Grande Parure

Achim Hiltrop

In seinem neusten Roman „Grande Parure“- der Titel bezieht sich auf ein einzigartiges Schmuckstück – verbindet Achim Hiltrop die Idee eines Astraldetektivs mit den Aspekten der Zeitreise und im Grunde auch eine Art schicksalhaften Perpetuum Mobile, mit welchem der Protagonist John Kaiser die Ereignisse um die Suche nach den einzelnen Bestandteilen des Grande Parure nicht nur am Laufen hält, sondern auch wenig augenzwinkernd erzählt sogar abschließend steuert.

Die Idee eines Astraldetektivs – er nutzt seine übernatürlichen Fähigkeiten,  um Verbrechen aufzuklären – ist nicht neu. Vor einigen Jahren veröffentlichte Dieter von Reeken in zwei Sammelbänden die noch vorhandenen Abenteuer Sar Dubnotals, der zwar als Geisterbanner aufgetreten ist, aber auch das Verbrechen bekämpft hat. William Hope Hodgson erschuf mit Thomas Carnacki- die Geschichten erschienen gesammelt im Festa – Verlag  - einen Sherlock Holmes des Okkulten, gleichzeitig einen der ersten Erforscher übernatürlicher Phänomene in der phantastischen Literatur.

 John Kaiser ist dagegen zu Beginn des Romans ein abgehalfter Privatdetektiv, der vor fünf Jahren seine Methoden vor Gericht offen legen musste und seitdem als Privatdetektiv erledigt ist. Hans Palaschke ist ein in Köln ansässiger Rechtsanwalt, der seine Methoden damals bloß gestellt hat. Jetzt braucht er aber John Kaisers einzigartige Fähigkeiten, den für die letzte verbliebene Patriarchen einer Hamburger Kaffeedynastie soll John Kaiser der Spur des Grande Parure folgen, das sie ihrer Enkelin zur bevorstehenden Hochzeit schenken möchte. Dieses einzigartige, aber nicht unbedingt bei den Frauen der Familie sonderlich beliebte Schmuckstück ist im Laufe der Jahrhunderte Stück für Stück verloren gegangen.

 John Kaiser hat die Fähigkeit, sich mittels Beschreibungen und Bildern in der Zeit geistig zurückzuversetzen. Allerdings nimmt er nichts mit. Er besetzt quasi am Ende seiner Reise einen Körper, verdrängt dessen Geist. Dazu muss er quasi am letzten bekannten Ort des jeweiligen verschwundenen Teilstücks landen. Zeitlich wie räumlich. Es gibt allerdings noch ein zweites Problem. Die Reise ist zumindest in der Theorie so lange eine Einbahnstraße, wie der Gastwirt lebt. Erst mit seinem Tod oder zumindest einem sehr starken lebensbedrohlichen Schockerlebnis kann er den Körper wieder verlassen und in die Gegenwart zurückkehren. Die am Ausgangspunkt seiner Reise verstrichene Zeit ist relativ. Das können wenige Minuten sein, aber durchaus auch zwei Tage. Der Körper muss vor Austrocknen geschützt werden. Da John Kaiser die Teile des Grande Parure nicht mit in die Gegenwart bringen kann, muss er sie verstecken.

 Achim Hiltrop deckt erst nach und nach die einzelnen Schwierigkeiten auf, denen sich John Kaiser auf seinen Missionen unterwerfen muss. Für jede Reise wird er von der Kaffeeerbin mit fünfzehntausend Euro entschädigt. Ausgangspunkt sind die Informationen, welche der Astraldektiv von Wilhelmine Alberts erhält. Die einzelnen Reise führen zum Beispiel in die Zeit des Ausbruchs des deutsch-französischen Krieges, eine Silvesternacht des Jahres 1914; in die Bombennächste des 2. Weltkriegs; zum 18.10.1977 in Mogadischu oder zweimal nach Köln Müngersdorf. Während die erste Missionen den Umständen entsprechend erfolgreich gestaltet werden, wird John Kaiser mehr und mehr vom passiven Trittbrettfahrer, welche die Schmuckstücke bei Gelegenheit „leiht“ und versteckt zu einem elementaren Bestandteil der Familienchronik und zu einem aktiven Teilnehmer an der Gestaltung des Firmenimperiums. Ein Mord bzw. Mordversuch inklusive.

 Der Roman besticht durch seinen flotten Erzählstil. Achim Hiltrop hat die Handlung ganz bewusst in kurze Kapitel unterteilt, weil sich die Gegenwart und die einzelnen Exkursionen in die Vergangenheit ablösen. Auch wenn der Rechtsanwalt der Familie Hans Palaschke vieles ahnt, erfährt er stellvertretend für den Leser erst durch John Kaiser die einzelnen bislang ungeschriebenen Gesetze der Astralreise. Am Ende des kurzweiligen Textes muss selbst John Kaiser erkennen, das nichts in Stein gemeißelt ist und der Anfang dieser Geschichte nicht dem Ende entspricht.

 Die Astralreise ist eher ein Mittel zum Zweck. John Kaiser ist ein Zeitreisender. David Gerrold hat mit „Zeitmaschinen gehen anders“ in dieser Hinsicht Pionierarbeit geleistet, auf welche sich Achim Hiltrop mit seiner allerdings grundlegend eigenständigen Geschichten bezieht. Am Ende handelt es sich wie eingangs erwähnt um eine Art Perpetuum Mobile oder eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Mit jeder Mission entlang der Familiengeschichte entwickelt sich John Kaiser mehr und mehr zum einem aktiv in das Geschehen eingreifenden Protagonisten. Dabei droht er seine eigene Identität phasenweise zu verlieren. Das gilt insbesondere für eine Art zweites Leben. So ist John Kaiser durch seine Reise mehr als vierhundert Jahren gealtert, seine eigentlicher Körper aber nur knapp über vierzig Lebensjahre alt. Die Erinnerungen an die Missionen verschwinden genauso wenig wie sein eigenes Gedächtnis. So ist es ein leichtes, die Vergangenheit im eigenen Interesse bis an die Grenze der Unglaubwürdigkeit auszureizen. Achim Hiltrop fügt seiner Geschichte exemplarisch zwei oder drei Beispiele hinzu.

 Hier zeigt sich kritisch gesprochen aber auch die größte Schwäche des Buches. Das Tempo ist wie erwähnt sehr hoch, der Autor springt zwischen der Gegenwart in der mondänen Hamburger Villa und den verschiedenen Zeitepochen hin und her. Dabei leidet vor allem gegen Ende des Romans die Charakterisierung John Kaisers. Zwar kommen immer wieder Selbstzweifel auf, aber zum Beispiel bei der in Köln Müngersdorf spielenden Doppelszene hat er keine Skrupel, die Gesetze zu brechen und billigend das Leben anderer aufs Spiel zu setzen. Zwar gewährt Achim Hiltrop ihm abschließend einen klein bisschen Vergebung, aber die negativen Charakterzüge werden genauso wenig abschließend extrapoliert wie die stetige Verschmelzung zwischen Wirt und dem unfreiwilligen Gast.

 Am Ende des Romans versucht der Autor vor allem clever zu sein und die verschiedenen offenen Fäden zusammenzuknoten. Das reicht bis zu einem perfekten, eher cineastischen Epilog, der Hans Palaschke wie die Leser sprachlich zurücklässt. Auf der anderen Seite erklärt der Autor nicht, wie John Kaiser in seiner Rolle als Privatdetektiv genauso existieren kann wie der sich in einem anderen Körper befindliche John Kaiser. Gleichzeitig in einer Zeit, teilweise sogar beinahe am gleichen Ort. Axel Kruse hat sich in seinen bislang zwei Romanen der anders funktionieren Zeitreise auch genähert, ohne den gordischen Knoten zu durchschlagen. Wie David Gerrold interessiert es Achim Hiltrop auch nicht sonderlich. Es geht um eine spannende Geschichte, um Irrungen/ Wirrungen und dem Spiel mit der „Zeit“ im übertragenen Sinne. Den John Kaiser hat vor allem Zeit. Auch wenn bis einer der letzten Missionen sein Körper mittels Infusionen am Leben erhalten wird, hat der Leser im Gegensatz zu Hans Palaschke oder Wilhelmine Alberts niemals wirklich das Gefühl, als sei der Astraldetektiv wirklich in Lebensgefahr. Zu sehr konzentriert Achim Hiltrop die Handlung auf John Kaiser als Person.

 Die Nebenfiguren sind solide wie pragmatisch gezeichnet. Einige der Protagonisten begegnet der Leser dank John Kaisers Reisen zu unterschiedlichen Zeiten ihrer jeweiligen Leben. Das wirkt manchmal belustigend, an deren Stellen ernsthaft. Aber alle Figuren sind in erster Linie Handlungsfunktionsträger, welche John Kaiser auf seinen im Mittelpunkt der Geschichte stehenden Reisen mit Informationen ausstatten. Freiwillig oder unbewusst steht auf einem anderen Blatt. Vielleicht hätte dem kurzen Roman eine ausführlicher Charakterisierung der einzelnen Figuren zumindest bei den späteren, ausführlicher beschriebenen Zeitreisen gut getan. Deren Einfluss auf die "Gegenwart" ist relevanter.

 Inhaltlich leidet diese immer vertrackter und absurder werdende Geschichte vor allem gegen Ende allerdings auch unter den - höflich gesprochen - pragmatisch gezeichneten Nebenfiguren. Sie sind lebendig, sie dienen ihrem Zweck und sie bilden die ideale Bühne, auf welcher John Kaiser sich mehr und mehr auslebt. Aber sie geraten sehr schnell auch in Vergessenheit oder werden über notwendige Klischees hinaus nicht weiterentwickelt. Dadurch wirkt manches auf den Reisen vielleicht zu einfach.

 „Grande Parure“ ist eine - wie mehrfach beschrieben - flott zu lesende astrale Zeitreisegeschichte, in welcher der Leser nicht unbedingt nach der inneren Logik suchen sollte, sondern sich von der besonderen Art der Zeitreise – sie bürgt Schwierigkeiten und Risiken, aber abschließend auch gigantische Chancen – einfach auch durch einen Teil einer  Hamburger Familiengeschichte tragen lassen. Immer mit einem Augenzwinkern erzählt, auch wenn die Leser es wie John Kaiser spät, aber nicht zu spät erkennt. Zu diesem Zeitpunkt hat John Kaiser allerdings schon die Initiative ergriffen und rückt die Vergangenheit vor allem sich selbst zurecht.     

  • Publisher ‏ : ‎ Atlantis Verlag (31 May 2022)
  • Language ‏ : ‎ German
  • Hardcover ‏ : ‎ 160 pages
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3864028361
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3864028366
  • Grande Parure