Nova 32

Michael Iwoleit und Michael Haitel (Hrsg.)

Im Vorwort geht Michael Iwoleit auf die Bestrebungen ein, Nova wieder mehr zu internationalisieren und die kleine Schwester Inter- Nova wieder zu beleben. Das Vorwort wirkt nach dem provokanten Titelbild- eine Auftragsarbeit – erstaunlich zurückhaltend.

 Auch wenn einige der behandelten Themen wie Zeitreise oder Generationenraumschiffe bekannt sind, versuchen die Autoren, dem Sujet neue Facetten oder Aspekte zu entlocken. Thomas Grüters „Auf eigene Gefahr“ zeigt die Gefährlichkeit der Zeitreise per se an. Es ist eine Einbahnstraße, naive vermögende Menschen werden angelockt und in der Vergangenheit ohne ihr Wissen entsorgt. Die Pointe deutet an, dass es tatsächlich Zeitreise geben könnte. Allerdings ist der Plot zu pragmatisch entwickelt und ignoriert die Tatsache, dass sich das Verschwinden von Menschen in der Vergangenheit eigentlich rum sprechen müsste. Die Etablierung einer Zeitpolizei mit lokalen „Vertretern“ spricht für eine Technik, welche das Versuchsstadion  hinter sich gelassen hat.

 „Geliebte Savona“ von Karsten Lorenz zeigt, dass die künstlichen Intelligenzen an Bord von Generationenraumschiffen einen eigenen Willen entwickeln und ihre persönlichen Pläne zu Lasten der Besatzung umsetzen können. Warum dazu allerdings ein Gespräch mit dem Kommandanten notwendig ist, entschließt sich dem Leser nicht. In dieser Hinsicht dient der Plot eher der Quadratur des Kreises und soll dem neutralen Beobachter aufzeigen, dass am Ende aus Sicht der künstlichen Intelligenz alles nach ihrem Plan läuft.

 Victoria Sack hat in den letzten „Nova“ Ausgaben Kurzgeschichten illustriert. Jetzt präsentiert sie mit „Obsoleszenz“ ihre erste Kurzgeschichte. In einer fernen Zukunft werden auch die einfachen Blue Collar Jobs durch Androiden überflüssig gemacht und die Menschen entlassen. Bis es zu einer Revolution des Proletariats kommt. Allerdings haben die Androiden der nächsten Generation schon mehr menschliche Positionen übernommen, als es die Öffentlichkeit wahrhaben möchte. Um sich das Thema der menschlichen Androiden zu nähern, ist die Geschichte zu kurz und die Charaktere sind zu oberflächlich entwickelt. Der historische Verweis auf die ersten Maschinenstürmer kommt dem Plot wohl am Nächsten. Die Pointe ist nicht überraschend und der Verweis auf  „Tyrell“ ist vielleicht eine Anspielung auf Philip K. Dicks „Träumen Roboter von elektrischen Schafen“.

 Ricky Wilhelmsons „Planetare Verteidigung“ ist eine weitere schwache Geschichte. Da hilft auch nicht der Bezug zu den Satirikern des Genres. Eine Ruhrpottfrau, ihr Dackel und eine außerirdische Expedition... nach wenigen Sätzen ahnt der Leser das Ende der Geschichte.

 „Im Tolou“ von Wolf Welling setzt sich auch mit dem Thema Invasion durch die ANDEREN auseinander. Die politische Bezüge auf die Unterdrückungspolitik Chinas werden klar und deutlich herausgearbeitet. Nur sind es dieses Mal die Chinesen, die ihr Haupt vor den Fremden aus dem All beugten, um ihnen Lebensraum gegen vordergründig Technik auf der Erde einzuräumen. Der Protagonist lebt nach Verbüßen seiner Haft im Tolou, einem gigantischen Wohnkomplex an einem unbekannten Ort, wo er unter ständiger Überwachung Anfechtungen gegen Urteile bearbeiten muss. Die Arbeit ist stupide, die Telefonverbindung zu den Vorgesetzten eher eine Farce. Alles geht seinen streng geordneten Gang, bis der Protagonist eine besondere Akte auf den imaginären Schreibtisch bekommt. Das ist auch der Moment, in dem diese zu Beginn interessante, durchaus kritische Geschichte kurz vor dem hektischen offenen Ende auseinanderfällt. Die Ursache und Wirkung passen nicht wirklich zueinander. Sollte der Protagonist die Kettenreaktion ausgelöst haben, wirkt sie überzogen. Es wäre wahrscheinlich auch nur ein Pyrrhussieg, genau wie sein Handeln emotional nachvollziehbar, aber auch unlogisch ist. Aber diesen Ausbruch kann der Leser noch akzeptieren, alleine es bleiben am Ende zu viele Fragen offen. Das hat weniger mit dem offenen Ende zu tun, sondern eher mit der Tatsache, dass Wolf Welling anscheinend selbst keine Vorstellung hatte, wie er wirklich den anfänglich sehr gut entwickelten Hintergrund verändern wollte.

 „Nicht von dieser Welt“ aus der Feder Aiki Miras zeigt, wie man bekannte Versatzstücke der Science Fiction interessant präsentieren kann. Vater und Sohn leben mit einer Androidenhelferin isoliert im von Sturmfluten bedrohten Norddeutschland. Die Mutter als Astronautin und anscheinend auch Raumsoldatin ist unterwegs zum Mars. Der Sohn vermisst seine Mutter schrecklich, der Vater flüchtet sich in die Konstruktion eines Onlinespieles und die Androidin dient als Sündenbock dieser emotional inzwischen unterkühlt lebenden kleinen Familie. Es bedarf eines Unglücks und einer spektakulären Rettung, damit Vater und Sohn ihr jeweiliges „Fehlverhalten“ einsehen und eine kommunikative Brücke zueinander finden. Auch wenn der Hintergrund mit der mangelnden Versorgung; der Notwendigkeit, beim Abendessen zu improvisieren und dem inzwischen kochendheiß werdenden Kalten Krieg auf den ersten Blick wie aufgetürmte Klischees erscheinen, lebt die Geschichte nicht nur von den dreidimensional, aber nicht grundlegend sympathisch entwickelten Protagonisten, die Entscheidungen treffen müssen. Aiki Mira gibt keine Antworten, aber sie zeigt Vater und Sohn einen Weg, vielleicht auch nur eine Brücke auf, um die emotionale Kälte zu überwinden. Auch diese Vorgehensweise ist grundlegend nicht originell oder innovativ, aber Aiki Mira ist inzwischen eine derartig gute Autorin, das sie einzelne kleinere Schwächen oder Vertrautheiten mittels der Führung ihrer Protagonisten und der Erschaffung einer typisch spröden norddeutschen Atmosphäre gut überdecken kann. Vor allem konzentriert sie sich nicht auf die Pointe, sondern wählt ganz bewusst einen im Leben der Kinder wichtigen Moment, um ihre Botschaft vom „Freilassen“ und doch irgendwie bei sich behalten nachvollziehbar, aber nicht kitschig zu fabulieren. 

 „This War is Over“ von Benjamin Hirth beschreibt nach einhundert Jahren der Freundschaft einen Krieg zwischen Frankreich und Deutschland, wobei die deutschen Flugzeuge anscheinend nur durch die eisernen Kreuze charakterisiert werden. Der Protagonist ist ein deutscher Wissenschaftler, der zu einem Symposium nach Frankreich eingeladen worden ist. Bei Kriegesausbruch wird er verhaftet und durch einen verirrten Panzer aus seinem Gefängnis befreit. Alle anderen Gefangenen sind verschwunden. Paris ist verwüstet, aber er findet keine Leichenberge. Er kann sich nicht erklären, was in den letzten vierzehn Tagen passiert ist. Auf seinem Fluchtweg trifft er auf eine Linguisten – sie beherrscht 58 Sprachen – und ihren Sohn. Anscheinend ist ein Virus freigelassen worden, dass gezielt Menschen mit einer bestimmten Muttersprache angreifen und töten kann. Aus Furcht kam es schließlich zum Kriegsausbruch gegen einen nicht definierten Feind. Auch wenn nicht alle Ideen vollständig wie überzeugend ausgearbeitet worden sind – in Frankreich müsste es viel mehr Überlebende geben, da es sich um einen Schmelztiegel von Nationen handelt – oder die Leichen nicht innerhalb von vierzehn Tagen komplett verschwunden sind, was wiederum neben dem Gestank eine Plage von Ratten auf den Plan gerufen hätte, ist die Ausgangsbasis interessiert. Benjamin Hirth nimmt sich viel Zeit, nicht nur die Wirkungsweise des Virus zu definieren, sondern dessen Folgen zu extrapolieren. Am Ende erscheint die Botschaft, dass der Krieg vorbei ist, fast zynisch. Sie kommt nach einer dramatischen Szene aus dem Nichts. Weder der Leser noch der Protagonist können den Worten Glauben schenken, aber sie verabschieden den Leser aktiv aus der Geschichte. Leider nicht zum ersten Mal in dieser Sammlung. Über weite Strecken wie Frank W. Haubolds anschließend folgende Novelle eine der besseren Ausgangsbasen in dieser Sammlung, die auf den letzten Seiten allerdings sehr bemüht und weniger konsequent inhaltlich nach einem Ende sucht.  

 Die längste Geschichte stammt aus der Feder Frank W. Haubolds. “Das Mädchen aus dem Jenseits“ ist von Hans Christian Andersons “Die kleine Meerjungfrau“ inspiriert und in der Einleitung spricht der Autor auch aus, das vor allem Heldenepen, Sagen, Märchen und Lyrik zu seinen Kurzgeschichten inspirieren. Frank W. Haubold fügt insbesondere zu Beginn seiner Novelle einige interessante Facetten hinzu und scheint lange Zeit den bekannten Märchenstoff nicht nur modernisieren, sondern vor allem auch komplexer interpretieren zu wollen. So gibt es keinen Prinz, sondern einen Priester, der zusammen mit seinem inzwischen verstorbenen Kameraden, an Bord eines Klein-Raumschiffs in Bereiche aufbricht, die erstens noch kein Mensch gesehen hat und die zweitens gänzlich andere Gefahren bergen als die Weiten des Meeres.  Die kleine Meerjungfrau Lalena kommuniziert auf ihre Art mit dem Meer. Ihr Planet ist ein friedliches Paradies. Technik ist allerdings bekannt und am Himmel gibt es ein Auge, ein seit vielen Jahrhunderten verlassenes orbitales Observatorium. Lalena will zu den Sternen. Sie will nicht unbedingt ihren Traumprinzen finden, aber nach einer Begegnung mit dessen Schiff und dem einzigen männlichen Passagier im Tiefschlaf, ist es um sie geschehen. Sie will ihre Heimat hinter sich lassen und mit dem Fremden zusammenleben. Das Meer als künstliche Intelligenz ist ein weiser Ratgeber, der Lalena nicht nur auf die besondere Beziehung zu „Gott“ des Mannes hinweist, sondern notfalls auch ein Mittelchen mitgibt, mit dem er seine Vergangenheit vergessen und in Zukunft glücklich mit ihr leben könnte.

Diese kurze Zusammenfassung macht deutlich, dass Frank W. Haubold auf die naiven Passagen in Hans Christian Andersens Märchen reagiert und  neue, andere Antworten gesucht hat. Über Zweidrittel der Geschichte liest sich die stilistisch wieder anspruchsvolle Novelle spannend, interessant und emotional nicht den Rand des Kitsches streifend überzeugend. Die Protagonisten mit ihren unterschiedlichen Positionen sind gut herausgearbeitet und der Plot fließt überzeugend dahin. Im letzten Drittel fällt die Geschichte allerdings zusammen. Ein Aspekt erweist sich weniger als Zufall sondern Bestandteil eines großes Plans, dessen Wurzeln der Leser nicht kennenlernt. Die Konflikt zwischen dem Glauben an Gott und der menschlichen Begierde wird zu schnell abgehandelt und der Leser hat das Gefühl, als wenn Frank W. Haubold sich nicht die Zeit und vor allem hinsichtlich des Umfangs der Geschichte auch den Raum nehmen wollte, um diese verschiedenen Konfliktpunkte nuanciert, aber vor allem auch für beide Seiten überzeugend abzuarbeiten. Die Schwäche schleichen sich immer wieder in das inzwischen umfangreiche Werk des Routiniers, so dass am Ende der Lektüre nicht nur unnötig zu viele Fragen offen bleiben, sondern das Ausgangspotential der Novelle buchstäblich verschenkt erscheint.

 Michael Iwoleit hat die Kurzgeschichte Gedächtnis“ des Kanadiers Brandon Crilly übersetzt. Ein kriegsversehrter Veteran flieht zum Unwillen seiner Tochter immer wieder in die virtuellen Träume, in denen er mit seinen wahrscheinlich inzwischen toten Kameraden während des Krieges Zeit verbringt. Für die Tochter ist es schwer, das besondere Band zwischen den Kriegskameraden selbst in einer Fiktion nachzuvollziehen. Aber diese Flucht aus der Realität ist nur eine der Bürden, welche die in dem kurzen Text erstaunlich dreidimensional und zugänglich gezeichneten Figuren mit sich tragen. Brandon Crilly verzichtet auf Antworten. Wie seine gebrochenen Figuren kennt er die Antworten nicht. Er urteilt auch nicht, sondern stellt die Situation aus der Distanz des Erzählers emotional überzeugend, aber nicht kitschig da.

 Drei Nachrufe bilden die Eckpfeiler des sekundärliterarischen Teils dieser „Nova“ Ausgabe. Hans Esselborn, Franz Rottensteiner – allerdings nicht extra für diese Ausgabe geschrieben – und Dietmar Dath schreiben über den 2022 verstorbenen vielschichtigen Künstler. Dabei präsentiert nur Dietmar Dath aus seiner persönliche, subjektiven Sicht neue Fakten, während sowohl Hans Esselborn als auch Franz Rottensteiner auf Franke beachtliche Erfolge eingehen und die beiden Texte sich zu sehr überschneiden. Eine persönlichere Note hätte der Österreicher verdient.

 Michael Iwoleit versucht in seinem Essay „Aber ich habe geliebt!...“ James Tiptree jr. und die weltbeste Science Fiction Story laut eigener Ausgabe Unmögliches. Es ist immer schwer, etwas mit absolutistischen Begriffen einzuordnen. Weltbeste/ Weltbester ist ein Begriff, dessen Gewicht bis an den Mittelpunkt der Erde reicht. Aber Michael Iwoleit macht zu Beginn seines lesenswerten Essays deutlich, dass eine Einordnung der besten Texte, Filme oder Musikstücke erstens nicht für die Ewigkeit ist und zweitens sich auch Reihenfolgen ändern können. Vor allem begründet er seine Auswahl – es handelt es sich um ein Kopf-an-Kopf Rennen zweier Tiptree Geschichten – nicht nur, er ehrt eine Autorin, deren Name in den letztern Jahren in Verruf geraten ist. Der nach ihr benannte Preis wurde genau wie der John W: Campbell Award umbenannt, weil es in den Leben der beiden für die Entwicklung der Science Fiction wichtigen Persönlichkeiten entweder charakterliche Schwäche oder bei James Tiptree jr. durch den Selbstmordpakt mit ihrem Mann möglicherweise fragwürdige Entscheidungen gegeben hat. Michael Iwoleit urteilt nicht, er beurteilt die vorliegende literarische Leistung und setzt sie nicht nur in einen Kontext mit anderen postapokalyptischen Science Fiction Storys, sondern schaut über deren Rand hinaus und beurteilt sie als eine genreunabhängige Kurzgeschichte. Auf wenigen Seiten fasst James Tiptree jr. ein ganzes Leben zusammen und kommt zu eine zynischen, fatalistischen Fazit. Die Pointe ist für das Genre nicht unbedingt neu, aber sowohl der Aufbau der Geschichte wie auch die dreidimensionale Zeichnung des tragischen Protagonisten heben den Texte aus der Masse heraus. Wahrscheinlich lässt sich von allen Seiten trefflich streiten, ob sich nicht doch jemand besseres – eine andere Geschichte – findet, aber Michael Iwoleit hat expressiv und vor allem ohne dogmatische Scheuklappen eine Markierung gesetzt, an welcher sich die obligatorischen Kritiker reiben können, es wird ihnen aber schwer fallen, dagegen an zu argumentieren.

 Die Geschichten sind wieder von Künstlern wie Michael Wittmann, Uli Bendick, Klaus Brandt, Christian Günther oder Detlef Klewer illustriert worden. Victoria Sack ist als Graphikerin und Autorin vertreten. Die Bilder sind dieses Mal der stärkere Teil der „Nova“ Ausgabe. Sie versuchen die Stimmungen der Geschichten in satten Farben wiederzugeben.

 „Nova“ 32 ist die bislang schwächste Ausgabe unter Michael Haitels p.maschinery Logo. Nur eine Geschichte – von Aiki Mira – kann durchgehend überzeugend. Nicht selten werden die bekannten Ausgangsideen zu wenig überraschend oder originell extrapoliert oder sehr gute Prämissen zu hektisch abgeschlossen. Viele der Stoffe eigenen sich eher für Novellen. Insbesondere „Im Tolou“ und „This war is Over“ seien hier stellvertretend genannt, während die einzige Novelle von Frank W. Haubold wahrscheinlich als Kurzroman sein volles Potential entfaltet hätte. Durch die hektischen und stellenweise auch konstruierten Enden wird die Lektüre herausfordernd, manchmal auch ein wenig frustrierend. Aber generell präsentiert „Nova“ weiteren im direkten Vergleich zu den thematisch auf Schwerpunkten ausgelegten „Exodus“ Ausgaben eine Handvoll mindestens stilistisch lesenswerter Kurzgeschichten, begleitet von sehr guten Graphiken und höchstens eine Anzahl von Gedankenexperimenten, bei denen die Baumaterialien ein wenig knapp geworden sind.    .  

NOVA 32
Magazin für spekulative Literatur
p.machinery, Winnert, Januar 2023, 228 Seiten, Paperback
ISSN 1864 2829
ISBN 978 3 95765 312 3 – EUR 16,90 (DE)
E-Book: ISBN 978 3 95765 794 7 – EUR 5,49 (DE)