Der mehrfache Heldentod

Josef Friedrich Ofner

Mit einem ausführlichen Kommentar zu „Zeitreise- Erzählungen“ von Lars Dangel versehen publiziert der Verlag Dieter von Reeken  die 1921 in Episoden veröffentlichte Zeitreisenovelle Josef Friedrich Ofners zum ersten Mal als eigenständigen Band. Ursprünglich erschien die Geschichte in den Ausgaben 178 bis 199 der „Deutschösterreichischen Tages-Zeitung“, dem unabhängigen Blatt für völkische Politik.

Der 1877 in Deggendorf, Bayern, geborene Ofner wuchs bei einer Tante in Österreich nach dem Tod seiner Eltern auf. Wie seine Protagonisten sehnt er sich aber nach einer Art Großdeutschland. Noch nicht in Form der Nazi, die später im Nachbarland die „Deutschösterreichische Tageszeitung“ zu ihrem Sprachrohr machen sollten, sondern eher basierend auf den historischen Wurzeln einer einigen Brüderschaft gegen vor allem die Barbaren aus dem Osten – die Mongolen -, aber auch die Türken. In seinen verklärten Ansichten vermischen sich Sehnsucht nach einer Zeit, die es in dieser Form niemals gegeben hat und durchaus Kritik an den Verhältnissen nach dem Ersten Weltkrieg. Im Ersten Weltkrieg diente er als Feldjäger und schrieb Gedichte. Später verfasste er neben der Arbeit insgesamt fünf Romane, davon vier Krimis. Dazu kamen eine Reihe von Gedichten und Artikeln. Seine Kollegen versuchte er, von dem deutsch-völkischen Gedanken zu begeistern, bevor er Anfang 1938 – zwei Monate vor dem Anschluss seines Österreichs an das Nazideutschland – verstorben ist.

Lars Dangel geht in seinem Essay auf unterschiedliche Arten der Zeitreise ein. Ein Flügel sind die Epigonen H.G. Wells, die weniger naturwissenschaftliche Grundlagen als technische Spielereien nutzen, um ihre Protagonisten in die Vergangenheit oder Zukunft zu schicken. Die zweite Fraktion sind Geschichten aus dem Bereich der „Phantasie“, in denen die Zeitreise meistens aus der Vergangenheit in die Gegenwart mittels Zaubertränken oder archaischer Kryptologie funktioniert. Josef Friedrich Offners Roman steht zwischen diesen beiden Lagern.

Lange Zeit dominierte eine leicht kitschige Liebesgeschichte. Ludwig Standbeck hat lange Zeit kein Glück in der Liebe. Er schwärmt für ein junges Mädchen, das aber anscheinend an ein Phantom vergeben ist.  Harald Bittrich.

Jahre später wird Ludwig diesen schönen Mann bei einem besonderen Wettbewerb kennenlernen. Widerwillig nimmt er die Freundschaft an. Der Roman trägt in diesem Abschnitt durchaus homoerotische Züge. Die beiden jungen Männer aus der Mittelschicht kommen gut miteinander klar. Harald Bittrich hat geerbt, Ludwig Standbeck arbeitet in einem Kontor. Frauen spielen zu diesem Zeitpunkt keine Rolle mehr. Bittrich fühlt sich für eine Liebesbeziehung zu unreif, zu jung, Standbeck dagegen hat den Frauen nach der Enttäuschung mit seiner Jugendliebe erst einmal abgeschworen.

Harald Bittrich beginnt an die seltsame Geschichte eines Mannes zu erzählen, der immer wieder auftaucht, wenn ihm selbst auf der kleinsten Ebene etwas Heldenhaftes gelungen ist. Die Mann wirkt wie der ewige Junge, der Wanderer zwischen den Welten. Er sieht in Bittrich das Edelste seiner Kinder und schenkt ihm einen grünen Mantel und ein Elixier. Mittels zehn Tropfen kann er sich in den Mantel gewickelt in der Zeit zurückversetzen. Er muss nur an die entsprechende Epoche denken.

Diese Art der „Zeitreise“ ohne technische Hilfsmittel ist pure Phantasie. Aber Josef Friedrich Offner beginnt die Geschichte mit den klassischen Themen dieses Subgenres geschickt zu verbinden. Auch H.G. Wells Zeitreisender musste erkennen, dass er zwar durch die Zeit, aber nicht unbedingt durch den Raum reisen kann. Am Ende der Geschichte versetzt er seine Zeitmaschine um mehrere Meter, um wieder zu entschwinden. Auch Bittrich lernt, dass es auf den Ort ankommt, an dem er landen möchte.

Aber Bittrich ist ein Mann mit einer Vision. Im Gegensatz zu den Forschern, den Humoristen oder einfachen Abenteuern, welche die zahllosen Geschichten auch der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg bevölkern, will Bittrich an deutschen Wesen die Welt genesen lassen. Aktiv will er bei verschiedenen Schlachten eingreifen und somit eine andere, bessere Gegenwart erschaffen und den Europäern – im Laufe der Handlung wird die These des Deutschtums an einer Stelle relativiert – Schutz vor den wilden Horden aus den weiten Steppen oder dem türkischen Reich schenken.

Ein Novum ist, dass er nur im Augenblick seines Todes in die Gegenwart wieder zurückreisen kann. Auf diesen Aspekt der Reise bezieht sich der Titel der Geschichte „Der mehrfache Heldentod“. Bittrich muss allerdings nicht auf dem Schlachtfeld sterben. Einfaches Ertrinken in einem Seitenarm der Donau reicht auch.

Bittrich verabschiedet sich von seinem Freund Standbeck und bittet ihn, auf seine Wohnung und auch auf seine platonische Jugendliebe aufzupassen. Aus den beiden wird schließlich ein Paar. Erst Jahre später wird Strandbeck Bittrich wiederfinden. In einem Feldlazarett, schwer verwundend und im Sterben. Seine letzte Heldentag ist die Eroberung eines Maschinengewehrnests.

Bittrich beginnt Standbeck von der Zeit seines Verschwindens zu erzählen. Die erste Reise führte mit umfangreicher Vorbereitung nach Olmütz, wo er 1460 Jahre in der Vergangenheit mit der Bekämpfung der Hunnen beginnt. Bittrich ist sich ganz bewusst, dass er mit seinen Handlungen die Vergangenheit verändern und die Zukunft beeinflussen wird. Zahlreiche Point-of-Divergence hat er in Betracht gezogen, aber schließlich erschien ihm ein sehr früher Zeitpunkt am einfachsten. Mittels des Nibelungenlieds hat er sich sprachlich vorbereitet. Mit einem Gewehr, mehreren Pistolen, einem Fahrrad, Konservendosen, dem grünen Mantel und dem Elixier zieht er los.

Nicht nur diese, sondern auch die folgende Zeitreise wird Standbeck stellvertretend für den Leser auf Bittrichs Sterbebett erzählt. Es ist nicht gänzlich klar, ob diese Reisen wirklich stattgefunden haben. Mögliche Beweise finden sich in der aufgefundenen Literatur.

Wie bei Mark Twain ist die Hilfe Bittrichs in der Vergangenheit aber kein Selbstläufer. Ihm wird mit Misstrauen begegnet. Einmal kommt er zu spät. An einer anderen Stelle wäre er rechtzeitig zur Stelle und tötet auch einen Angreifer, aber dieser ist nicht alleine. Die Geschichte lässt sich nicht so leicht betrügen, wie Bittrich wenige Augenblicke später feststellen muss.

Auch eine Reise nach Italien hat für die Frau, die er in der Vergangenheit als jetzt Mann und nicht mehr Jüngling liebt, fatale Folgen, während Bittrich am Ende mit leeren Händen dasteht. Natürlich begeht er in der Vergangenheit wie die Gegenwart des Ersten Weltkriegs Heldentaten. Er wächst über sich hinaus, wobei selbst Standbeck im höheren Altern eingezogen in den Schützengräben zum Mann geworden ist. Aber die Vergangenheit entscheidend für die Gegenwart zu ändern, ist eine Aufgabe, die für einen Mann zu schwer ist. Am Ende hat Bittrich nur noch einen Wunsch: eine letzte Reise.

„Der mehrfache Heldentod“ ist eine patriotisch-vaterländische Geschichte.  Die Deutschtümelei erreicht noch nicht das Niveau der nationalsozialistischen Propaganda, aber Ofner verklärt sowohl in der Gegenwart als auch der Vergangenheit ausgesprochen viel.

Seine Protagonisten wachsen zwar an ihren Aufgaben, bleiben aber in ihren Rollenklischees gefangen. Erst auf dem Schlachtfeld zeigt sich ihre wahre Männerfreundschaft. Die Frauen der Gegenwart wirken spröde, selbst verliebt und sind von ihren Männern abhängig. Bittrichs einzig wahre Liebe bleibt durch die Kürze des Textes ein Schatten.

Die Zeitreisen mittels grünen Mantel und Elixier sind – wie angesprochen – aus dem Bereich der Fantasy, wobei Ofner alle „technischen“ Aspekte wie eine Orientierung im Raum; eine Anpassung an die jeweilige Zeit mittels besonderer Vorbereitungen und schließlich auch die fatalistische Erkenntnis, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings eher auf der kleinsten gemeinsamen Ebene Auswirkungen hat als das er das ganze Große verändert, runden den Text ab. Standbeck spürt, dass sich in seiner Gegenwart etwas verändert, alleine er kann es nicht in Worte fassen. Die Idee der Bildung von Parallelwelten wird erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein bestimmendes Element in der Zeitreise Science Fiction sein und damit die naturwissenschaftlichen Unmöglichkeiten umschiffen. Bei dieser Novelle spürt der Protagonist etwas instinktiv, er kann bis zur Begegnung mit dem sterbenden Bittrich nicht greifen. Aber auch hier gilt der Zweifel. Die Beweise sind rudimentär, werden im Epilog präsentiert. Ofner geht es weniger um die Frage, ob eine Reise stattgefunden hat, sondern welche auch politischen Auswirkungen auf die aus seiner Sicht unglückliche Gegenwart - sie haben könnten.

Vieles ist in der Geschichte patriotisch einseitig verklärt. Aber der Text wird im historischen Kontext und vor allem vor dem persönlichen Hintergrund des Verfassers gesehen , der mit seinen Ansichten kein Nationalsozialist gewesen ist. Die Idee des Zeitreisens, mehrfach den Heldentod zu sterben, damit ganze Generationen besser leben können, ist interessant. Vor allem weil nur der Tod die Zeitreise beendet. Robert Kraft hat mit seiner an jugendliche Leser gerichteten Serie „Aus dem Reich der Phantasie“ seinem im echten Leben behinderten Protagonisten die Möglichkeit gegeben, im schwierigen Augenblick der Traumreise einfach zu erwachen und damit der Gefahr zu entfliehen. Bittrich muss sterben. Auf dem Schlachtfeld, als alter Mann in seinem Bett, durch eine unglückliche Landung am falschen Ort. Einen anderen Weg gibt es nicht  und dieser Herausforderung muss er sich während der wenigen Reisen auch immer wieder stellen.

Offen bleibt, ob der seltsame Wanderer, der Bittrich als sein Kind bezeichnet, eine religiöse Erscheinung sein könnte, die Bittrich als seinen Sendboten ansieht. Dazu würde der Wunsch des Sterbenden nach einer letzten Reise passen. Aber Josef Friedrich Ofner baut diesen Subplot nicht weiter aus. „Der mehrfache Heldentod“ ist eine interessante, auch heute noch mit dem entsprechenden Abstand gegenüber den wirklich die Handlung unnötig dominierenden Beziehungsgeschichten Variation der frühen Zeitreisethematik, angereichert um die politischen Noten aus der Zeit zwischen den Weltkrieg. Geschrieben von einem inzwischen Österreicher, der tief in seinem Herzen kein Bayer, aber ein Deutscher geblieben ist.    

Lars Dangels Kommenar reicht weit über den vorliegenden Roman inklusive einer kleinen, kurzen Biographie hinaus. Im Abschnitt über das Zeitreisen stellt der Autor die verschiedenen Formen und ihre jeweiligen Auswirkungen gegenüber. Zeitreise ist für Lars Dangel immer ein aktiv initiierter Vorgang. Darum gehören die Schläfer der Kryonik nicht direkt in diesen Bereich, auch wenn der Autor dank seines umfangreichen Wissens ausreichend Beispiele für interessante Bücher findet. In den letzten beiden Abschnitten stellt Lars Dangel einige sehr bekannte, aber viele eher unbekannte Texte vor, die ausreichend Potential für eine neue Veröffentlichung bieten. Alleine der Streifzug durch die heute vergessenen Publikationen deutscher Autoren ist eine ideale Ergänzung des vorliegenden Büchleins.  Lars Dangel ist sich nicht zu schade, auch Franz Rottensteiner bei aus seiner Sicht falschen Inhaltsangaben oder Kommentaren zu widersprechen. Ein überzeugender Abschluss. 

“Der mehrfache Heldentod” ist ein weiterer utopischer Roman  eines deutschsprachigen Autoren aus der immer noch zu wenig erforschten Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, der diese wie immer sehr liebevoll gestaltete  Neuauflage unabhängig von einigen zeitbedingten inhaltlichen literarischen Schwächen verdient hat.  

Der mehrfache Heldentod: Phantastischer Roman

  • Publisher ‏ : ‎ Reeken, Dieter von; 1st edition (8 Sept. 2023)
  • Language ‏ : ‎ German
  • Perfect Paperback ‏ : ‎ 125 pages
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3945807840
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3945807842