Adam und Ada

Christian Kellermann

Mehr als einhundert Jahre nach Bernhard Kellermanns „Der Tunnel“  aus dem Jahr 1913 hat sich Christian Kellermann für seinen ersten Roman „Adam und Ada“ von diesem kritischen Meisterwerk der utopischen Literatur inspirieren lassen.   Christian Kellermanns Protagonisten Ada ist eine Nachfahrin des kühnen Architekten Adam Mac Allen –  der Adam aus dem Titel des Romans ist nicht der kühne Architekt -, der gegen alle Unbilden einen Tunnel zwischen Europa und den USA baut. Mit der Fertigstellung des Tunnels und der ersten Fahrt mit einem Zug voller Finanziers ist das gewaltige Bauwerk allerdings durch die rasante Entwicklung des Passagierflugverkehrs schon ad absurdum geführt. In Christian Kellermanns Zukunftsvision dient das Bauwerk unter dem Atlantik vor allem zum Transport von Massenwaren, wobei der Protektionismus auf beiden Seiten des gewaltigen Meeres dem freien Handel auch Steine in den Weg legt. Von der Brüchigkeit des Tunnels ganz zu schweigen. Der letzte Passagierzug durchquert den Tunnel am 01.  September 1939 kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, welcher schließlich zum Schließen beider Seiten führte.  Übriggeblieben sind die beiden gigantischen Geisterstädte auf beiden Seiten des Tunnels, welche Mac Allen führt seine Arbeiter gebaut hat. Übrig geblieben ist auch ein Teil des Tunnels von den Bermudas betretbar, der inzwischen einer anderen Funktion zugeführt worden ist. Geblieben sind die Grabsteine der tausende von Arbeitern, die beim Bau ums Leben gekommen sind. Und die Erinnerung an einen besessenen Mann, der sich schließlich prostituiert hat und wegen dieses Projekts die Tochter eines der reichsten Menschen der Welt heiratete, die sich in ihn verliebt hat, aber nur Freundschaft von ihm erwarten konnte.   

Christian Kellermann springt zwischen der Nebenhandlung mit dem Tunnelbau und schließlich auch dem persönlichen Schicksal Adam Mac Allens Familie und der Zukunft mit der alleinerziehenden Mutter Ada, ihren Forschungsprojekten und einer perfektionierten Zukunft mit einer Generalüberwachung durch „Adam“, eingepflanzt in die Körper der Probanten und für einen perfekten gesundheitlichen Zustand verantwortlich – hin her.

Christian Kellermann versucht – ohne den stakkatoartigen Stil Bernhard Kellermanns zu kopieren – die teilweise chaotischen Zustände auf der Tunnelbaustelle zu beschreiben. Im Gegensatz zu Bernhard Kellermanns Epos, dessen Schwerpunkt auf den ersten 500 bis 600 Kilometern von beiden Seiten des Atlantiks gelegen hat, setzt Christian Kellermann nur einzelne Höhepunkte und zeigt den Bau des Tunnels eher wie ein Alptraum aus tiefster Vergangenheit, aber nicht als vollständig entwickelte und zu Ende geführte Nebenhandlung. Mac Allen als Mann mit einer Vision zwischen der Verantwortung gegenüber seinen Arbeitern und dem Druck, den Geldgebern und dem aus dem Ruder laufenden Budget gerecht zu werden. Sein bester Freund Hobby, der anfänglich mehr Wert auf eine passende Frisur und schicke Kleidung legt, als auf die Planungsdetails. Während Adam Mac Allen ein aufgeklärter und modern denkender Mann ist, erscheint Hobby als Rassist, der die Farbigen von den Weißen in den Städten trennte. Nur in den Tiefen des Tunnels sind Farbige und Weiße gleichberechtigt und den gleichen Gefahren ausgesetzt.

Im Schatten des Untergangs der „Titanic“ und dem noch nicht fehlenden Glauben an die Unbezwingbarkeit des menschlichen Fortschritts ist Hobby von seinen Berechnungen überzeugt und möchte den Tunnel um die Kilometer vierhundertzwanzig eher weniger als mehr abstützen. Mit katastrophalen Folgen. Ada Großmutter, welche als Mac Allens Ehefrau mitleidet, ist das erste Verbindungsglied zu Ada. Auch wenn der Tunnel kommerziell scheiterte und Mac Allen sein ganzes Vermögen aufgrund der Aktienverluste zu verlieren drohte, ist die Familie generell nach Bauende vermögend, hat eine große Villa und muss sich um die Zukunft keine Sorgen machen. Ada profitiert immer noch von dem Familienvermögen, auch wenn sie selbst sehr viel Geld verdient. In der Gegenwart hinterfragt der Milliardär Sonderberg in einem Gespräch mit Ada ein wenig ironisch die Südroute, welche Mac Allen gewählt hat. Die tragische Nordroute - auf dieser ist die “Titanic” ja gefahren- wäre deutlich kürzer gewesen.

Wie ihr Vorfahre ist Ada auch von einem Projekt besessen. Sie arbeitet als Wissenschaftlerin bzw. Forscherin für einen der erfolgreichsten und reichsten Tech Konzerne der Welt, der vor einigen Jahren mit dem Projekt “Adam” in Form eines Biocomputers einen Begleiter für die Menschheit entwickelt hat, welcher deren Wohlbefinden durch Implantate ständig  überwacht und die entsprechenden Hinweise hinsichtlich Sport bzw. gesundheitlichen Risiken gibt. Ada hat sich einen der ersten Prototypen einpflanzen lassen. Sie selbst arbeitet auf dem Gebiet der Proteinfaltung, wobei die Daten eher spärlich von den entsprechenden Forschungslaboren geliefert werden, mit denen der Algorithmus gefüttert werden soll. Ziel ist es, Krankheiten noch früher zu erkennen.  Es handelt sich um einen Milliardenmarkt. Konkurrenz besteht durch einen charismatischen, wie paranoiden Ellen Musk Typen geführten Konzern.  Sonderberg hat vor einigen Jahren ein Gerät entwickelt, das basierend auf Wahrscheinlichkeiten und drei Szenarien die Lebenserwartung der jeweiligen  Käufer berechnen kann. Inzwischen ist er einer der reichsten Männer der Welt. Ihm gehört nicht nur die BRITANNIA, sondern viel wichtiger, Teile des Tunnels. Im ersten Tunnelabschnitt bis zu den Bermudas vom amerikanischen Festland aus hat er unterirdische Labore einrichten lassen, unter anderem auch ein biotechnisches Labor mit der höchsten Gefahrenstufe.  

Von ihrer Großmutter - Adam Mac Allens zweiter Frau - hat ihre Familie eine Schuppenflechte im Gesicht geerbt. Auch ihre vierzehnjährige Tochter, die neben der Hetze im Internet auch mit Magersucht nach der Trennung ihrer Eltern kämpft. Ada ist mit ihrer Arbeit nicht ganz zufrieden. Hinzu kommt, dass ihr ständiger Begleiter Adam als interner Wächter mehrmals anzeigt, dass es mit ihrer Gesundheit nicht zum Besten steht, obwohl sie sich das genauso wenig erklären kann, wie sich ihre Tochter mit einem Bleichmittel gegen die Gesichtsflechte vergiftet und in letzter Sekunde im Krankenhaus gerettet werden muss. 

Als ihr alter Mentor sie nach Schottland einlädt - sie hat da noch eine Wohnung - und ihr den Vorschlag macht, Sonderberg einmal persönlich  zu treffen, überschlagen sich die Ereignisse.  

Die Ada Handlung ist ein klassischer Wissenschaftsthriller mit der moralischen Auseinandersetzung zwischen “grenzenlosem” Fortschritt und Verantwortung. Kapital gegen Gewissen.  Das ist alles nicht neu und Christian Kellermann folgt außerhalb des faszinierenden und an das Original erinnernden Hintergrunds der gigantischen Tunnel Ruine auch den Mechanismen des Genres. Ada ist ehrgeizig, hat aber auch ein Gewissen. Sie will den Menschen Gutes tun und gleichzeitig auch Ergebnisse erzielen. Dass sie in einem Konzern arbeitet, dessen Ziel die Gewinnmaximierung ist, nimmt sie als notwendiges Übel hin. Staatliche Forschung würde nicht derartige Ergebnisse erzielen können. Sie sieht ihren Arbeitgeber trotz  aller Hindernisse wie fehlendem Versuchsmaterial, langen Sitzungen und einer Vorgesetzten, die eher egoistisch unterwegs ist, alles das Bessere von zwei Übeln. Sjöberg wäre für sie der Gipfel des rücksichtslosen, die Menschen manipulierenden Kapitalismus. 

Im privaten Bereich hat sie Probleme mit ihrer Tochter. Sie erreicht das unter der eigenen Gesichtsflechte in einer auf Perfektion - wenigstens im Netz - getrimmten Welt leidende Mädchen nicht mehr. Das liegt nicht nur an ihren Arbeitszeiten, sondern an der Tatsache, dass ihr geschiedener Mann ja immer nur die Wohltaten der Erziehung, aber niemals die Schwierigkeiten auf sich nimmt.  Ihre Beziehung erreicht einen natürlichen wie dramatischen Tiefpunkt, als sie eine lebensgefährliche Allergie gegen die Bleichmittel entwickelt und ins Krankenhaus muss. 

Ab diesem Augenblick dreht Christian Kellermann auch die Handlung auf den Kopf und verlässt den Bereich des realistischen Wissenschaftsthrillers mit für den Leser immer nachvollziehbaren theoretischen Gedankenketten. Die medizinische Forschung einem nicht vorgebildeten Leser plastisch, verständlich und trotzdem unterhaltsam zu erklären, ist nicht immer leicht. Aber dem Autoren gelingt es über weite Strecken ausgesprochen gut. 

Mit der Reise nach Schottland dringt Ada in die Welt des Bösen ein. Ihr Mentor bittet sie, den Konkurrenten Sonderberg zu treffen, der über wunderbare Spielzeuge verfügt, um Jack Nicholson als Joker zu zitieren. Einen Quantencomputer von ungeheurer Rechenleistung, der von Ada und ihren Mitstreitern genutzten Anlage überlegen. Über ausreichend Proteindatenbanken, um die Forschungen schnell voranschreiten zu lassen und eine gigantische wie geheime Anlage innerhalb des ehemaligen Gebiets der Tunnelgesellschaft. Innerhalb von Stunden nimmt Ada anscheinend während ihres Urlaubs das Jobangebot Sjöbergs an, wird in die geheimsten Winkel des Konzerns eingeführt und kann sogar dessen Handy in einem Moment der Unaufmerksamkeit filzen, denn natürlich erliegt Ada nicht gleich dem charismatischen Charme des Selfmade Milliardärs. Aber es kommt noch besser. Durch einen Zufall findet sie heraus, dass ihre Arbeit in Echtzeit überwacht wird und Führungskräfte ihrer alten Firma näher an Sonderberg dran sind als den eigenen Chefs. Spannungstechnisch hat ihr einziger Freund am alten Arbeitsplatz auch noch einen schrägen Autounfall, als er etwas über das Adam System herausfindet.   Dadurch wird Ada auch von wichtigen Informationen aus der Heimat Schweden bzw. Stockholm abgeschnitten und bei ihrem neuen Arbeitgeber isoliert. 

Die Zusammenfassung hört sich nach einer Aneinanderreihung von Klischees und konstruierten Szenen  an. Nach einer langen, aber durch die beiden Handlungsebenen auch notwendigen Extrapolation mit einer guten Zeichnung der Charaktere und in Hinblick auf Ada auch ihrem langen Familienhintergrund zieht Christian Kellermann auf der einen Seite das Tempo des Buches ab, hat aber auf der anderen Seite nicht mehr viel Raum, um die Handlung in einem deutlich gemäßigteren Tempo zu entwickeln. So überschlagen sich die angesprochenen Szenen und wirken durch die extreme Komprimierung auf wenige Tage stark konstruiert. Da hilft auch nicht ein Seebeben, das gleich am ersten von Adas Arbeitstagen die Routine durchbricht, die Mitarbeiter an die Oberfläche treibt und sie das Grab ihres Vorfahren auf dem Friedhof für die Tunnelarbeiter besuchen kann. Zu diesem Zeitpunkt stellt selbst Ada überrascht fest, dass sie erst einige Stunden unter der Erde gearbeitet hat.   

Auch ihre Entdeckungen in einem nicht abgeschlossenen Büro sowie das Mithören von einer wichtigen Kommunikation sind von der Grundausrichtung her dem Zufall geschuldet, welchen wahre Helden benötigen, überrascht aber routinierter Thriller Leser nicht wirklich. Selbst das von den “Schurken” angestrebte Ziel ihre Proteinforschung für eine Elite - Gipsys bezeichnet, zu denen Ada mit einem Handschlag als erste Frau ernannt wird -   ist kritisch gesprochen keine wirklich innovative Idee. Science Fiction hat sich auf unterschiedlichen Wegen mit diesem Thema seit Jahrzehnten auseinandergesetzt.  

Wie gewaltig Bernhard Kellermanns Schöpfung ist und wie sehr sie die Gegenwartshandlung - das Jahr 2028 wird an einer Stelle im Roman erwähnt -   dominiert, zeigt sich abschließend bei Adas Reise durch die metaphorische Nacht. Christian Kellermann gelingen eindrucksvolle Sequenzen mit einer erdrückenden Atmosphäre und der allgegenwärtigen Angst vor dem, was von hinten kommen könnte und vor der endlos erscheinenden Strecke, welche vor Ada liegt. Demgegenüber stellt der Autor die nacherzählte Durchbruch Szene, in welcher sich die beiden Tunnelhälften von Amerika und Europa in den Stein getrieben schließlich treffen und Adam Mac Allen in fast unmenschlicher Hitze ein Bier genießen kann. Die Szene endet - wie leider vieles im Buch - mit einer soliden Mischung aus Naivität oder besser Arroganz auf Seiten der Kapitalisten und in Adas Fall mit Hilfe des Zufalls. Trotz dieser kleinen Schwächen ist es die mit großem Abstand beste Sequenz des ganzen Buches. 

Der Epilog ist dagegen wieder cineastisch konstruiert. Wie oft hat ein Leser im Kino, im Fernsehen oder in Büchern den scheinbar perfekten Triumph der Schurken verfolgt? Die ganze Welt schaut zu, bis aus dem Sieg ein Pyrrhussieg wird und quasi aus dem Nichts oder besser den Tiefen des Netzes die Helden die Wahrheit der Menschheit auf die Computer oder in die Handys brennen?`Es kommt aber ein erschwerender Punkt hinzu. Christian Kellermann versucht tatsächlich, seine Leser zu überzeugen, dass ein Milliardär wie Sonderberg im Grunde in dreifacher Hinsicht naiv ist. Punkt  eins ist, dass Ada eine brillante Programmiererin ist, die sich auch mit der Hardware von Computern auskennt. Aber dass sie keine Spuren hinterlässt, erscheint unwahrscheinlich. Punkt zwei ist, dass Sonderberg vieles hat laufen lassen, um dann überraschend einzugreifen und quasi am Ende der Reise vom Tunnel nach Schweden Ada ein faules Angebot macht. Punkt drei ist, dass Ada im übertragenen Sinne von der Bildfläche verschwindet und Sonderberg keinen einzigen Zug unternimmt, um in dieser Hinsicht Fakten zu schaffen. Rücksicht hat seine Organisation bei Adas Freund Ale auch nicht übernommen. Und dann soll der Leser noch glauben, das Ale und Adam etwas geschafft haben, was ein Super Quantencomputer vorher nicht im Netz bemerken soll? Ale mag ein sehr guter Mann sein, aber hier wird abschließend die Glaubwürdigkeit der Thriller Handlung strapaziert. Der größte Unterschied zwischen Ada und ihrem Vorfahren Adam liegt vielleicht in der Tatsache begründet, dass Adam seinen Triumph für kurze Zeit vor der Welt feiern konnte, während Ada im Geheimen geforscht hat und ihre Entdeckungen der ganzen Menschheit für Jahrzehnte dienen. Ihre Ziele haben sowohl Adam als auch Ada trotz aller Herausforderungen und Schwierigkeiten erreicht. Aber diese Idee muss der Leser während des Epilogs dem Buch quasi Zeile für Zeile eher abringen.   

“Adam und Ada” ist ein auf der einen Seite durch den langen, fast erdrückenden Schatten von Bernhard Kellermanns auch heute noch mehr denn je lesenswerten Roman “Der Tunnel” beeinflusster Wissenschaftsthriller mit einigen guten Ansätzen, aber auch eine teilweise erschreckend statisch und klischeehaften Ausführung. Auch wirkt die Struktur zu wenig ausbalanciert mit einer umfangreichen wie notwendigen Extrapolation auf beiden Handlungsbögen, sowie einer abschließend hektischen und teilweise sehr konstruierten Auflösung. Die Figuren mit einer dominierenden Ada sind solide bis gut beschrieben. Der wissenschaftliche Hintergrund wird überzeugend und auch für Laien ohne Belehrung verständlich erklärt. Dass ein manipulierter Milliardenmarkt in der Breite für Menschen in der elitären Spitze aus anderen Gründen interessant ist, ist nachvollziehbar, auch wenn die Grundidee nicht unbedingt generell neu ist. Aber irgendwie bleibt nach der Lektüre angesichts der auch von den Medien aufgebauten Erwartungshaltung Leere zurück. Wenn Menschen durch die Lektüre von “Adam und Ada” allerdings auf den ebenfalls im Hirnkost Verlag neu aufgelegten utopisch technischen Roman “Der Tunnel” mit einer sozialkritischen Komponente aufmerksam werden und das Buch lesen, dann hat “Adam und Ada” zumindest ein Ziel erreicht.   

  

Adam und Ada

  • Herausgeber ‏ : ‎ Hirnkost; 1. Edition (18. Mai 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 408 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3988570052
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3988570055