Europe in Winter

Dave Hutchinson

Für den dritten Band seiner inzwischen zu einer Serie ausgebauten „Fractured Europe“ Trilogie erhielt Dave Hutchinson den BSFA Award für den besten Roman des Jahres. In  verschiedenen Interviews hat der Autor angedeutet, dass der bislang vierte Band „Europe at Dawn“ den Handlungsbogen abschließt, weitere Abenteuer aber in diesem Universum spielen könnten.  

Wie bei den ersten beiden Teilen der Serie baut Dave Hutchinson sein Szenario weiter aus. Alle Erklärungen scheinen eher Möglichkeiten als Wahrscheinlichkeiten zu sein. Wie in „Simulacron 3“ und weniger den Matrix Filmen, die wie STAR TREK sogar ein wenig ironisch von einem der Protagonisten angesprochen werden, scheint es sich bei den verschiedenen Welten dieses Fractured Europe um eine Art Zwiebelschalenmodell zu handeln. Unter jeder Schale könnte eine andere, durch historische Veränderungen oder eben Simulationen erschaffene Welt stehen, in welcher einzelne Protagonisten zumindest einen direkten oder indirekten Zugriff auf die nächste, aber mitnichten finale Ebene haben.

Interessant ist, dass die bislang vier Bände sich titeltechnisch in Jahreszeiten –  Herbst und Winter – sowie Tageszeiten – Mitternacht und Morgendämmerung – aufteilen.  Sowohl im Herbst wie im Winter steht mit Koch Rudi der gleiche Protagonist im Mittelpunkt des Geschehens. Während des Finals, in dem Rudi stellvertretend für den Leser ein weiteres Hintergrundfragment dieser an die Thriller aus dem Kalten Krieg erinnernden Welt erklärt wird, deutet Dave Hutchinson auch an, dass Rudis Vater einen deutlicheren Einfluss nicht nur auf die Entstehung dieses fragmentierten Europas hat, sondern mit der allgegenwärtigen und doch geheimnisvollen Community in Verbindung steht.

Am Ende des Buches während seiner kleinen Dankesrede spricht Dave Hutchinson davon, dass „Europe in Winter“ nicht leicht zu schreiben gewesen ist. Lange Zeit muss der Leser dem Autoren in vielen Punkten bis auf die Atmosphäre und den weiterhin lakonischen, aber packenden Stil zustimmen. „Europe in Winter“ wirkt wie der vorletzte Band einer Serie, in welcher das Finale vorbereitet wird. Aber ursprünglich wäre der Roman der letzte Band einer Trilogie gewesen. Und so beginnt der Autor plötzlich, unzählige Protagonisten einzuführen, die alle individuell und dreidimensional charakterisiert worden sind.  Aber wie sein fragmentiertes Europa verschwinden diese zahllosen Figuren auch nach ihren einzelnen Szenen wieder im Nichts dieser interessanten Welt.

Natürlich versucht Dave Hutchinson mit dieser Vielzahl von Protagonisten und deren nicht nur vielschichtigen Persönlichkeiten, sondern vage angedeuteten Verbindungen zu den anscheinend überall grassierenden Organisationen und Gegenagenten die Aufmerksamkeit der Leser aufrechtzuerhalten. Nach dem wirklich schockierenden Auftakt und dessen später relativierten wie sinnlosen Auswirkungen schafft der Autor aber keine geordnete Erzählung, sondern lässt sich lange Zeit wie seine Protagonisten durch seine eigene Schöpfung treiben. Auf der anderen Seite führt er mit einem gestohlenen sehr bekannten Flughafen und den Erläuterungen am Ende des Buches erste Versuche ein, die Komplexität dieser „Matrix“ Welt auf Speed zu entknoten und nicht nur Rudi, sondern vor allem auch den Lesern Wege aus dem geplanten Chaos zu ebnen. Aber zwischen diesen beiden eindrucksvollen die Stärken dieser Serie charakterisierenden Szenen findet sich teilweise auch markanter Leerlauf.

Daher lohnt es sich, „Europe in Winter“ weniger als klassischen Science Fiction Simulation Kalter Krieg Thriller anzusehen, sondern gleichzeitig als zynischer Kommentar auf die Politik der Gegenwart mit den Folgen des Schengen Abkommens allerdings ausschließlich aus der Sicht eines verbittert wirkenden Briten, dessen Regierung ja die offene Grenzpolitik mit dem Austritt aus der EU ad absurdum zu führen suchen sowie als eine Art populistische Geschichtsschreibung der letzten vierzig Jahre. Immer wieder finden sich Hinweise auf Filme von David Lean, die Bücher von Len Deighton verfilmt mit Michael Caine in der Hauptrolle  oder die elektronische Musik von Kraftwerk. Die Charaktere finden eine Welt ohne die Matrix Filme oder STAR TREK absurd. Aber das fragmentierte Europa in Rudis Inkarnation ist eben diese Welt.      

Daher ist „Europe in Winter“ weniger einer der Paranoia Thriller, die Len Deighton, John le Carre oder Eric Ambler so perfekt wie europäisch erzählt haben, sondern eine genauso schizophrene phantastische Variation der politischen Gegenwart, in welcher auf der einen Seite metaphorisch keine Eier zerbrochen werden sollen, dafür das Omelett besonders gut schmecken soll. Vielleicht ist deswegen Rudi auch Koch in einer kleinen Kaschemme.

Neben dem Attentat – wahrscheinlich gegen  die plötzlich offene Grenzpolitik der Community gerichtet – steht Rudi wieder im Mittelpunkt der Geschichte. Er trifft auf Gwen, die von dem für den Leser so konservativem Auftreten der Community – keine Flugzeuge oder Autos, nur moderne Dampflokomotiven – begeistert ist.  Züge sind Verbindung und Trennung zugleich.   

Immer wieder betont vor allem Rudi in seinen Inkarnationen, dass es Menschen gibt, die sich noch an ein grenzenloses offenes Europa in der Zeit nach Schengen erinnern. Das scheint „Vergangenheit“ zu sein. Vor allem der Flüchtlingsstrom 2016 mit der Festigung der außengrenze ist der eine Dominostein, welcher in der „Europe in Winter“ Welt final, in der Europe in Autumn“  weiter aus der Zukunft betrachtet das Kartenhaus der Europäischen Union zum Einsturz gebracht hat.

Wichtige Szenen könnten zu einer Farce weder. Aber Deve Hutchinson ist inzwischen ein routinierter Autor und vor allem hat sich in diesem besonderen Universum eine Sicherheit erschrieben, dass der Leser eine Begegnung Rudis mit sich selbst akzeptiert. Der Rudi aus Winter trifft auf eine ältere Inkarnation seiner Selbst. Die Begegnung ist kein Zufall. Aber nicht nur der Altersunterschied ist wichtig, sondern es handelt sich um den Rudi aus dem ersten Band der Serie. Nur einige Jahre älter als es der damalige Plot implizierte. Und kenntnisreicher, was die Strukturen hinter den einzelnen Welten angeht.

Rudi erläutert in „Welt am Draht“ Manier, das alles nur Computersimulationen ist. Sie sind nur im Grunde programmierte Marionetten. In einem der unabhängigen Stadtstaaten – ausgerechnet in Dresden beheimatet – führen anscheinend Experimente durch. Hunderte, vielleicht Millionen von Simulationen bis in die kleinsten Details auf der Charakterebene laufen parallel ab. Der Grund bleibt vage. So beginnt der ältere Rudi anscheinend als eine Art virtueller Agent einzelne Informationen und Ereignisse hinzuzufügen oder auszulöschen, damit andere Informationen aus den veränderten Abläufen ziehen können. Der Autor lässt absichtlich offen, ob die Informationen des älteren Rudi wahr oder eine weitere Taktik sind, um die einzelnen Protagonisten zu manipulieren. Der Autor ist sich bewusst, dass er hier nur eine Variation bekannter Ideen allerdings vor dem Hintergrund eines Kalter Krieg Thrillers anbietet. Philip K. Dick hat die Ideen zusammenfallender „Realitäten“ inklusiv der entsprechenden Auswirkungen auf seine Arbeiterprotagonisten meisterhaft auf die Spitze getrieben. Dave Hutchinson nutzt ein vergleichbares Szenario, um dem Leser nicht nur im vorliegenden dritten Buch, sondern auch in der ganzen Serie die Geschichte Europas im Grunde vom Ende des Ersten Weltkriegs bis in die absurde Gegenwart paranoid überzeichnet darzustellen und immer wieder drauf hinzuweisen, dass der metaphorische Flügelschlag eines Schmetterlings auch heute noch dieses fragile Gebilde zusammenbrechen lassen kann. 

Manchmal sehr versteckt in den pointiert geschriebenen Dialogen skizziert der Autor vor allem in „Europe in Winter“  ein konträres Szenario. Sein Europa ist deutlich restriktiver als es die im Westen Europas lebenden Leser kennen. Es erinnert viel mehr an eine Mischung aus den alten Ostblock Filmen und der nur auf dem Papier existierenden Meinungsfreiheit in Polen oder Ungarn. Nicht umsonst spielen Teile des Buches genau in diesen beiden Ländern bzw. spielen diese beiden Staaten eine gewichtige Rolle in der virtuellen Simulationen.  In diese Eiserner Vorhang Politik fällt der Drang zu freier Bewegung, zum Reisen, zynisch symbolisiert durch eine gewaltige Eisenbahnlinie vom Atlantik bis nach Sibirien, die einen eigenen Staaten in Europa bildet.

Die vage skizzierte Community hat keine Grenzen und könnte ein Paradies allerdings mit den angesprochenen erzkonservativen sozialen und politischen Ansichten auf dem Niveau des alten britischen Empire sein. Aber in dieser am künstlichsten wirkenden Welt aller möglichen Simulationen herrscht ein absoluter stillstand. Eine Art Stasis mit einem extrem starren System. Die Grenzen sind sehr stark in den Köpfen der Bewohner.

Schon im zweiten Buch der Serie hat der Autor eine weitere, dem klassischen Agentenroman entlehnte, aber in den Bereich der Science Fiction extrapolierte Idee hinzugefügt. Die Grenzgänger; die  Doppel- oder Dreifachagenten egal für die Community oder auf eigene Rechnung bilden eine Art Geheimgesellschaft innerhalb der einzelnen Sozialsysteme. Mehr und mehr lösen sie sich nicht nur von ihren Auftraggebern, sondern auch ihren einzelnen Welten. Sie bilden also quasi eine Art Welt in einer Vielzahl von virtuellen Welten. In welche Richtung David Hutchinson diese Idee abschließend extrapoliert, bleibt zu diesem Zeitpunkt vollkommen offen. Es besteht allerdings das Risiko, das die ganze Reise durch diese faszinierende, fragmentierte und sich stetig ändernde Welt interessanter ist als die finale Auflösung. 

Am Ende des Buches ist es Rudi, der erst zusammen mit Gwen eine Art Überlondon besucht und dann durch ein Testament quasi verführt wird, wieder an den Beginn der Geschichte in einer dieses Mal verantwortungsvolleren Position zurückzukehren.

 

Hutchinson, D: Europe in Winter (The Fractured Europe Sequence)

  • Herausgeber ‏ : ‎ Solaris; UK ed. Edition (3. November 2016)
  • Sprache ‏ : ‎ Englisch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 304 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 1781084637
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-1781084632