Du sollst vergessen

Andreas Schäfer

Der Titel von Andreas Schäfers Roman ist keine Drohung im Thrillerformat, sondern die Aussage ist Programm Professor Udo Vorsters. Es ist der zweite Roman Andreas Schäfers, der als Cheflektor in einem Hamburger Verlagshaus arbeitet. Neben seiner Dissertation über Max Frisch erschien 2013 „Tabu. Sehnsucht nach einer übermächtigen Frau“.

 Bevor Professor Udo Vorster die Psychoanalyse auf den Kopf stellen kann, präsentiert Andreas Schäfer eine klassische Behandlung, bei welcher der Psychoanalytiker nach versteckten oder vergessenen Erinnerungen sucht, welche momentan einen Einfluss auf den Gesundheitszustand der Patienten haben könnten. Der Konjunktiv ist angebracht, weil sich die Psychoanalyse immer auf einem schmalen Grat bewegt. Nicht selten sind diese angeblich vergessenen Erinnerungen weder relevant noch haben sie Einfluss auf die Gegenwart. Es gibt immer wieder Fälle, in denen aufgrund der Lehre nach Traumata gesucht wird , die es erstens nicht gibt oder zweitens viel schlimmer von körperlichen, durch die Schulmedizin bislang nicht entdeckte Leiden hervorgerufen worden sind. Wie die Seele ist in diesen Fällen der Körper krank. Die gegenseitige Beeinflussung und darüber hinausgehend auch die Tatsache, das die wenigsten Psychoanalysten gleichzeitig eine medizinische Ausbildung haben, stellt viele Aspekte der Psychoanalyse generell in Frage.

 Professor Udo Vorster will mit seiner These des „Lebens im Augenblick“ und jeder Form von Vergangenheitsbewältigung seinen eigenen „Sektor“ revolutionieren und eine neue Methode erschaffen, welche den Menschen den Blick in die eigene Vergangenheit versperrt und sie aus dem Hier/ Jetzt in eine bessere Zukunft schauen lässt.

 Genau wie das Suchen nach Traumata nicht immer Zielfördernd ist, hat Udo Vorsters hier präsentierte Theorie seine Schwächen. Ob ein Mensch will oder nicht, besteht sein Leben aus Erfahrungen, die er in der Vergangenheit gemacht hat und deren Handeln die Zukunft unmittelbar oder mittelbar beeinflussen. An diesem Punkt prallt die Kritik vor allem an Professor  Udo Vorsters Ego ab. Andreas Schäfer bemüht sich, dessen Theorien überzeugend vor dem Leser darzulegen. Dazu bedarf es nicht nur einer inhaltlichen Ignoranz der Vergangenheit, sondern eine vollständige Konzentration auf die Gegenwart. Auch  stilistisch. Der Roman ist expressiv in der Gegenwartszeitebene geschrieben. Die einzelnen Handlungsstränge sind dadurch nicht besser zu verfolgen, sie wirken viel mehr zusammengedrängt. Hinzu kommt ein getriebener, ein experimenteller Stil, der nicht selten die ganze Geschichte wie ein künstliches Konstrukt, eine abstrakte Diskussion um die Quadratur des Kreises erscheinen lässt. Der Leser muss zwangsläufig dem Geschehen auf Augenhöhe verfolgen. Wie stark diese Fokussierung den eigentlichen Handlungsstrom beeinflusst und einengt, zeigt sich nach dem dynamischen Auftakt im folgenden Abschnitt, welche den Aufstieg Professor Udo Vorster zu einem Medienstar zeigt. Ohne Frage ist er eine charismatische Persönlichkeit, ein guter Verkäufer der eigenen Ansichten. Beweisen muss er weder seinem Publikum noch sich selbst etwas. Denn die Psychoanalyse kennt keine konkreten Ergebnisse. Nicht selten ist schon der Weg das Ziel. Und hier zeigt sich die erste Schwierigkeit, denn seine Patienten reisen im Grunde nicht. Die Gegenwart, das Vergessen der Vergangenheit ist das Ziel. Die Zukunft unbestimmt, sie entsteht quasi im Voranschreiten.

 Natürlich ist es eine literarische Konstruktion, vielleicht auch blanke Ironie, wenn der rasante gesellschaftliche und auch monetäre Aufstieg des neuen Lieblings der oberflächlichen Medien ausgerechnet von einem Detail aus der eigenen Vergangenheit gebremst wird. So sehr Udo Vorster auch selbst in die Gegenwart schaut und die dunklen Schatten der eigenen Vergangenheit nicht nur gedanklich, sondern auch für die Öffentlichkeit hinter sich gelassen hat, um so schwerer fällt es ihm, sie gegenüber neugierigen Dritten zu verstecken. Ignoranz im Gleichklang der eigenen Lehre funktioniert nur begrenzt.

 Hier liegt vielleicht auch die größte Schwäche des Romans, denn Andreas Schaefer versucht sprachgewaltig etwas zu etablieren, was schon im Kleinen nicht funktionieren kann. Der Professor ist das klassische, aber auch typische Beispiel. Damit er sich zumindest in der Theorie rehabilitieren kann, müsste er sich diesen brisanten Details der eigenen Vergangenheit stellen und damit den Pfad der eigenen Lehre verlassen. Natürlich kann ein Leser argumentieren, dass Professor Udo Vorster kein Patient ist, der mittels dieser neuen Art der Psychoanalyse geheilt werden soll. Er ist Vertreter dieser neuen Therapie und damit ein Netrum. Aber an Udo Vorster etabliert Andreas Schäfer eben auch spannungstechnisch notwendig ein Exempel, damit der Plot funktionieren kann.

 Indirekt wird auch Professor Udo Vorsters von Beginn eher konstruiert erscheinende These demontiert. Selbst ein klassisches Zielpublikum, das Psychoanalyse vor allem in Form von potentiellen Psychothrillern liebt, wird irgendwann aus dem sich teilweise doch ein wenig phlegmatisch bewegenden Plot an den Rand gedrängt.

 So expressiv, so experimentell auch die Sprache, die Form der Erzählung ist, so sehr leidet die Geschichte unter den höchstens funktionalen und eindimensionalen Protagonisten. Es ist für einen Autoren mutig und in diesem Fall sogar nachvollziehbar, wenn er auf einen unsympathischen und über weite Strecken auch unzuverlässigen indirekten Erzähler zurückgreift, aus dessen subjektiver Perspektive das Geschehen abläuft. Dadurch baut Andreas Schäfer eine Art Mauer zwischen den Thesen Udo Vorsters und seinen Lesern auf. Aber irgendwann braucht der Leser auch Bezugspersonen und die liefert die Geschichte vor allem eher eindimensional. Teilweise frustrierend klischeehaft. Die erste Sitzung mit einer klassische Psychoanalyse sei hier noch einmal extra erwähnt.  Natürlich kommt es auf die Position des Lesers und seine Stellung zu der Psychoanalyse per se an. Aber ein neutraler Betrachter wird sich eher bestätigt fühlen als das er nach der beschriebenen Art der Sitzung überzeugt ist, dass wie bei einem klassischen Arzt die Heilung im Vordergrund steht. Viel mehr wird versucht, eine seelische Belastung zu finden, notfalls zu etablieren. Es gibt ausreichend positive Erfahrungen mit der klassische Psychoanalyse, aber der Leser hat an keiner Stelle des Romans wirklich das Gefühl, als wenn Andreas Schäfer diese Thesen aus ganzem Herzen teilt.

 Auf der anderen Seite verzichtet der Autor auf eine weitere klassische Gurugeschichte, die Rainer Erler schon vor vielen Jahrzehnten in Kinosatire „Ein Guru kommt“ schon prägnant und pointiert aufs Korn genommen hat. Wie seine Figuren eine Distanz zum Leser aufweisen, distanziert sich Andreas Schäfer auch in der zweiten Hälfte des Buches unbewusst von seiner charismatischen Figur.  Der Autor durchlöchert nicht die von ihm ja selbst für Professor Vorster aufgestellten Thesen, er rückt sie aber ein wenig mehr in den Hintergrund.

 „Du sollest vergessen“ ist ein Roman. Das machen der Autor und die beiden Herausgeber von Beginn auch auf dem schönen , eindrucksvollen Titelbild deutlich. Der Plot zeigt eine seltsame, bizarre These auf, die aus der Distanz betrachtet erstens nicht funktionieren kann und zweitens einen Haufen von Egomannen hervorbringt, die sich weigern, aus der eigenen Vergangenheit mit ihren Triumphen und Tragödien zu lernen, weil es auf diese Art zumindest in er Theorie einfacher ist, durchs Leben zu schreiten. Je mehr sich der Leser von dieser Idee einfangen lässt, umso besser funktioniert auf der zwischenmenschlichen, persönlichen Ebene der Plot. Dazu ist Andreas Schäfers Stil auch zu suggestiv, die Geschichte mit ihrer Mischung aus neuen Theorien, aber bekannten inhaltlichen Versatzstücken aufgebaut. Wer der Psychoanalyse per se kritisch gegenübersteht, wird in seinem Glauben eher bestärkt. „Du sollst vergessen“ ist unabhängig von den angesprochenen Schwächen eine provokante Schrift, welche Türen öffnet oder Vorurteile bestätigt. Der Leser muss selbst entscheiden, auf welche Seite der unsichtbaren Linie er seinen Stuhl stehlen möchte. Danach richtet sich auf das Urteil über den Roman, das zwischen wunderbar/ provokant und theoretisch langweilig ausfallen kann. Eine Mitte gibt es wie bei Udo Vorsters Thesen nicht.

DU SOLLST VERGESSEN (Zwischen den Stühlen (ZdS))

  • Herausgeber ‏ : ‎ p.machinery; 1. Edition (15. Dezember 2022)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 356 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 395765310X
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3957653109