Das blaue Ende der Zeit

Victor Boden

Auch im Bereich des Science Fiction Romans hat sich Michael Haitels p.machinery in den letzten Jahren als der Kleinverlag etabliert, der nicht nur Debütanten eine Chance gibt, sondern auch kontroverse Themen oder ungewöhnlich Erzählstrukturen in sein Programm aufnimmt. Stellvertretend seien hier noch einmal Wolf Wellings „Die Wächterin“, Tom Tuschis „Gotteszone“, Heribert Kurths „Unter den Sternen  von Tha“ , Ron Müllers „Das Theodizee- Problem“ oder jetzt Victor Bodens „Das blaue Ende der Zeit“ genannt.

Victor Boden hat sich in den letzten Jahren Science Fiction literarisch vor allem als Kurzgeschichtenautor in Exodus oder Nova einen Namen gemacht. Der 1958 geborene Autor veröffentlichte aber auch teilweise unter Pseudonym Comicstorys in SCHWEREMTALL. Daneben hat er sich in unterschiedlichen Berufen herumgeschlagen. Der sich autodidaktisch zum Graphiker ausgebildete Victor Boden lebt momentan in Freiburg.

Michael Haitel hatte laut seiner Verlagsseite überlegt, den hier vorliegenden mit mehr als sechshundert Seiten auch sehr umfangreichen Roman in zwei Teil vorzulegen. Quasi eine Art Doppelpack. Aus kommerziellen Gründen vielleicht für einen Kleinverlag die richtige Vorgehensweise, dem vielschichtigen Zeitreise/Agenten/Paranoia/Universumsrettungsthriller hätte es eher geschadet. Auch wenn sich ein roter Faden durch die Handlung zieht – der gewöhnliche Protagonist Achim Brenner soll die Erde und das ganze Universum nicht retten, sondern vernichten – springt der Autor mit seinem Leser quasi auf dem Rücken zwischen nicht nur den einzelnen Zeiten, sondern auch verschiedenen Möglichkeiten hin und her.

Ohne das Victor Boden sich an dem früh verstorbenen Autor Gero Reimann inhaltlich orientiert, wirkt das Spiel nicht nur mit Klischees des Genres, sondern auch dem frechen Unterton, in welchem der Protagonist und im Grunde die einzige echte Bezugsperson zum Leser das Geschehen mit ihm selbst im Mittelpunkt kommentiert eben wie ein Buch aus dem Umfeld diesen Autoren, ebenfalls beeinflusst von Philip K. Dick und seiner legendären Zertrümmerung mindestens einer Realität.

Achim Brenner weiß nicht mehr, was real ist oder was nicht. Wobei diese These seiner Umgebung auch in Person einer ambivalenten Psychologen auch nicht ganz richtig ist. Achim Brenner ist sich vollkommen sicher, mit Nora verheiratet zu sein. Gemeinsam haben die beiden zwei Kinder. Niemand kennt seine Frau und seiner Kinder. Selbst das eigene Geburtsdatum  scheint nicht aktenkundig zu sein. Aber wie in Dicks „We can remember it for you Wholesale” gibt es einen Beweis… der eigene Ehering, den Achim Brenner in einer Zukunft sogar gegen Informationen einzutauschen sucht.

Achim Brenner könnte der Heilsbringer oder der Beelzebub sein. Auf seinem Weg durch verschiedene Zeittore landet er unter anderem auch in einer zerstörten Stadt auf dem asiatischen Kontinent. Dort sagt ihm seine Frau quasi aus dem Nichts oder einem anderen Universum kommend, dass es seine Mission ist, wie schon erwähnt die Erde und das Universum zu vernichten.

Nach dem Gang durch ein anderes Zeittor scheint er einen Wissenschaftler enthauptet zu haben. Köpfe spielen in dieser Geschichte eine wichtige Rolle. Man nimmt sie mit, man stapelt sie, manchmal sind es auch nur Androidenköpfe, die quasi zwischengeparkt werden. Aber man hat Achim Brenner gesehen und die Tat wurde auch aufgezeichnet. Ein Universum, in dem er als Mörder gilt.

Dann gibt es noch die Außerirdischen, deren Handlanger Achim Brenner sein könnte. Oder vielleicht sollt er in deren Auftrag das Universum doch eher retten als vernichten?

Mit vielen kleinen Kapiteln und wechselnden Schauplätzen hält Victor Boden das Tempo vor allem in der ersten Hälfte des Buches ausgesprochen hoch. Der Leser bewegt sich wie eingangs erwähnt nur auf Augenhöhe von Achim Brenner, der selbst orientierungslos wie die klassischen, manchmal zum Klischee stilisierten gewöhnlichen Menschen in Philip K. Dicks umfangreichen Werk.

Während der Amerikaner zu Beginn gerne eine mittelamerikanische Kleinstadtatmosphäre erschaffen hat – dabei spielte es in einigen Romanen nicht einmal eine Rolle, das die Handlung weit weg von den USA spielte- , die er nach und nach wie eine Zwiebel von jeglichem Bezug zur Realität schälte, schenkt Victor Bodden seinen Lesern in diesem umfangreichen wie positiv gesprochen auch chaotischen Antiepos keinen Moment der Orientierung.

Eine Reihe von bizarren Einfällen wechseln sich ab. Wie Achim Brenner ist der Leser erleichtert, wenn das Bier nicht mehr blau und damit für seine Mitmenschen normal ist, sondern wieder diese markante pissgelbe Farbe hat.

In die berühmte Bibliothek von Alexandria wird in der der entsprechenden Epoche eingebrochen, bevor der Brand von Caesars Flotte nicht nur den Hafen, sondern auch die berühmte Papyrussammlung in Brand setzt. Dabei spielt ein Erdbeben und die Zahl acht eine wichtige Rolle, während sich Achim Brenner in einem Spezialanzug mit Außerirdischen oder Gegnern aus der Zukunft herumschlägt. Alles bleibt lange Zeit ambivalent vage und damit positiv gesprochen desorientierend.

Es ist natürlich ein schmaler Grat, auf dem sich Victor Boden bewegt. Für einen umfangreichen Debütroman zufriedenstellend bis gut. Ein Leser, der geordnete solide Science Fiction erwartet, wird das Buch wahrscheinlich nach wenigen Seiten genauso verwirrt wie Achim Brenners eigenes Leben zur Seite legen. Da helfen auch nicht die Beteuerungen des Protagonisten, das die verschiedenen teilweise konträren Ereignisse und Missionen vielleicht irgendwann einmal einen Sinn ergeben.

Wer sich einfach wie im Grunde auch der Protagonist – dieser allerdings eher widerwillig verzweifelt auf der Suche nach Hinweisen zu seiner möglicherweise nicht existenten Familie – einfach mittreiben lässt, wird spätestens ab der Mitte des Buches erkennen, dass Victor Boden systematisch, aber nicht chronologisch das Chaos zu ordnen sucht. Da Wiederholen sich bekannte Szenen aus einer anderen Perspektive oder werden durch nachgeschobene Erklärungen entweder von oder gegenüber Achim Brenner zurechtgerückt. Einen Augenblick fühlt sich der Leser sicher in diesem bizarren Kosmos.

Aber wenige der kleinen Kapitel weiter geht die Achterbahn wieder los.   Victor Boden muss seinem Plot einem zumindest vorläufigen Ende zuführen. Vorher hat der Autor schon argumentieren lassen, dass jeder weiß, dass sich die Protagonisten in einer Simulation aufhalten. Der Gegenentwurf zu den bekannten Büchern und Filmen nicht nur Philip K. Dicks, sondern auch Galoyes oder der „Matrix“ Tetralogie, in welcher die teilweise von Außerirdischen gesteuerte Matrix unbekannt ist. Natürlich kann Achim Brenner diese Tatsache nicht akzeptieren. Mit einem kleinen Team aus dreidimensionalen, aber exzentrisch gezeichneten Teamkameraden bricht der Agent wider Willen/ Retter des Universums wieder bekanntes Wissen oder auch nur der Beleuchter – den Hinweis  greift Victor Bodden im letzten Kapital wieder auf – schließlich auf eine Mission auf, deren Ziel oder Bedeutung der Protagonist genauso wenig kennt wie der Leser.

Um den Plot zufriedenstellend abzuschließen, bremst Victor Boden weniger das Tempo seines Romans ab, sondern fokussiert sich inhaltlich mehr. Der Leser kann gedanklich aufholen, die literarische  Umgebung wird vertrauter und so weit man bei diesem Buch überhaupt davon sprechen kann, auch bodenständiger griffiger.

Da „Das blaue Ende der Zeit“ von Beginn an kein klassischer Spannungsroman im traditionellen Sinne der Science Fiction gewesen ist, kann der Leser nicht erwarten, das mit dem Erreichen/ der Vernichtung der Ziele der Plot klassisch zu Ende ist. Viel mehr scheint es andere Gefahren dort „draußen“ zu geben, auch wenn Achim Brenner durch eine auffällige Änderung seines spießbürgerlichen Verhaltens dem Universum eine andere Perspektive schenkt. Das wirkt wie am Rande des Kitsches gemalt, aber einem Protagonisten, der mehrmals unter anderem durch Köpfen getötet worden ist, könnt der Leser vielleicht auch einen Moment der ehelichen Muße.

„Das blaue Ende der Zeit“ ist auf der einen Seite eine herausfordernde Lektüre. Der Leser kann gar nicht alle blassroten Fäden durch die verschiedenen Zeiten und Universen verfolgen. Das bräuchte er wahrscheinlich mehr als Douglas Adams Handbuch aus „Per Anhalter durch die Galaxis“. Ob der Autor alle Szenarien wirklich immer gewichtet, lässt sich nach einer einmaligen Lektüre dieses umfangreichen Romans kaum feststellen. Aber positiv gibt Victor Boden dem Leser wie eben Philip K. Dick das Gefühl, als habe er als Strukturierer und weniger klassischer Erzähler alles Chaos in einem fast göttlichen Griff und jeder Exkurs ist irgendwie/irgendwo/irgendwann von irgendwem mal „geplant“ worden. Ambitioniert, aber angesichts des Umfangs auch kurzweilig zu lesen mit vor allem pointierten, manchmal doppeldeutigen Monologen ist „Das blaue Ende der Zeit“ eine chaotische Irrfahrt durch verschiedene Kosmen, an deren Ende vorläufig die Erkenntnis steht, das es doch ein „Home sweet Home“ irgendwo geben könnte.    

 

Victor Boden
DAS BLAUE ENDE DER ZEIT
AndroSF 126
p.machinery, Winnert, Januar 2022, 644 Seiten, Paperback
ISBN 978 3 95765 260 7 – EUR 23,90 (DE)
E-Book: ISBN 978 3 95765 837 1 – EUR 5,99 (DE)