
Wahrscheinlich ist es dem Herausgeber Gordon von Gelder kaum bewusst geworden, aber die „May/ Juni 2013“ seines Magazines of „Fantasy & Science Fiction“ vereint eine Reihe von sehr interessanten erwachsenen Themen mit einem Schwerpunkt im Bereich der nur wenig extrapolierten Science Fiction.
Robert Reed eröffnet die Ausgabe mit “Grizzled Veterans of Many and Much”. Die Menschheit erhält die Chance, als individuelles Bewusstsein seinen Körper zu verlassen und eine Art Transzendenz zu erreichen. Dabei nutzen die Armen Variationen des Vorgangs, um ebenfalls eine relative Unsterblichkeit zu erreichen. Mit Bradley verfügt Robert Reed über einen zugänglichen Protagonisten, der als achtjähriger Jungen ausgerechnet am Heiligen Abend den Aufbruch seines Großvaters in diese neue Existenzebene erfahren muss. Später nach einem Zeitsprung verfolgen Bradley und der Leser im Grunde den letzten Entwicklungsschub, der eine fast Menschenleere Erde hinterlässt und für die Auflösung von Familienverbänden verantwortlich ist. Robert Reed geht mit seinem kompakten Text ausgesprochen weiter Weg. Aus einer persönlichen und auch familiären Sichtweise heraus versucht er mit einem zugänglichen, sympathischen Charakter zu eruieren, ob der Mensch nach relativer und damit auch körperloser Unsterblichkeit wichtiger ist als die klassischen Familienbande. Der Wechsel in die Transzendenz hat einen entscheiden Nachteil. Das Gehirn arbeitet kurze Zeit auf einer intensiven Stufe, während der Körper in der Erde verfault. Später brennt es nach einer für den Betroffenen unendlich erscheinenden Zeit aus. Wie bei vielen anderen seiner Kurzgeschichten wäre die Novellen oder besser noch die Romanform das eher geeignete Medium, um die sozialen wie intellektuellen Veränderungen zu beschreiben. Vieles dieser interessanten Idee bleibt oberflächlich und wird mittels verbaler Boten eher auf einem primitiven Niveau vermittelt.
Aus einem Episodenroman stammt „By the Light of the Electronic Moon“ von Angelica Godorischer, übersetzt von Amalia Gladhart. Zwei Kumpel treffen sich in einer Art intergalaktischer Bar und tauschen sexuelle Erlebnisse aus. Außerirdische, Roboter, Raumfahrt und ordentlich Alkohol mit Dialogen, die bis auf die genretypischen Begriffe aus der Gegenwart stammen könnten. Der Humor ist eher chauvinistisch, ein Handlungsbogen aufgrund der Entnahme aus einem umfangreicheren Werk nicht zu erkennen und die Übersetzung wirkt ein wenig sperrig. Rand B. Lees „Changes“ zeigt nachhaltiger, wie man aus einer ungewöhnlichen Perspektive – es könnten fast die Hunde wie in „A Boy and his Dog“ sein, welche die Geschichte erzählen, einen altbewährten Stoff – Post Doomsday – interessant aufbereitet, wenn auch nicht gänzlich Zufrieden stellend abschließt. Der Titel bezieht sich weniger auf die Vergangenheit, welche die Kultur der Menschheit im Grunde vernichtet hat, sondern auf die gegenwärtigen Entwicklungen mit kleinen Taschenenklaven, in denen der Protagonist zusammen mit dem Leser sogar Wundertieren aus den Fabeln begegnen kann. Nur wirken diese kleinen Universen lange nach und bedrohen sogar den Gesundheitszustand des Wanderers. Rand B. Lee mischt alle Genres – Science Fiction, Fantasy und Horror – zusammen. Er bemüht sich, die einzelnen menschlichen wie tierischen Charaktere weiterzuentwickeln und einen runden Plot zu präsentieren, der am Ende allerdings zu konstruiert und zu übertrieben erscheint.
Albert E. Cowdreys „The Woman in the Moon“ ist eine humorvolle Parodie auf verschiedene Subgenres. Der Held – ein Professor namens Threefoot – gibt seinem Schwiegersohn Ratschläge, wie man mit Übertreibungen und Lügen an die Spitze zumindest einiger Akademien kommen kann. Dem Sohn werden zusätzlich einige amoröse Eskapaden des Vaters erzählt, die eng mit H.G. Wells „The First Men in the Moon“ zu tun haben könnten. Mit einem großen Augenzwinkern verblüfft der Erzähler nicht nur seinen angeheirateten Verwandten, sondern auch die Leser, welche dem immer unglaublicher werdenden Garn nur mit Staunen folgen können. Die Technik ist reine Phantasie und dient alleine als Antrieb zu dieser melodramatischen und doch so unterhaltsamen Geschichte.
Gemeinsam mit „Wormwood is Also a Star“ aus der Feder Andy Stewarts bildet sie einen einsamen Höhepunkt dieser überdurchschnittlichen Sammlung. Zwei Geheimnisse überlappen sich im Jahre 1992 in der Ukraine. Ein geheimnisvolles, neinahe undurchdringliches Schirmfeld hat sich nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl über einen Teil der Ukraine gespannt, um die Menschen zu schützen. Ebenfalls vor zwanzig Jahren ist die Schwester des Reporters Mitka auf seltsame, niemals richtig aufgeklärte Art und Weise ums Leben gekommen. Mitka versucht gleichzeitig das Verhältnis einer Handvoll von Geschwister zu der geheimnisvollen Glocke zu untersuchen und gleichzeitig ihr Verhältnis zum deutlich jüngeren Vitaly zu verbergen bzw. aus dessen Fähigkeit, eher Emotionen als Gedanken seiner Mitmenschen zu lesen, wichtige Informationen zu ziehen. Vor allem beginnen Vitalys Geschwister nach und nach Selbstmord zu begehen. Von der biblischen Referenz im Titel – „Wormwood“ soll auf die Erde fallen und dort das Land und das Wasser wie Tschernobyl vergiften – über die distanzierte, melancholische, natürlich auch an „Picknick am Wegesrand“ erinnernde Erzählstruktur bis zur nicht gänzlich befriedigenden, aber zumindest konsequenten Auflösung des Todesfall überzeugt die Geschichte durch ihre souveräne und ruhige Handlungsführung inklusiv exzentrisch gezeichneter, aber überzeugender Charaktere. Andy Stewart zeigt mehrfach, dass ein einfacher Plot so vielschichtig und doch rückblickend einfach strukturiert erzählt werden kann, wobei er sich fast ausschließlich auf die gebrochenen Charaktere konzentriert, die im Schatten der damaligen Katastrophe ihre eigenen persönlichen Lasten niemals wirklich geschultert haben.
„The Mood Room“ ist nicht nur ein einziger Sex Joke mit einer nicht überzeugenden Pointe, sondern der Blick zurück aus einer kompletten virtuellen Realität Welt in die Zeit, als wie bei den fiktiven Holodecks diese Epoche erschaffen wird. Es fehlt der Geschichte Paul Di Filippo ansonsten überdrehter Stil und vor allem seine doppeldeutigen Dialoge, um gänzlich überzeugen zu können. Auch Joe Haldeman mit „Doing Emily“ – der Titel ist ebenfalls doppeldeutig und passt sich der Ausrichtung der ganzen Ausgabe sehr gut an – konzentriert sich auf VR Technologie, wobei die Idee einer Zeitreise impliziert wird. Der Ich- Erzähler klappert berühmte Leute wie Hemingway und Fitgerald für seine Thesenarbeit ab. Er landet schließlich in bzw. gegenüber Emily Dickinson, die sich anders zeigt als es ihr trauriges Leben andeuten könnte. Wie Di Filippo steuert Haldeman auf eine Pointe zu, die aber noch weniger überzeugend oder gar unterhaltsam ist. Die Zeichnung aller Charaktere in beiden Texten ist eher oberflächlich und die Erfahrung der Routiniers zeigt sich in diesen einfach gehaltenen Erzählungen viel zu wenig.
Noch eine dritte Geschichte beschäftigt sich mit sehr unterschiedlichen Liebespolen: Ted Whites „Systems of Romance“. Ein zweihundert Jahre alter Rockmusiker – er kann sich die relative Unsterblichkeit leisten – verliebt sich in ein junges Mädchen Cecilia- B, das Musik auf der Basis mathematischer Formen mittels eines Computers komponiert. Aus der Ich- Erzählerperspektive erfährt der Leser abseits der Klischees vom zynischen und verbrauchten Ex- Star von der privaten wie beruflichen Beziehung, die schließlich in einem Eklat endet. Auf der emotional überzeugenden Ebene beschreibt Ted White in erster Linie eine Auseinandersetzung mit der Jagd nach ewigen Ruhm. Während der Ich- Erzähler im Grunde alle Zeit hat und sie kaum zu nutzen weiß, sucht Cecilia- B die Chance, ihre vielen Ideen in der normalen, ihr zur Verfügung stehenden Lebenszeit zu verwirklichen. Ein unmögliches Unterfangen, das schließlich in mehrfacher Hinsicht auch tragisch endet. Während die Science Fiction Aspekte in den Hintergrund treten, überzeugt die Geschichte durch den inzwischen alterweisen Rückblick – auch „The Bluehole“ wird diese melancholische Perspektive einnehmen – auf das eigene Leben und vor allem die eigenen Vorurteile gegenüber anderen Menschen, die nicht selten nur durch ihr Aussehen – süß ist einer der Begriffe, der mehrfach verwandt wird – in Schubladen gepresst werden.
Als Übergang von den Science Fiction Texten in den Bereich Horror bzw. Dark Fantasy dieser Ausgabe muss „The Bluehole“ betrachtet werden, wobei der Ich- Erzähler ein ausgesprochener Science Fiction Fan ist. „The Bluehole“ könnte positiv und den Gehalt der Kurzgeschichte expliziert lobend aus Stephen Kings melancholischer Ära als eine Variation von „Stand by Me“ der frühen achtziger Jahre stammen. Der Ich- Erzähler ist ein wenig erfolgreicher Autor mit unzähligen Aushilfsjob, der in seine kleine Heimatstadt zurückdenkt und den Sommer von 1982 mit erstem Sex, Drogen, Science Fiction Filmen wie John Carpenters „The Thing“ Revue passieren lässt. Der Sommer, in dem sein bester Freund in dem unheimlichen See – „Bluehole“ genannt – ertrunken ist. Ohne das einzige mögliche Science Fiction Element der melancholischen, die Jugend besingenden Geschichte zu entlarven, funktioniert der Text auch auf der persönlichen Ebene hervorragend. Dale Bailey schafft es, diese achtziger Jahre mit Leben zu füllen und wahrscheinlich die ältere „The Magazine of Fantasy & Science Fiction“ Generation direkt anzusprechen. Die Charaktere sind perfekt gezeichnet und die achtziger Jahre mit den Teenagersorgen zur Zeit des immer noch kalten Krieges, der wirtschaftlichen Schwierigkeiten und dem einsamen Leben in kleinsten Gemeinden werden pointiert, aber auch objektiv beschrieben. Die Verklärung findet im Kopf des sympathischen ich- Erzählers statt. Der Leser ist umgehend mit den Figuren vertraut und wenn Dale Bailey die Pointe herauszögernd, dann tut er im Gegensatz zu Filmen wie „Super 8“ auch gut daran. Aufmerksame Leser ahnen relativ schnell die einzige Möglichkeit, wie diese tragische Geschichte enden kann und trotzdem liest man mit wachsendem Vergnügen diese persönliche Zeitreise in eine heute fast in Vergessenheit geratene Zeit.
In jeder nicht so starken Ausgabe wäre Bruce McAllisters Text „Canticle of the Beasts“ – teilweise eine Anspielung auf Walter Miller jr. berühmten Roman – qualitativ aufgefallen. So wirkt sie vor allem im Vergleich zu den erwachsene Themen auf eine besondere Art abhandelnden Geschichten wie „The Bluehole“ oder „Systems of Romance“ zu eindimensional, zu bizarr humorvoll und am Ende zu wenig nachhaltig abgeschlossen. Ein vierzehnjähriger Junge soll in einem fiktiven Mittelalter mit Vampiren zusammen mit dem Kinderpapst Bonifacio und der Inkarnation der Madonna der Provence das Heilige Wasser an die Front bringen. In erster Linie geht es um die Freundschaft drei sehr unterschiedlicher Menschen, deren Hintergrund rudimentär entwickelt worden ist. Zusammengefasst ein unterhaltsamer Text mit einigen Anspielungen, aber keine restlos befriedigende Geschichte.
Zu den immer wieder auftauchenden sehr kurzen Texten gehört Alexandra Duncans „Directions for Crossing Troll Bridge“. Fünf Hinweise, von denen nicht alle originell oder lustig sind, reichen eher wie ein Gedicht als eine sehr kurze Kurzgeschichte. Der vor kurzem verstorbene Lucius Shepard schreibt über seine Erfahrungen mit dem ersten „Hobbitt“ Film und schwört, die nächsten Teile nicht mehr anzuschauen. Eine inzwischen auf ganz andere Art und Weise eingetretene Prophezeiung. Trotzdem ist Shepards Abrechnung mit Peter Jackson und damit auch Hollywood nicht von der Hand zu weisen. Daneben finden sich die üblichen Buchkolumnen von Charles de Lint und Elizabeth Hand, wobei inzwischen insbesondere bei de Lint eine kritische Reflektion der vorgestellten Bücher gänzlich fehlt und der Text eher an Plaudereien am Lagerfeuer erinnert.
Zusammengefasst handelt es sich bei der „May/ June 2013“ Ausgabe um eine der stärksten Nummern seit vielen Jahren. Erwachsene Themen interessant abgehandelt mit sehr souveränen Autoren, wobei die kürzeren Texte eher zu den schwächeren Beiträgen gehören. Keine sexuell aufreizenden oder anregenden Geschichten, aber das Thema Liebe in sehr verschiedenen Variationen – von jugendlicher, auch latent homosexueller Anziehung bis zum Generationensex – bildet einen ausgesprochen zufriedenstellenden Rahmen dieser von einem eher unscheinbaren und nicht zu „Wormwood is also a Star“ gehörenden Titelbild eingeleiteten Ausgabe.