Das Protomolekül

James Corey

„Das Protomolekül“ ist  kein weiterer im Expanse spielender Roman. Das Autorenteam James Corey hat von Beginn an deutlich gemacht, dass sie von drei Trilogien ausgehen, die aufeinander aufbauen, aber nur durch den Hintergrund und eine Anzahl von gemeinsamen Charakteren miteinander verbunden sind. Der Leser soll immer die Möglichkeit haben, die jeweiligen Trilogien einzeln zu lesen. Daher ist der Hinweis auf einen möglichen zehnten Roman genauso irritierend, wie die These das Sonnensystem zehn tatsächliche Planeten hat. Aber wie die Asteroiden lassen sich auch die Kurzgeschichten nicht gänzlich ignorieren und der Heyne Verlag hat diese verstreut publizierten und zwischen den einzelnen Romanen bzw. einmal sogar nach Abschluss der letzten Trilogie spielenden Kurzgeschichten gesammelt in einem Buch veröffentlicht. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. 

Sieben der acht Geschichten sind vorher schon einmal erschienen. Die früheste Arbeit ist „Die Schlächter der Anderson Station“ aus dem Jahr 2011, der letzte Nachdruck stammt aus dem Jahr 2019 mit „Auberon“.  Exklusiv ist „The Sins of our Father“. Der Heyne Verlag hat sie als „Die Schuld unserer Väter“ übersetzt.  

Für die deutsche Titelgebung griff der Heyne Verlag einen Aspekt einer Kurzgeschichte auf. Daher heißt dieser abschließende zehnte fast alle bisherigen Veröffentlichungen umfassende Band „Das Protomolekül“ und nicht wie im Original passender „Memory´s Legion“.   Aber wie die englische Originalausgabe ist leider auch die Heyne Ausgabe nicht komplett. Aus rechtlichen Gründen fehlt „The Last flight of the Cassandra“.  

In einer insgesamt aus neun umfangreichen Romane bestehenden Saga wird der Leser nicht immer nur neue Informationen in den kürzeren Texten finden. Nicht selten hat das Autorenkollektiv James Core Ereignisse der Kurzgeschichten in die Romane eingebaut und nicht wie viele kritische Stimmen verlauten lassen, diese kürzeren Texte zum doppelten Abkassieren verfasst und Ereignisse aus den Büchern in die Form der Kurzgeschichte übertragen. Wer sich im „The Expanse“ Kosmos sehr gut auskennt und vor allem auf eine unter diesen Umständen stringente Erzählstruktur Wert legt, wird mit den ersten sieben oder vielleicht sogar allen acht Kurzgeschichten wenig anfangen können. Der Inhalt ist Programm und damit bekannt. Alleine die Originalgeschichte könnte neue Informationen anbieten. Sie ist aber auch eng mit den Romanen verzahnt. Wie bei der Trilogie ist aber die Erwartungshaltung hinsichtlich abschließender Informationen zu groß, als das “Die Sünden der Väter” sie wirklich befriedigen könnte.   

Dabei sind die einzelnen Geschichten(-blöcke) informativ, wenn auch erzählerisch nicht immer befriedigend. „Antrieb“, „Die Schlächter der Anderson- Station“ und „Der Mahlstrom“ aus den Jahren 2011, 2012 und 2015 konzentrieren sich auf die Entstehung des Epstein Antriebs und erzählen die Hintergrundgeschichten von Pablo Cortazar und Fred. Die Entstehung des Antriebs ist grundsätzlich nicht wichtig, aber solche Extrapolationen zeigen auf, wieviel Mühe sich James Corey mit dem Hintergrund ihres Universums gegeben haben.  Nicht jede Figur braucht eine entsprechende Entstehungsgeschichte, aber im direkten Vergleich zu Fred ist Pablo Cortazar eine wichtige Figur in „The Expanse“. Während sich die Leser der Romane manchmal gefragt haben, auf welcher Basis er seine Entscheidungen trifft, konzentrieren sich die angesprochenen Kurzgeschichten auf dessen bzw. deren Hintergrund, ihr bisheriges Leben vor der Serie und bilden somit emotional eine wichtige Basis, um die Figuren dreidimensionaler erscheinen zu lassen.

„Der Gott des Risikos“ zeigt deutlich die Schwächen, aber auch die Erwartungshaltung der Leser gegenüber den kürzeren Texten. Die Geschichte spielt zwischen dem zweiten und dritten Roman der ersten „Expanse“ Trilogie. Am Ende wird mit Bobbie ein relevanter Charakter eingeführt. Aber diese „Vorstellung“ ist wie manches in der Geschichte höchstens ambivalent. Die Figur entwickelt sich erst in den folgenden Romanen weiter. Auf der anderen Seite ist der Erzähler aus „Calibans Krieg“ eher wie der Türöffner für die kommerzielle Nutzung dieser Geschichte.

Im Mittelpunkt steht mit David Draper die fast klischeehaft gezeichnete sechzehn Jahre alte Teenager, dieses Mal auf dem Mars in Londres Nova lebend. David Draber ist nicht nur ein begnadeter Chemiker, mit Recht und Gesetz nimmt er es nicht so genau. Nebenbei stellt er Drogen für ein örtliches Kartell her. Als seine Freundin Leelee verschwindet, deutet die Spur zu seinen Auftraggebern.

James Corey reihen eine Reihe von Klischees aneinander. Es gibt keine wirklich überraschenden Elemente und der Hintergrund auf dem Mars dient in erster Linie dazu, den schwelenden Konflikt zwischen Erde und Mars auf einer persönlichen Ebene zu erzählen.

„Der letzte Abgrund“ spielt zwischen dem dritten und vierten Buch. Wobei die Geschichte auch an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit mit anderen Protagonisten spielen könnte. Es ist nicht Stephen Kings verfilmtes Gefängnisdrama, es soll die geheimen Abläufe auf der Eros Station zusammenfassen. Eine Gruppe von Gefangenen lebt von den eigenen Abenteuern, der Vergangenheit, während die Belter die Gruppe bewacht. Ein Mann vom Mars könnte ihnen auf eine ungewöhnliche Art und Weise die Freiheit bringen. Ursprünglich sollte diese Novelle der letzte Brückenroman sein. Wie später „Die Schuld unserer Väter“ eine Reihe von offenen Punkten abarbeiten und den Autoren die Möglichkeit geben, dieses Universum zu verlassen. Neben dem im Titel der Sammlung angesprochenen Protomolekül geht es auch um die Soziopathen. Allerdings haben James Corey die wichtigsten Plotpunkte auch in einem anderen ihrer „The Expanse“ Bücher offenbart, so dass diese Novelle als Nachdruck nur wenig Sinn macht.  

„Seltsame Hunde“ ist im Grunde eine weitere Jugendbuchlektüre. Cara hat keine Erinnerungen an die Erde. Ihr jüngerer Bruder Xan und die Eltern dagegen schon. Die abtrünnige Marsflotte hat dafür gesorgt, das die Menschen auf Laconia nicht mehr auf die Erde zurückkehren können. Die Eltern ziehen ihre Kinder in einer fremdartigen Umgebung auf.  Die Idee, das irdische Kinderbücher bei den Jugendlichen für Verwirrung stiften können und diese das Gelesene auf eine gänzlich fremde exotische Umgebung übertragen wird relativ gut extrapoliert. Allerdings folgen einige Horrorszenen, die eher an Stephen King erinnern, bevor der Plot relativ zügig sowie in Hinblick auf die ganze Serie nichtssagend ausläuft. Die Leser können die Verwirrung Caras nachvollziehen, die im Grunde alles richtig – basierend auf den irdischen Informationen – macht und doch alles wieder falsch.

„Auberon“ ist die beste Novelle dieser Sammlung. Sie spielt ebenfalls im laconischen Einflussbereich. Auberon ist die erste menschliche Kolonie unter Laconias „Schutz“. Governor Rittenaur soll auf dem Planeten für Ordnung sorgen. Seine Frau bestimmte Forschungen vorantreiben. Auf Auberon hat sich aber inzwischen eine an die Mafia erinnernde Subgesellschaft etabliert. Es besteht kein Interesse, die Macht abzugeben. Die Leser der Romane wissen um die Identität des Kingpin, der sich lange Zeit noch im Hintergrund hält. Dadurch wird das Lesevergnügen aber nicht gemindert. Im Gegensatz zu den nicht selten Action beinhaltenden Romanen konzentrieren sich James Corey auf die Schwierigkeiten, eine selbst brüchige menschliche Gesellschaft in die fremde laconische Kultur zu integrieren und eine gemeinsame Basis für beide Seiten zu finden.

Die letzte exklusiv geschriebene Geschichte „Die Süden der Väter“ spielt nach dem letzten, neunten Roman der „Expanse“ Serie. Wie schon einmal am Ende der ersten Trilogie nutzen James Corey diese Basis, um die roten Fäden aufzurollen und einzelne Schicksale, aber nicht mehr das ganze Szenario abzuschließen.

Filip lebt mit seinen Freunden auf einem neuen Planeten. Die Ringtore sind geschlossen, eine Rückkehr ist nicht mehr möglich. Natürlich gibt es auf dieser fremden Welt Probleme mit der originären „Bevölkerung“. Alles keine neue Idee. Natürlich handelt es sich um eine klassische Frontiergeschichte.  Während sich Auberon um das Schicksal Erichs kümmert, verbindet „Die Sünden der Väter“ Filips Schicksal mit Annas Tochter Nami Veh. Mehr als vierzig Jahre sind seit dem Ende der eigentlichen Serie vergangen und die Faszination liegt in der Tatsache begründet, das Filip im Grunde weit weg von seinem Vater ein neues Leben begonnen hat, das weiterhin vom zu langen Schatten seines Vaters dominiert wird. Auch das ist keine neue Idee, aber James Corey versuchen mit dieser Novelle auch eine Quadratur des Kreises, in dem sie nicht nur die Geschichte, sondern eine Serie endgültig abzuschließen suchen, die sie sehr lange literarisch begleitet hat. Das ist vielleicht des Guten zu viel, aber der Text liest sich flüssig und die simple Botschaft ist, das Filip vielleicht emotional gebrochen worden ist, aber er es bislang überlebt hat. Das hört sich nihilistischer an als vielleicht gedacht. Aber diese Ambivalenz passt zu der ganzen Serie.

„Das Protomolekül“ ist wie eingangs erwähnt nicht mehr oder weniger als die buchtechnische Zusammenfassung der meisten die Romane verbindenden, aber keine Handlungsstränge wirklich extrapolierenden Novellen. Wer „The Expanse“ komplett als Paperbacks um Regal haben möchte, kommt um diesen Sammelband nicht herum. Wer sich dieser Serie nähern möchte, muss offen gesprochen, wo anders schauen. Am Anfang, der ersten Trilogie. Ansonsten überliest er die Zwischentöne, welche auf der anderen Seite Anhänger der Serie auch furchtbar langweilen.

Das Protomolekül: Roman (The Expanse-Serie, Band 10)

  • Publisher ‏ : ‎ Heyne Verlag; Deutsche Erstausgabe edition (11 July 2022)
  • Language ‏ : ‎ German
  • Paperback ‏ : ‎ 496 pages
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3453322037
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3453322035