation Peter Jackson. Mit den beiden Jacksons etabliert Stephen King die Bedrohungslage. Beim Auftreten weiterer Figuren wird er diese Ausgangssituation anpassen, aber nur bedingt weiter extrapolieren.

 Ralph, Ellen, David und Kirsten Carver befinden sich in ihrem Wohnmobil auf einer Tour durch die Wüste. Mit den Carvers geht Stephen King am Brutalsten um. Es wird nur einen Überlebenden geben, wobei dieser früh begonnen hat, mit Gott zu sprechen, weil er mit dem möglichen Tod seines besten Freundes konfrontiert wird. Die Carvers erhalten von Stephen King nur einen rudimentär entwickelten Hintergrund. Vor allem David steht im Mittelpunkt einer sehr langen, unangenehmen Rückblende. Die Carvers dienen im Verlauf eher als Versatzstücke. Die familiären Bindungen bedeuten allerdings auch, dass niemand wirklich zurückgelassen werden soll.

 Johnny Marinville ist ein gealterter Schriftsteller, der früher mit einer populären wie hübschen Schauspielerin verheiratet gewesen ist. Er sieht sich immer noch als einer der größten amerikanischen Schriftsteller. Verzweifelt bemüht er sich bei einem Roadtrip mit seinem Motorrad  die eigene literarische Stimme in Form von Essays wieder zu finden. Marinvilles Probleme mit Alkohol, Drogen und schließlich auch Frauen erinnern zwar an manches Klischee, aber Stephen King hat immer wieder diese talentierten, wie am realen Leben trotz ihres Geldes auch gescheiterten Literaten in seinen Büchern zu abschließend Helden gemacht. „The Dark Half“ sei hier stellvertretend erwähnt. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass Johnny Marinville Stephen King in diesem Buch am Besten gelungen ist.

 Steve Ames ist die Hilfe von außen. Er ist Marinville Roady. Er hat die Tour organisiert, er steht quasi als Notfallhelfer zur Verfügung. Interessant ist, dass Marinville und Amer sich annähern und das Verhältnis Boss/ Angestellter mehr und mehr zu einer echten Kameradschaft angesichts der Gefahren wird.

 Tom Billngsley ist der alte Tierarzt des Ortes. Zusammen mit der Wissenschaftlerin Audrey Wyler kann er den Protagonisten stellvertretend für die Leser die wichtigsten unmittelbar in der Vergangenheit spielenden Ereignisse zusammenfassen und damit die Komplexität der Bedrohung in einfache, ernste Worte fassen.

 Sie können nur als Gruppe agieren und gemeinsam gegen Tak vorgehen. Dabei versucht Stephen King vor allem deren natürliche Fähigkeiten und Ideen in die Handlung einfließen zu lassen. Alleine sind sie komplett dem gigantischen Polizisten Collie Entragian als erste Inkarnation Tak unterlegen. Stephen King verlässt allerdings nach gut einem Drittel der Handlung diese Handlungsebene und beschreibt, wie Tak nicht nur Menschen, sondern auch Tiere übernehmen, kontrollieren und schließlich quasi „aussagen“ kann. Das bedeutet allerdings auch, dass er sich immer wieder einen neuen Wirtkörper suchen muss.

 Die größte Schwäche „Desperation“ ist im Grunde, das die erste Inkarnation auch die „beste“ ist. Collie Entragian als vordergründig Vertreter des Gesetzes ist genau die Inkarnation des texanischen Sheriffs, der mit Law und Order das Gesetz einen Zahnstocher kauend in die eigenen gigantischen Hände nimmt und keine Gefangenen macht. Wobei diese Idee im übertragenen Sinne gesehen werden muss, denn Tak Entragian nimmt sehr wohl Gefangene, um sich an deren Leid zu weiden.

 Grundsätzlich spricht Stephen King in diesem Roman eine Reihe von Urängsten seiner Protagonisten an. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Jugendliche oder Erwachsene handelt. Da wäre zu Beginn wie erwähnt die Furcht vor dem Gesetz und einer entsprechenden Bestrafung. Abschließend ist es die Agst vor „unsichtbaren“ Kräften, die entweder wie in „Desperation“ unter der Erde, aber auch unter dem Bett hausen können.

Und der Plot spielt auch noch an einem Ort, an dem moderne Technik versagt und eine Flucht ohne Auto nicht möglich ist. Eine Rettung kann auch nicht aufgrund der Einsamkeit der Ortes um die Ecke kommen.

 Im Gegensatz zu vielen Horror Romanen Stephen Kings drückt der Amerikaner dieses Mal von Beginn an auf das literarisch imaginäre Gaspedal, bis sich fast alle Protagonisten im Gefängnis wieder finden, bewacht von einem riesigen Coyoten. Ab diesem Augenblick beginnt der Autor Luft zu holen und die Hintergründe seiner Figuren zu erläutern. Diese Gemächlichkeit wird bei den Szenen im örtlichen verlassenen Kino noch einmal gesteigert, in dem er nach dem Abarbeiten der eigenen Vergangenheit und damit der potentiellen Schwächen auf die tragische Geschichte des Ortes Desperation eingeht, bevor er ein zufrieden stellendes, vor allem aber auch abgeschlossenes Finale präsentiert. Enden sind nicht immer Stephen Kings Sache. Vielleicht werden sich einzelne Leser ein umfangreicheres Feuerwerk wünschen, aber der einfache Schlag ist manchmal mächtiger als das imaginäre Schwert. Dazwischen finden sich eine Reihe von grotesk brutalen Szenen inklusiv entsprechendem Gewaltvoyeurismus bis an die Grenze des Sadisten. Sowohl „Regular“ als auch „Desperation“ sind klassische Horrorbücher, in denen die Psychologie abschließend der Gewalt weichen muss.

 „Regulator“ ist im direkten Vergleich der stringentere Roman mit einer expressiveren Handlung. „Desperation“ dagegen ist der überzeugendere Abstieg in den Wahnsinn seiner Figuren, die im Grunde das Unmögliche möglich machen und durch sich selbst auch abschließend die Welt vor Dämonen wie Tak retten. Beide Bücher haben ihre Daseinsberechtigung. Es empfiehlt sich, sie nicht hintereinander, sondern durchaus in einem größeren zeitlichen Abstand zu lesen, damit die vielen kleinen Details nicht zu sehr verschwimmen und zu einem zu großen Ganzen werden.

Desperation: Roman

  • Herausgeber : Heyne Verlag (8. Februar 2011)
  • Sprache : Deutsch
  • Taschenbuch : 832 Seiten
  • ISBN-10 : 3453434048
  • ISBN-13 : 978-3453434042
  • Originaltitel : Desperation
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