Hauptgewinn: die Erde

Philip K. Dick

Bei „Solar Lottery“ – der Titel trifft den Plot eher, denn nicht nur die Erde, sondern das ganze Sonnensystem ist im Lotterietopf – ist der erste von Philip K. Dick veröffentlichte Roman. Das Buch erschien 1955. Philip K. Dick hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon als talentierter Autor von Kurzgeschichten etabliert.  Ob es der erste von ihm verfasste Roman gewesen ist, lässt sich nicht mehr feststellen.

Der Fischer Verlag hat „Hauptgewinn: die Erde“ im Rahmen seiner kleinen Philip K. Dick Edition neu aufgelegt. Das Buch erschien das erste Mal in Deutschland gekürzt unter dem Titel „Griff nach der Sonne“ Als Abenteuer im Weltenraum Nummer 7 drei Jahre nach der Erstveröffentlichung. Als Terra Extra 47 erfolgte 1964 ein erster weiterhin gekürzter Nachdruck. 1971 publizierte der Goldmann Verlag dank einer neuen Übersetzung von Hans- Ulrich Nichau den Roman zum ersten Mal unter dem auch heute noch verwendeten Titel „Hauptgewinn: die Erde“. Der Bastei Verlag übersetzt das Buch vierzehn Jahre später für die Action Reihe noch einmal.  Auf dieser Ausgabe basiert auch die Neuauflage im Fischer Verlag.

In England erschien kurze Zeit nach der amerikanischen Erstveröffentlichung mit „World of Chance“ eine leicht veränderte Ausgabe.

Egal in welcher Fassung ein Leser heute diese stringente, sich aber auf zwei rudimentär miteinander verbundenen Ebenen abspielende Geschichte liest, zeigt sich aus heutiger Sicht schon deutlich, daß Philip K. Dick in seinen zahlreichen weiteren Romanen verschiedene, aber dafür wenige Grundthemen immer wieder aufgreifen, aber vor allem auch in unterschiedliche Richtung extrapolieren wird.

Grundsätzlich beschreibt Dick zu Beginn des Buches eine in diesem Buch globale Welt, später vor allem amerikanische Nation nicht nach einem weiteren Weltkrieg, sondern im Grunde einem wirtschaftlichen Zusammenbruch. Der Kapitalismus hat sich überanstrengt. Es gibt keine Käufer für die Waren mehr. Auf öffentlichen Scheiterhaufen vor den Städten werden die Waren verbrannt, damit die Produktion des Überflusses einen Wert behält. In “Joe von der Milchstraße” gibt es für die breiten Massen Helikoptergeld, das sie sich durch die reine Anwesenheit, aber nicht aktive Arbeit in ihren Büros oder Fabrikenhallen im Grunde nur ersitzen, aber nicht mehr erarbeiten müssen. Später erweitern die Herrschenden in “Hauptgewinn: die Erde”  – Dick impliziert ein totalitäres System ohne es expliziert zu beschreiben – die Verteilung der Waren um eine Art Lotterie. Jeder kann mitmachen und gewinnen. Allerdings scheinen diese Ziehungen manipuliert zu sein, denn die meisten Menschen gewinnen Tand.

Die Menschen werden nach ihren Fähigkeiten eingeordnet. Innerhalb dieser Kasten ist es schwer, nach oben zu kommen. Arbeit besteht aus lebenslangen Verträgen, die eher an eine Form der modernen Sklaverei erinnern. Es ist blanke Ironie, das eine primitive Art der Barbarei schließlich auf den Kolonien stattfindet. Zum Wohle der Menschen, die gerade ihren eigenen Lehnverträgen entkommen sind.

Dabei agieren selbst die Spezialisten im luftleeren Raum. Ted Benteley ist ein Biochemiker. Einer von vielen. Seine Arbeiten werden nach ihrer Fertigstellung nicht genutzt, sondern archiviert und vergessen. Zu Beginn verliert er seinen Job. Im Gegensatz zu vielen anderen Kollegen ist er erleichtert. Er nimmt sein Geld; reist anscheinend nach Thailand; mietet sich ein Callgirl für einige Tage, das er aber gut behandelt und  will sich dem augenblicklichen Herrscher des Universums Reese Verrick anschließen. Verrick hat seine Position durch die Lotterie gewonnen. Er ist länger im  Amt als seine Vorgänger. Nur der allererste Quizmaster hat es länger ausgehalten. Das liegt aber auch in der Tatsache begründet, dass das Attentätersystem zu diesem Zeitpunkt noch nicht so ausgebaut worden ist.  Genau wie  der nächste Anführer fast unabhängig von seinen Fähigkeiten bestimmt wird, können sich Attentäter wählen lassen, die den Quizmaster nach strengen Regeln – auch dazu hat Dick im Laufe des Romans eine eigene, vom offiziellen System abweichende Strömung etabliert – herausfordern, töten und damit seine Position übernehmen können.

Gleich zu Beginn des Plots mit einem hohen Tempo erzählt und den Leser eher verstörend als aufklärend gelingt es Ted Benteley, zu Verrick vorzustoßen und mit Hilfe dessen Sekretärin auch angenommen zu werden. Kaum hat er erneut einen Eid geschworen, muss er erkennen, dass er vom Regen in die Traufe gekommen ist. Reese Verrick ist gerade mittels eines Tricks abgesetzt worden und muss sein Amt räumen. Verrick will sich seine Position zurückholen und den neuen Quizmaster Leon Cartwright töten.

Dazu beginnt er mit einem Trick zu arbeiten.

Die zweite Handlungsebene beschreibt eine Gruppe von Leon Cartwrights Anhängern, die sich auf den Weg zum Rand des Sonnensystems machen, um dort nach dem vor mehr als einhundertfünfzig Jahren verschwundenen John Preston zu suchen, der angeblich auf einem zehnten Planeten des Sonnensystems mit seinen Anhängern leben soll. Die einzige echte Verbindung besteht  zwischen den beiden Handlungsbögen indirekt durch den neuen Quizmaster Leon Cartwright, allerdings ist dieser im Laufe des Haupthandlungsbogen gerade erst in sein Amt gewählt worden, so dass eine derartige treue Anhängerschaft verfrüht erscheint.

Die Expedition zum potentiell zehnten Planeten ist wie es sich bei Dick gehört ein Pyrrhussieg. Sie finden John Preston und irgendwie entdecken sie ihn doch nicht. Diese im Rahmen des Gesamtromans eher kurze Sequenz besteht aus einer Abfolge wirklich interessanter Szenen. So spricht der eigentlich seit 150 Jahren verstorbene Preston aus den Lautsprechern an Bord des Raumschiffs zu den Kolonisten und warnt sie. Später wird diese Warnung nicht nur relativiert, Philip K. Dick schiebt auf den letzten Seiten eine weitere kosmopolitische Mahnung hinterher, mit welcher er allerdings sehr grob auch den Bogen zu den gottgleichen Kreaturen wie in seiner Valis Serie schließt. Wahrscheinlich eher unbeabsichtigt und weit von der paranoiden Beschreibung des alltäglichen Einflusses von „Valis“ auf Dicks literarisches Alter Ego entfernt, aber mit diesem sehr offenen Ende relativ der Autor auch die sich auf der zweiten Handlungsebene abspielenden Schnitzeljagden.

Die Idee einer in Kasten aufgegliederten Gesellschaft zieht sich durch Dicks Werk. Vor allem in „Eine andere Welt“, aber auch „Joe von der Milchstraße“ wird Dick auf diese Idee der perfektionierten Menschen noch einmal mit einem vergleichbar simplen Qualifizierungs- und Eingruppierungssystem eingehen.

Die sozialen Strukturen erinnern allerdings deutlich oberflächlicher entwickelt an die sozialkommunistischen Gemeinschaften, mit denen Dick im Laufe seiner Karriere immer wieder „spielen“ wird. Der Kapitalismus ist tot, der Staat muss allgegenwärtig eingreifen und um die Langeweile seiner Bürger zu bekämpfen entwickelt er als eine Perversion der Demokratie die Lotterie. Aber der „Herrscher“ bzw. Quizmaster des Sonnensystems zu werden, kann eine kurzweilige Angelegenheit sein. Einige herrschten nur wenige Sekunden – das ist ein weiterer Fehler Dicks, da nach der Machtübernahme ein Attentäter erst bestimmt/ gewählt werden muss und nicht jeder sofort loslegen kann – bis zu vielen Jahren.

Grundsätzlich basiert die Gesellschaft auf den mathematischen Spieltheorien des Minimax. Dahinter steht die Minimierung des maximalen, auf Dicks Buch übertragenen sozialen Schadens für die Gesellschaft in unbestimmten und unbestimmbaren Situationen. Wie bei Robert Sheckleys Menschenjagden beschreibenden Romanen/ Kurzgeschichten wird diese Idee mit der kontinuierlichen, aber nach strengen Richtlinien erfolgenden Jagd auf den jeweiligen Quizmaster auf eine ironische Spitze getrieben.   

Verrick kann sich als bisheriger Quizmaster absetzen. Dabei verletzt er mehrere Lehnseide seinen Untergebenen gegenüber. Er plant auf ein Attentat auf Cartwright, das gleich mehrere von Dicks klassischen Themen beinhaltet. Man möchte einen menschlichen Roboter Pellig schicken, dessen Handlungen von mehr als einem menschlichen Bewusstsein gesteuert wird. Diese „Freiwilligen“ werden in den Roboter übertragen. Damit sollen die Sicherheitssysteme ausgeschaltet werden. In relativer Nähe von Cartwright soll eine Bombe gezündet werden. Automatisch und ohne das Wissen der menschlichen Besatzung. Alleine Benteley ahnt sein Schicksal, nachdem man ihm betrunken und unter Drogen gesetzt -  ein weiteres Thema – gegen seinen Willen transferiert hat. Verrick sieht ihn ja weiterhin als seinen Leibeigenen an, obwohl der archaisch erscheinende Schwur unter falschen Voraussetzungen abgegeben worden ist. Pelligs Odyssee zu seinem Ziel gesteuert von den verschiedenen menschlichen Bewusstseinen ist ein Höhepunkt des Romans. Paranoid und schizophren steuert Pellig auf der Suche nach Cartwright durch die Büros seiner Organisation. Die Idee eines perfektes Mordes mit unterschiedlichen, konträr handelnden Protagonisten in einem allerdings künstlichen Körper und damit die telepathische Überwachung des Ziels ausschaltend wird vielen Lesern/ Science Fiction Fans natürlich aus Steven Spielbergs Adaption „Minority Report“ und der zugrundeliegenden Kurzgeschichte bekannter sein. Die Ursprünge findet man in diesem Buch.    

Ein weiterer roter Faden in Dicks Werk sind sexuelle Beziehungen. Nicht selten sind es sehr junge Frauen, die reif über ihr eigentliches Alter hinaus, sich dem Protagonisten sehnsüchtig hingeben. In einem seiner Bücher hat Dick allerdings mit einer homosexuellen Komponente das Mindestalter für freiwilligen Sex auf zwölf gesenkt. Im vorliegenden Buch ist es die rothaarige Telepathin Eleanor Stevens, die ebenfalls im Verricks Diensten sich Bentley hingibt. Später wird er noch mehrere Beziehungen haben, wobei sich die Nicht von Cartwright Rita O´Neill auf intensive Beobachtungen beschränkt. Blanke Brüste und glänzendes rotes Haar sollten wohl die Verkäufe auf dem sich in den Anfängen befindlichen Taschenbuchmarkt beflügeln.

Dick geht aber noch einen Schritt weiter. Sein Protagonist Benteley ist noch nicht der normale Blue Collar Arbeiter, dessen Welt nicht die ist, für welche er sie hält. Benteley hat einen guten Job, wird gut bezahlt., produziert seine Ideen allerdings auf eine gedankliche Mühlhalde. Er ist unzufrieden. Nicht grundsätzlich mit dem System, sondern mit der Korruption- sie ist in Dicks Struktur allerdings nicht zielführend – und der Langeweile. Darum schließt er sich ausgerechnet dem Quizmaster Verrick an, der opportunistisch für das Krebsgeschwür in dieser Gesellschaft steht. Verrick kennt keine Regeln und im Laufe des Plots wird immer deutlicher, das er für den eigenen Machterhalt sowie später die Rückkehr an die Spitze jegliche juristische Grenzen notfalls mittels seiner Anwaltsherde zu überschreiten denkt. Die Auflösung der zweiten Handlungsebene stellt für Dick eine weiteren faulen Kompromiss dar. Während der Protagonist überrascht ist, kann der aufmerksame Leser das einzige in Frage kommende Ende angesichts der von Dick präsentierten Personenkonstellation klar erkennen. Im Gegensatz zu vielen anderen seiner Bücher bedeutet der Bruch der bisherigen Traditionen aber nicht notwendigerweise eine gänzliche Systemänderung.

Benteley ist noch ein idealisierter klassischer Dick Charakter, dem es auf Treue (nicht unbedingt gegenüber den Frauen), Loyalität und vor allem Idealen ankommt. Das wirkt aus heutiger Sicht naiv und für Dicks späteres Werk befremdlich, aber Dicks Figuren sind noch keine die Realität hinterfragenden Barrikadenstürmer, sondern versuchen die „amerikanischen“ Ideale in einer nicht perfekten Welt zu verteidigen.

Auch wenn einige Ideen wie der gezielte Gebrauch von Drogen; die Fragen nach Mensch und Maschine oder ein eher kommunistisch, hierarchisch organisiertes Amerika der Zukunft mit Protagonisten eher der Gegenwart entsprechend schon in Dicks erstem Roman etabliert werden, ist es rührend, mit viel Liebe zum Detail der Autor seinen Protagonisten noch heroisiert und den ganzen Roman auf einer pathetisch positiven kosmopolitischen Note enden lässt.    

Hauptgewinn: die Erde: Roman (Fischer Klassik)

  • Herausgeber ‏ : ‎ FISCHER Taschenbuch; 1. Edition (28. Juli 2021)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 224 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3596906946
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3596906949
  • Originaltitel ‏ : ‎ Solar Lottery