Blutige Nachrichten

Stephen King

„Blutige Nachrichten“ ist die fünfte Novellensammlung Stephen Kings. 1982 erschien „Different Seasons“, zwei der Novellen wurden berühmte Filme. Die zweite Sammlung von Kurzromanen „Four past Midnight“ hat der Heyne Verlag für die deutsche Erstveröffentlichung 1990 und 1992 aufgeteilt. Auch hier sind einzelne Texte verfilmt worden, aber sie erreichten nicht den Weltruhm von „Stand by Me“ oder „The Shawshank Redemption“.  

Es folgten mit „Atlantis“ und „Zwischen Nacht und Dunkel“ zwei weitere Novellensammlungen, die   ebenfalls teilweise überzeugende Kurzromane beinhalteten , aber die beiden Sammlungen stehen wie „Four Past Midnight“ im Schatten von „Different Seaons“, Stephen King bis heute bester Novellensammlung. Seine zahlreichen Kurzgeschichtensammlungen sind bei dieser Betrachtung genau wie seine Romane bewusst ausgeklammert worden.   

Mit „If it bleeds“ kehrt Stephen King zum bewährten  Format mit vier Kurzromanen zurück. Auch wenn der Amerikaner ein erfolgreicher und guter Romanautor ist, zeigen sich seine überdurchschnittlichen Fähigkeiten vor allem in den Kurzromanen. Stringente Plots, weiterhin lebendige und überzeugende Charaktere, aber vor allem durchdachte und konsequente zu Ende geführte Geschichten. Ein Manko, an dem viele seiner längeren Romane seit Jahrzehnten leiden. „Under the Dome“ sei hier als das Negativbeispiel mit einer Idee aus der Pulp Zeit der Science Fiction noch einmal herausgestellt.

Schon die erste Novelle „Mr. Harringtons Telefon“   vereinigen sich die Unschuld der Jugend, die Herausforderungen der Heranwachsens mit übernatürlichen Elementen, wobei Stephen King erst gegen Ende deutlich macht, das es ein Leben nach dem Tod oder zumindest ein Verharren in der Twilight Zone zwischen Leben und endgültigen Tod geben kann. Der Erzähler blickt auf sein zwölf Jahre altes Ego zurück. Craig lebt mit seinem Vater in Harlow, einer Kleinstadt. Ein ehemaliger Unternehmer und Milliardär wird auf den in der Methodistenkirche lesenden Craig aufmerksam und bittet ihn, gegen Bezahlung regelmäßig ihm vorzulesen und ein wenig im Haus zu helfen. Neben der Bezahlung erhält er viermal im Jahr einen Dankesbrief mit einem Rubbellos. Als er 3000 Dollar gewinnt, beschließt er, Mr. Harrington aus Dankbarkeit auch eines der ersten Iphones zu schenken. Damit öffnet er dem alten Mann ein Welt jenseits seiner bisherigen Zeitungen. Als Mr. Harrington an einem Herzinfarkt stirbt, bleiben Craig und sein väterlicher Freund irgendwie in Kontakt.

In seinem Nachwort geht Stephen King noch einmal auf die Zeit Anfang des 21. Jahrhunderts ein. Die Veränderungen, welche der endgültige Siegeszug des Internets hervorrief. Mr. Harrington ist ein knallharter Unternehmer der alten Zeit gewesen, dessen Prämissen auch heute noch gelten. Niemand bekommt etwas im Leben geschenkt. Auch für die Rubellose muss Craig ja arbeiten.

Auf der einen Seite beschreibt Stephen King fast klischeehaft die jugendlichen Jahre Craigs in einer Kleinstadt. Die erste Liebe mit dem ersten Knutschen; der Rüpel, der ausgerechnet Craig immer wieder drangsalieren will und schließlich zusammenschlägt; die heimliche Liebe zu einer attraktiven Lehrerin und schließlich auch den Verlust des väterlichen Freundes, nachdem früh Craigs Mutter schon gestorben ist. Mr. Harrington hat dabei einen größeren Einfluss, als es sich Craig eingestehen möchte. Rührend sind die ersten Anrufe auf Harringtons Iphones, das Craig in den Sarg geschmuggelt hat. Später wird daraus eine Art Hilferuf, der auch in zwei Fällen prompt beantwortet wird. Die beschriebene Gewalt ist auch klassischer King. Erst beschämend, beim zweiten Mal sehr brutal. Aber Stephen Kings Geschichten handeln auch immer vom Erwachsenwerden, vom Zurücklassen nicht nur von Erinnerungen, sondern auch von Menschen. Das zeichnet „Stand by Me“ genauso aus wie zum Beispiel auch „Es“, wobei hier die Protagonisten erst als Erwachsene das Trauma besiegen können.

Liebevoll gezeichnete Figuren, ein authentisches Bild des Lebens in der Kleinstadt mit dem Internet als zeitlose Brücke zur großen Welt da draußen und eine süßsaure Pointe machen „Mr. Harringtons Telefon“ zu einem im positiven Sinne so typischen Stephen King Text und damit der idealen Auftakt Geschichte für diese Novellensammlung.   

Die zweite Geschichte hat Stephen King absichtlich gegen die Lebens Chronologie eines Menschen gebaut. “Chucks Leben” endet im ersten Kapitel der Novelle. Wie das Leben aller Menschen im Auge des Endes der Welt. Chuck liegt viel zu jung im Sterben. Begleitet wird diese Reise von seltsamen Plakaten, in denen Chuck für neununddreißig Jahre gedankt wird. In den beiden folgenden Kapiteln erfährt der Leser mehr über dessen Jugend in einer Kleinstadt und seine Liebe zum Tanzen, die einzige Möglichkeit, diese kleine Stadt neben dem Leser der Bücher im Hause seiner Großmutter zu verlassen. Der junge Chuck wird dem Leser rückwirkend in dem letzten Abschnitt der Geschichte vorgestellt, in dem Stephen King ausgesprochen mutig sein Leben sowie seinen Tod mit dem Schicksal des Universums verbindet. Das wirkt ambitioniert, vielleicht ein wenig konstruiert, aber im Gegensatz zu dem jüngeren Stephen King, der seine Ideen nicht immer zufriedenstellend abschließen konnte oder wollte, agiert dieser ältere Stephen King sehr konsequent und routiniert. Das Schicksal eines Einzelnen berührt die Leser mehr als das Ende der Welt. Die emotionalen Szenen erscheinen nicht kitschig oder verklärt. Mit einer erschreckenden Sachlichkeit beschreibt Stephen King menschliches Leiden (Chuck stirbt an einem Gehirntumor) als etwas leider Alltägliches. Damit hat der Autor recht. Hinsichtlich der Folgen für die Zurückgebliebenen zeigt sich die wahre Kunst des Erzählers Stephen King und “Chucks Leben” gehört in dieser Hinsicht zu Stephen Kings besten Arbeiten.  

Die Titelgeschichte „Blutige Nachrichten“ ist mit einigen anderen, in den letzten Jahren veröffentlichten Stephen King Arbeiten eng verbunden. Mit mehr als zweihundert Seiten ist es eher ein eingeschränkt eigenständiger Roman als eine Novelle. Im Nachwort gibt Stephen King zu, dass er Holly Gibney einfach liebt. Als Nebenfigur für „Mr. Mercedes“ entwickelt,  trat sie in den drei „Finders Keeper“ Arbeiten auf.  Im Prolog findet Ralph Anderson-  wie Holly eine wichtige Figur in „The Outsider“  nach der Rückkehr aus dem Urlaub einen Umschlag von Holly Gibney. Neben der Diskette hat Holly Fotos und Audioaufzeichnungen beigefügt. Im Falle ihres Todes soll Ralph Anderson ihre Ermittlungen übernehmen.

  Auch wenn Stephen King im Nachwort deutlich macht, dass die Novelle „Blutige Nachrichten“ für sich alleine steht, ist das nicht unbedingt richtig. Viele Querverweise vor allem auf „The Outsider“ inklusive direkter wichtiger Zitate finden sich in der vorliegenden Geschichte. Dazu erinnert sich Holly immer wieder an den Gründer und beruflichen Ziehvater der Detektei, die sie nach dessen Krebstod übernommen und ausgebaut hat.

Die Geschichte beginnt mit einem Bombenattentat auf eine Schule. Es gibt viele Tote und Schwerverletzte. Ein Reporter ist früh zur Stelle und hilft sogar, Menschen zu retten. Holly Gibney verfolgt den Anschlag in den Nachrichten. Der Reporter weckt Misstrauen in ihr. Das basiert nicht auf den Fakten, sondern auf den Erfahrungen, die sie mit dem Outsider aus dem gleichnamigen Roman gemacht hat. Sie ist fest überzeugt, dass dieser Outsider mit seinen besonderen Fähigkeiten nicht alleine auf der Welt ist. Und vielleicht verfügt dieser Reporter über andere, genauso schreckliche Fähigkeiten. Durch einen Zufall trifft sie auf einen ehemaligen, schwerkranken Polizisten, der schon seit Jahrzehnten Informationen über den Reporter sammelt. 

Die drei „Finders Keeper“ Romane lebten vor allem von den dreidimensionalen Figuren, die schreckliche Verbrechen aufklären mussten. Der „Outsider“ bezog seine einzigartige Spannung aus einer einzigen Frage: Der Mörder und Vergewaltiger eines kleinen Jungen ist an Hand von Fingerabdrücken und DNA-Spuren eindeutig überführt. Nur befand sich der beliebte Football Coach quasi an zwei Orten zugleich.

Daher ist der Handlungsverlauf von „Blutige Nachrichten“ nicht mehr  so explosiv und überraschend wie es „The Outsider“ lange Zeit gewesen ist. Stephen King greift bis auf den anderen Katalysator der Ermittlungen  auf die gleichen Mechanismen wie in dem vor einigen Jahren veröffentlichten Roman zurück. Auch Holly Gibney ist als Ermittlerin zusammen mit den Lesern einen Schritt weiter und glaubt inzwischen an Menschen oder Wesen mit übernatürlichen Fähigkeiten, für die Schmerz zu einer Sucht geworden ist. Diese Wesen haben besondere Fähigkeiten, die sie mächtig, aber nicht allmächtig machen. Sie haben auch Schwächen, die der Mensch erkennen und ausnutzen muss.

Lange Zeit wird „Blutige Nachrichten“ mehr von dem weiterhin sehr interessanten Charakter Holly Gibney als der eigentlichen Handlung getragen, die bis kurz vor dem obligatorischen Showdown zu wenige Wendungen und Überraschungen für Leser bereithält, welche die drei „Finders Keeper“ und „The Outsider“  nicht kennen. Wer sich in deren Milieu schon heimisch fühlt, wird die Hollys Recherche inklusiv Problemen mit der eigenen Familie zwar interessiert begleiten, aber nicht so mitgerissen sein wie ein Leser, der bislang keine Ahnung vom möglichen Handlungsverläufen in diesem „Universum“ hat.  

Die Spannungskurve ändert sich aber nach der ersten Begegnung mit dem Outsider. Im gleichnamigen Roman dauerte es lange, bis Holly und Ralph der Kreatur begegneten. Sie waren immer einen Schritt zurück. Hier weiß Holly, welche Herkulesaufgabe auf sie wartet und das die Sucht nach Schmerzen schon lange die Grenze zwischen der Anwesenheit an Orten der Katastrophen zum Gestalten dieser Szenarien überschritten hat. Und da gibt es wie bei einem Drogensüchtigen keinen Weg zurück. 

Wer keine Vorkenntnisse der anderen, schon angesprochenen Romane hat, wird bei den ersten Verhandlungen zwischen Holly und dem Outsider überrascht sein. Holly präsentiert aus Authentizitätsgründen sehr viel von sich, damit ihre Geschichte glaubwürdiger erscheint.

Die finale Konfrontation findet an einem Ort statt, den sie kontrollieren kann. Nicht wie in “The Outsider”  einem von ihm selbst ausgewählten Versteck. Und trotzdem droht die Situation  zu eskalieren. Hollys Plan ist riskant, droht mehrfach wie bei Stephen King öfters zu scheitern und gipfelt schließlich in einem klassischen Pyrrhussieg, bei dem die Guten die Hoffnung haben, das Böse ausschalten zu können. Beweise für einen abschließenden Erfolg gibt es nicht. 

Von der Handlungsstruktur schwankt Stephen King zwischen dem zu Beginn anvisierten Bericht Hollys an ihren Freund Ralph und einer Erzählung auf Augenhöhe der Protagonisten hin und her. Durch diese literarische Wankelmütigkeit schleichen sich einzelne Längen in den Text, die Stephen King nicht gänzlich mit seinen dreidimensionalen, teilweise den Stamm Lesern inzwischen sehr vertrauten Figuren ausgleichen kann. 

“Blutige Nachrichten” hätte eine Erweiterung des Themas “Outsider” gut getan. Stephen King variiert die Prämissen zu wenig und im direkten Vergleich zu dem brutalen Kindermörder wirkt der selbstverliebte eitle Outsider lange Zeit fast wie ein Schoßhündchen. Beide Kreaturen scheitern aber schließlich an ihrer eigenen Arroganz den Menschen gegenüber, die sie wie die klassischen Monster der Horrorliteratur als willige Opfer ansehen, aber niemals als möglicherweise gefährliche und gleichberechtigte Gegner. 

Stephen King hat immer wieder Autoren, nicht erfolgreiche Autoren in seinem umfangreichen Werk mit übernatürlichen Phänomenen konfrontiert. In “The Shining” wie Wiederholung einer bestimmten Zeile durch den Protagonisten. In “the Dark Half” der “Mord” am literarischen Alter Ego, der aber nicht tot bleiben möchte. Und in der vorliegenden vierten Novelle der Sammlung “Ratte” ist es Drew Larson, der nach einer Handvoll guter Kurzgeschichten endlich im vierten Versuch den ultimativen Roman schreiben will. Die ersten drei Versuche wurden abgebrochen oder endeten mit Nervenzusammenbrüchen. Als er während des Einkaufs an einer Straßenecke einen literarischen Zug - ein wundervolles sprachliches Bild Stephen Kings - auf sich zurollen sieht, weiß Drew Larson, dass es quasi seine letzte Chance ist 

Der Vater seiner Frau hat ein altes Häuschen, abgeschieden in den Wäldern gelegen. Hier will Drew Larson in den nächsten Wochen die ersten vierzig bis einhundertvierzig Seiten seines Buches schreiben. Zumindest in der Theorie ist er sogar über das installierte Festnetztelefon mit der Außenwelt verbunden. 

Stephen King hat sichtlich Freude, von Beginn an ein Szenario zu entwickeln, das aufgrund seiner vertrauten Mechanismen die Erwartungshaltung der Leser mit jeder unlogischen Entscheidung seines Protagonisten steigert.  Vieles wirkt absichtlich wie eine Aneinanderreihung von Klischees aus Stephen Kings umfangreichen Werk. Ob das Zufall oder Absicht ist, kann nicht mit Bestimmtheit gesagt werden, aber mit dem Erreichen der kleinen Hüte und dem Beginn der Arbeit an diesem monumentalen Westernthriller beginnen sich die Probleme zu häufen. Für niemanden außer Drew Larson eine wirkliche Überraschung. 

In der Einsamkeit der hütte wird er nicht nur mit einem schweren Schneesturm, sondern auch durch das Fieber beeinträchtigt mit einer sprechenden, gerade zu gesprächigen Ratte konfrontiert, die Larson vor dem Tod durch Erfrieren retten. Das reicht aber nicht für einen Pakt mit faustischen Dimensionen. Ein Mann in seiner unmittelbaren Umgebung muss sein Leben für einen perfekten Roman opfern. Eine perfide Abmachung, die Larson mit einem bestimmten Kriterium eingeht. Nur hat er nicht das Kleingedruckte in dem imaginären Vertrag gelesen. 

Stephen King lässt abschließend offen, ob Drew Larson wie Jack Torrance aus “ The Shining” die  schmale Grenze zwischen Realität und Wahnsinn zeitweilig überschritten hat. Die Gespräche mit der Ratte sind pointiert und intellektuell scheint das Tier dem Lehrer deutlich überlegen. Minutiös zerlegt die Ratte Drew Larsons Annahmen. Aber ist sie real oder meldet sich eine unterbewusste Ebene im Verstand des gestressten Lehrers, der bis dahin dreimal bei Romanen kläglich gescheitert  ist? Im Grunde spielt diese Frage abschließend auch keine Rolle mehr, denn Larson fügt sich pragmatisch in sein Schicksal, das ihm buchstäblich Triumph und Tragödie in einem Atemzug beschert. 

Wie die drei anderen Novellen lebt die Geschichte vor allem von dem messerscharf aus dem Leben geschnittenen Protagonisten. Stephen King kann sich gut in den Druck eines Autoren, endlich ein Buch zu erschaffen, hineindenken. Schließlich litt der Amerikaner auch mehrmals an einer Schreibblockade oder brauchte Kokain, um Romane fertigzustellen. Inzwischen ist er in dieser Hinsicht altersmilde, was ihn aber nicht davon abhält, seine Figuren aus dem Nichts heraus in gefährliche Situationen zu bringen. Das macht den Reiz dieser vier Novellen aus.

Die letzten Romane aus Stephen Kings Feder waren kürzer, stringenter und vor allem deutlich zielführender konzipiert als seine Arbeiten aus den späten neunziger Jahren bzw. zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Dazwischen erschienen immer wieder überdurchschnittliche, lesenswerte Kurzromane wie in dieser Sammlung. Sie präsentieren auf kompaktem Raum alle Stärken und seltener die wenigen Schwächen des Amerikaners. “Blutige Nachrichten” ist auch eine ideale Sammlung von Texten, um Stephen King zum ersten Mal zu begegnen. Für seine langjährigen Stammleser unterstreicht der Autor zum wiederholten Male, dass alte Eisen nicht bluten…. rosten. 

 

Blutige Nachrichten

  • Herausgeber ‏ : ‎ Heyne Verlag; Erstmals im TB Edition (9. August 2021)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 576 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3453441397
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3453441392
  • Originaltitel ‏ : ‎ If It Bleeds
Kategorie: