Mit insgesamt zehn Veröffentlichungen gehört der 1965 erst publizierte Roman „Der Elfenbeinturm“ zu Herbert W. Frankes erfolgreichsten Veröffentlichungen. Der siebente Band der Franke Werksausgabe basiert auf dem 1999 vom Autoren überarbeiteten Manuskript.
„Der Elfenbeinturm“ ist beginnend mit dem Titel eine klassische Anti Utopie, in welcher Herbert W. Franke eine ganze Reihe von Fragen aufwirft, die Beantwortung aber positiv gesprochen auch seinen Lesern überlässt. Der Elfenbeinturm steht nicht nur für die Isolation der den perfektionierten Weltstaat regierenden und der Versuchung, eine Diktatur des „Ichs“ zu erschaffen, gegen Ende des Buches handelt es sich um das die Vergangenheit auf der Erde mit der Zukunft auf einer anderen Welt verbindende Element in Form des Raumschiffs, das lange Zeit noch als Heimstatt der Menschen auf einem neuen Planeten diente, bevor die Brücken zur Vergangenheit mehr und mehr abgerissen werden.
Die erste Hälfte des Buches besteht aus dem Versuch einer Gruppe von Rebellen, die perfektionierte Ordnung einer überbevölkerten Welt zu destabilisieren und die auf dem Mond ansässige Weltregierung zu stürzen. Dazu müssen sie unter anderem einen Agenten einschleusen. Mortimer ist ein zu wenig entwickelter Charakter. Er ist melancholisch, ein wenig einsam, aber schließlich auch idealistisch. Hinzu kommt, das er absolut unpolitisch erscheint. Aus heutiger Sicht wäre eine ausführliche Beschäftigung mit der bis zur Aufgabe gehenden Radikalisierung dieser unscheinbaren Elemente einer – das muss sich der Leser immer vor Augen halten – perfekten Gesellschaft ein wichtiger Aspekt für den weiteren Handlungsverlauf. Zwar wird Mortimer mehrmals direkt gesagt, dass er alles aufgeben muss, aber der Leser kann die Motive hinter dieser Entscheidung nicht wirklich auf Augenhöhe nachvollziehen.
Das Bewusstsein des Protagonisten wird in einen anderen Körper versetzt. Im Grunde wird aus einem Menschen eine Art Zwitter, da die beiden Menschen eher unbewusst ihre Gedanken und Absichten zu teilen zu beginnen. Der Auftakt des Romans folgt den neu etablierten Gesetzen des Paranoia Kinos und den entsprechenden Romanen. Dabei ist das Kahlscheren sowohl des Körperspenders wie auch des Mortimers empfangenden Fremden eindrucksvoll.
Allerdings stellt sich das Einschleusen des Agenten als eine Art Ablenkungsmanöver das. Das Scheitern ist Teil des geplanten Umsturzes, an dessen Ende allerdings eine veränderte Diktatur steht und nicht mehr etwas gänzlich Neues.
Franke geht in der ersten Hälfte vielleicht zu wenig auf den politischen Hintergrund dieser Weltregierung ein. Modern und zeitlos ist die Idee der kompletten Überwachung in diesem Fall durch den Superrechner OMNIVAC, der die Ausmaße eines Hauses hat. OMNIVAC ist allerdings nicht perfekt, scheint teilweise durch Wahrscheinlichkeiten zu agieren.
Der Autor beschreibt den Anschlag mit einem hohen Tempo, allerdings reduziert er die Umgebung sowohl auf der Erde wie auch später dem Mond auf eine Abfolge von engen Fluren und Fahrstühlen bzw. deren Schächte. Das wirkt wahrscheinlich als Film effektiver als in einem Roman. Anfänglich subjektiv aus der Perspektive des Bewusstsein verpflanzten Freiwilligen ist Herbert W. Franke während des Finals im ersten Abschnitt schließlich gezwungen, den Hintergrund mehr aufzuhellen und den Plan hinter dem Plan zu offenbaren, der ansatzweise sehr komplex, im Detail allerdings auch unnötig kompliziert erscheint.
Symbolisch vergleicht sich Mortimer auf der Flucht mit den Ratten in einem experimentellen Labor. Er lässt sie zwar zurück, aber auch im Verlaufe der weiteren Handlung wird er niemals den realen wie symbolischen Käfigen entkommen.
Die Flucht führt einige wenige Rebellen an Bord eines startbereiten Superraumschiffs, auf dem Wissenschaftler in Stasis aufbrechen wollen, um mit einer bislang nicht erreichen Geschwindigkeit und der entsprechenden Reichweite das All zu erforschen. Den Rebellen gelingt es, den Start quasi zu erzwingen.
Nur reichen die wenigen Lebensmittel und der Sauerstoff nicht aus, um langfristig ohne die Hilfe der Wissenschaftler zu überleben. Es kommt zu einer Art intellektuellen Konflikt zwischen Hirn und Herz. Während die Rebellen durchaus rücksichtslos ihre eigene Position verteidigen und nicht zur Erde zurückkehren wollen, agieren die Wissenschaftler phlegmatischer und wären sogar bereit, ihr eigenes STASIS Leben lieber zu beenden als die arroganten und offensiv agierenden Rebellen an Bord zu ertragen. Der Kompromiss zwischen den beiden Gruppen ist eher eine klassische Pattsituation, die Herbert W. Franke in die einzig funktionierende Richtung auflöst: Es gibt ein Problem.
Die Erde will die Rebellen gar nicht wieder haben, sie sollen sterben. Die Wissenschaftler wollen plötzlich auch leben, so dass es nur nach draußen gehen kann. Mit einem der schnellsten Raumschiffe der Menschheit auch im Grunde kein Problem.
Auf dem Weg nach „draußen“ haben die Rebellen und Forscher Zeit, ihre eigenen politischen Positionen darzustellen und aus der futuristisch näheren Geschichte entsprechende Ableitungen zu tätigen. Diese dienen aber in erster Linie als Füllmaterial, da der theoretische Hintergrund der Menschheit angesichts von fast sechzig Milliarden zu ernährenden Menschen unmöglich in Worte zu fassen sind.
Auf dem Wege zu einem neuen Planeten beginnen beide Gruppe einen gemeinsamen Antrieb zu entwickeln. Sie suchen in der Theorie einen gesellschaftlichen Sinn nicht nur in ihrem Leben, sondern stellvertretend aus ihrer Position heraus für die „Menschheit“. Genau wie die Diktatur allerdings die Menschen eingesperrt und geistig isoliert gehalten hat, gehen sie bei ihrer imaginären Sinnsuche an die Grenze der Selbstaufgabe. Dieser Versuch, nicht nur einen sozialen Neustart auf einem kleinen, allerdings paradiesischen, von primitiven „Menschen“ ebenfalls bewohnten Planeten zu starten, sondern immer wieder einen Sinn in allem zu suchen, endet schließlich nicht nur in einer neuen Art Mensch, sondern dem Aufgeben aller alten Wurzeln.
Die Antwort auf diese Frage ist allerdings schwer zu geben. Im Gegensatz zu vielen anderen Antiutopien propagiert Herbert W. Franke dank der Superintelligenz OMNIVAC einen humanistischen Ansatz. OMNIVAC soll die Entscheidungen treffen, ob zum Beispiel des Wohl vieler oder aller Menschen soziale Freiheit übertreffen sollte und die individuale Bewegungsfreiheit durch die Vielzahl der dann allerdings gesunden und gesund gehaltenen Menschen folgerichtig eingeschränkt wird. OMNIVAC versucht in dieser Hinsicht buchstäblich die Quadratur des Kreises, in dem die das Wohl der Allgemeinheit und damit der immer größer werdenden Anzahl von Menschen über den Bedürfnissen des Individuums stehen, aber so wenig wie irgendwie möglich eingeschränkt werden sollten. Später stellt sich heraus, das die Rebellen zwar das Individuum über die Allgemeinheit stellen, aber im Grunde schlimmer sind als die neutrale und emotionslos agierenden OMNIVAC.
So hat Herbert W. Franke als ein Novum nicht nur für das Genre die Idee kapitalistischer und damit auch politischer Entscheidungen wie eine Gewinnmaximierung für eine kleine Elite nicht kommunistisch, sondern sozialistisch unterminiert. Der Fortschritt und damit auch ein mögliches Gewinnwachstum ist nur für die Allgemeinheit möglich, aber nicht aus rein egoistischen Motiven.
Allerdings auch eine Erde, in welcher der Mädchen und nicht Frauentyp eher unterentwickelt erscheint. Die erste Rebellin ist durch den Tod ihres Lebensgefährten motiviert, die Nichte des Forschers wirkt eher eindimensional und langweilig. Die Zeichnung von Charakteren gehört nicht zu Herbert W. Frankes Stärken und vor allem seine Frauen/ Mädchencharaktere bleiben blass. Angesichts der Idee, eine neue Gesellschaft auf dem neuen Planeten zu entwickeln, eine deutliche Schwäche als die inzwischen überholte Technik mit Lochkarten. Bedenkt man, dass Herbert W. Franke das Buch 1999 überarbeitet hat und Lochkarten zu diesem Zeitpunkt schon veraltet waren, erstaunt diese vielleicht auch nostalgische Tendenz an die ersten Computerarbeitsplätze um so mehr.
Diese fast im Text versteckte Grundidee ist die Basis der im Grunde drei Gesellschaften – auf der Erde, an Bord des Raumschiffs und schließlich auf dem neuen Planeten -, mit denen sich Frankes Protagonisten auf einer intellektuellen Ebene vor Augen der Leser auseinandersetzen. Franke kommt zu der Entscheidung, dass es keine ideale Gesellschaft gibt. Vor allem gibt er indirekt zu, dass der Mensch als Herrscher und Beherrschter überfordert ist und die sachliche Kompetenz künstlicher Intelligenzen kein Schreckgespenst sein muss.
Gegen Ende fehlt Herbert W. Franke in diesem kleinen schmalen Büchlein der Raum, um die beiden anderen Zweckgesellschaften ausführlicher zu entwickeln, aber alleine die vielen kleinen, nicht immer literarisch, sondern eher theoretisch umgesetzten Ideen im ersten Teil des Buches wirken zeitloser denn je und machen diese erneute Ausgabe im Rahmen der Werksedition zu einer intellektuellen stimulierenden Lektüre.
Herbert W. Franke
DER ELFENBEINTURM
Science-Fiction-Roman
SF-Werkausgabe Herbert W. Franke, Band 7
hrsg. von Ulrich Blode und Hans Esselborn
AndroSF 64
p.machinery, Murnau, Mai 2017, 186 Seiten, Paperback
Softcover – ISBN 978 3 95765 088 7 – EUR 10,90 (DE)
Hardcover (limitierte Auflage) – ISBN 978 3 95765 089 4 – EUR 18,90 (DE)