Nozone – Reviews of Art, Cult, and Genre Cinema, 2003-2012

Tim Lucas

“Nozone” – eine Zusammenstellung von über einhundert Kolumen aus dem britischen Filmmagazin “Sight & Sound” – ist das erste eigenständige Filmbuch Tim Lucas seit der Einstellung seines „Video Watchdogs“ Magazin vor einigen Jahren. In der Zwischenzeit hat Tim Lucas neben einigen Artikeln, zahllosen Audiokommentaren zu verschiedenen phantastischen und nicht dem Genre angehörenden Filme zwei Romane und die Überarbeitung seines zweiten Werkes „The Book of Renfield“ vorgelegt.

 Der Kolumnentitel „Nozone“ bezieht sich auf die Ausrichtung der immer ungefähr eintausend Worte umfassenden Beiträge zu einem der ältesten Filmmagazine der Welt: Das Thema waren interessante DVD Veröffentlichungen – dabei spielte es keine Rolle, ob es sich um neue Filme handelt – außerhalb Großbritannien, die dort (noch) nicht veröffentlicht worden sind. Tim Lucas hat diese Kolumne – seine im Grunde zweite Kolumne nach Beiträgen für das amerikanische Horrormagazin „Gore Zone“, die in dem „Video Watchdog“ Reader gesammelt worden sind – übernommen, weil er zusammen mit seiner verstorbenen Frau Donna basierend auf den Erfahrungen seiner langjährigen Mitarbeit am Magazin „Cinefantastique“ eine neue Art der Genrekritik entwickelt hat. Neben den technischen Hinweisen bzgl. des Wiedergabeformat; der Qualität und schließlich auch hinsichtlich von Kürzungen hat Tim Lucas immer wieder den Bogen vom reinen Genre zum Arthouse Film gezogen. Eloquent, aber fokussiert ohne in einen belehrenden Tonfall zu verfallen hat Tim Lucas fast fünfundzwanzig teilweise monatlich im Video Watchdog über Edgar Wallace Filme, Jess Franco oder das Arthouse Cinema geschrieben, das vom Videolabel „Criterion“ liebevoll für den amerikanischen Markt aufbereitet worden ist. Diese Kontraste bei gleich bleibender Qualität der Rezensenten –  die Horrorautoren Kim Newman und Ramsey Campbell gehörten wie Joe Dante mit seinen frühen Filmrezensionen – zu den ständigen Mitarbeitern des Magazins, das regelmäßig von Quentin Tarantino oder Martin Scorsese gelesen worden ist. Martin Scorsese gehörte zu den Spendern, die nach der Insolvenz die finale Ausgabe finanziert haben.

 Tim Lucas schreibt in seinem Vorwort nicht nur über die goldenen Tage des „Video Watchdogs“, sondern auch die Freiheiten, die er für diese Kolumne erhalten hat. Die einzige Bedingung ist gewesen, dass niemand anders in der gleichen „Sight & Sound“ Ausgabe über den entsprechenden Film geschrieben hat. Daher erhalten die Käufer dieses Buches eine bislang unveröffentlichte Kolumne, die in der langen Geschichte der Zusammenarbeit von 2003 bis 2012 gab es tatsächlich eine einzige Überschneidung. Die Kolumnen sollten höchstens eintausend Worte umfassen, was Tim Lucas angesichts seines vorhandenen Wissens nicht immer leicht gefallen ist. James Bell hat einige Beiträge entsprechend bearbeitet, wie Tim Lucas in seinem Vorwort klar, literarisch schriftstellerisch verbessert.

 Der „Video Watchdog“ besteht auch nicht nur aus langen Kolumnen oder Artikeln. Seit der ersten Ausgabe mit einem langen Essay über den spanischen Filmemacher Jess Franco sind Rezensionen ein wichtiger Bestandteil dieser Hefte. Nur wurden die Rezensionen spätestens mit dem Aufkommen der DVDs – der Fokus der ersten Ausgabe lag noch auf der VHS Kassette, ab der Nummer zehn oder elf ging der „Video Watchdog“ lasern- mit den berühmten Bildplatten – länger und ausführlicher. Ein Trend, dem sich die Kolumnen im „Sight & Sound“ nicht anschließen konnte. Die perfekte Länge für Tim Lucas waren zwar die eintausend Worte, aber nur, wenn es sich um einen Film oder eine Fernsehserie oder einen Themenblock handelt. In den ersten Beiträgen versuchte der Amerikaner mehr als einen Film auf den wenigen Seiten vorzustellen, was zu Lasten der eigentlichen Rezension nach einer kurzen Zusammenfassung des Inhalts oder wichtiger Informationen hinsichtlich der eigentlichen Produktion ging. Nach wenigen Beiträgen oder besser Monaten hat Tim Lucas das richtige Gespür für die Länge gefunden und die Beiträge erreichten die Qualität, welche langjährige Leser aus seinem Magazin kannten. Es gab einige Überschneidungen zwischen Veröffentlichungen in „Sight & Sound“ und dem „Video Watchdog“. Aber die wenigsten Leser werden sich angesichts der verstrichenen Jahre direkt an diese wenigen Doppelungen erinnern, so dass eine erneute Lektüre wie ein Wiedersehen mit einem alten Bekannten ist, dessen Gesicht schon in den Tiefen der Erinnerung zu verschwinden drohte.  Begleitet wurde jede Kolumne von einem entsprechenden Foto. In alphabetischer Reihenfolge der vorgestellten Filme sind diese Fotos in der Mitte des Buches angeordnet.

 Wie eingangs erwähnt hatte Tim Lucas als Rezensent alle Freiheiten. Wer Tim Lucas Werdegang über die Jahrzehnte verfolgt hat, wird bei einer Vielzahl der hier vorgestellten DVds und entsprechenden Themen nicht überrascht sein. Jede Kolumne ist für die Neuveröffentlichung noch einmal durchgesehen worden. Ergänzungen finden sich am Ende des Beitrags. Sie zielen in erster Linie auf Upgrades von der DVD zur Blue Ray oder neue Überarbeitungen. Das Streaming – selbst „Criterion“ hat inzwischen in den USA seinen eigenen Streaming Kanaal – findet in der „Nozone“ nicht statt.

 Tim Lucas ist ein Kind der sechziger Jahre, das aufgrund einer allein erziehenden Mutter sehr viel Zeit in den Kinos Cincinattis verbracht hat. Einer Stadt, in welcher Tim Lucas auch heute noch lebt.

 Die Angebote der damaligen Kinos mit ihrem Double oder Triple Features finden sich auf seiner Facebook Seite. Die Legende sagt, dass er eines Tages zu spät zu einem Elvis- Presley Film gekommen und plötzlich „Es war einmal in Amerika“ gesehen hat. Der Tag seiner cineastischen Auferstehung. Musik spielt in seinem Leben und seinen Rezensionen eine wichtige Rolle. In den hier gesammelten Kolumnen reicht das Spektrum von der legendären „The Monkees“ Fernsehserie über eine Dokumentation Bob Dylans während seiner beiden Auftritte in Großbritannien über Nico & The Velvet Underground bis zu Woodstock. Tim Lucas versucht diese Zeitkapseln – auch die erste Staffel der aufgezeichneten Dick Cavett Show zum Thema Rock Icons – reiht sich hier ein – immer aus der Zeit ihrer Entstehung heraus zu interpretieren. „Breaking Glass“ ragt in dieser Hinsicht aus den gesammelten Artikeln noch zusätzlich durch Tim Lucas Interpretationsansätze heraus. Auch Streifen wie „If...“ oder „O Lucky Man“, in denen das Swinging London der sechziger Jahre sind in provokanten Filmen manifestierte, könnten mit viel Wohlwollen unter diesen breiten thematischen Regenschirm fallen.

 Der zweite Schwerpunkt sind die zahlreichen Filme aus den dreißiger und vierziger Jahren, die von den Sendern teilweise bis zur Unkenntlichkeit zerschnitten in den Teenager zugänglichen Fernsehzeiten liefen. Dabei reicht das Spektrum von der Sherlock Holmes Serie mit Basil Rathbone über die Weißmüller Tarzan Filme zu Roger Cormans auf Puerto Rico gefilmter Trilogie. In diese Phalanx von auf den ersten Blick Pulp Unterhaltung Reihen sich auch die Stummfilmadaptionen von „Judex“ oder die angesprochenen Edgar Wallace Filme. Tim Lucas erweitert seine Betrachtung teilweise um die literarischen Vorlagen, die allerdings erst zwischen den damaligen Ausstrahlungen im Fernsehen und dem Entstehen der Kolumnen auf Englisch erschienen sind. Alleine die Karl May Filme müssen für sich alleine stehen, Western gehören nicht zu Tim Lucas Standard Lektüre.

 Sex ist immer eine Versuchung Wert. Beginnend mit seiner Obsession über Jess Franco setzt sich Tim Lucas mit den aus heutiger Sicht harmlosen, aber sozialkritischen Filmen eines Joe Sarno auseinander. Die Schulmädchen Reports werden genauso gestreift wie die erotischen Versatzspiele eines Robbe- Grillet oder die faszinierende Dokumentation über die Autorin der „Story of O“, die sich erst im hohen Alter der Öffentlichkeit offenbart hat. 

 Nach Musik und Sex gibt es zwei weitere wichtige Eckpfeiler, der hier gesammelten Rezensionen. Das französische Kino von Bridget Bardot über Louis Malle oder Eric Rohmer. Damit erfüllt Tim Lucas den Anspruch der mehr intellektuellen Leser des „Sight & Sound“ Magazins, wobei sich entsprechende Rezensionen auch immer wieder im „Video Watchdog“ finden. Auch hier betrachtet Tim Lucas die Filme vor allem aus ihrer sozialen, manchmal auch ein wenig sozialistischen Komponente und hebt sie aus der „Realität“ heraus auf den Pantheon eines Kunstwerks, von der ersten Zeile des Drehbuchs bis zur finalen Klappe durchgeplant, auch wenn einige der vorgestellten Filme eher improvisiert wirken wollen. Die Art Haus Exkurse sind nicht jedermanns Sache, aber Tim Lucas betrachtet das Medium Film seit Jahrzehnten in seiner Breite und scheut sich auch nicht, über seinen Schatten zu springen.

 Das Drive In Kino mit seinen zahlreichen Exploitation Potboilern, gerettet von Labels wie Something Weird, stellt für den amerikanischen Kritiker eine seltsame Faszination dar. Tim Lucas gibt selbst zu, dass er für die meisten Filme der Drive Ins entweder bei der Erstausstrahlung zu jung gewesen ist oder seine Mutter konnte sich kein Auto leisten. Daher fehlte der Zugang zu dieser besonderen Gattung. Aber erst die Veröffentlichungen auf VHS, später DVD hat es ihm ermöglicht, sich in diese Nische einzuarbeiten. Nicht selten vergleicht er die besprochenen Filme mit seiner anderen Obsession Mario Bava, über den Tim Lucas das ultimative Werk geschrieben hat. Heute antiquarisch selten unter eintausend Euro zu erwerben. Dieser Bogenschlag zwischen dem europäischen Trashkino und den verschiedenen Exploitation Subgenres – von Blackploitation bis Sexploitation ist alles vorhanden – bereichert seine Texte, wobei die einzige wirkliche Kritik an den Filmen bis auf die Anmerkung, das die Handlung langweilig ist, die Kritik an neuen Synchronisationen ist, welche insbesondere Filme, die sich mit den Unterschieden zwischen den sozialen Schichten auseinandersetzen, sprachlich gleichschalten und damit den Ausgangskonflikt eliminieren.

 Tim Lucas hat ein Faible für die Gescheiterten. Filme, die lange Zeit kein Publikum gefunden haben. James Coburns „The President´s Analyst”, “Myra Breckinridge” oder “How the West was Won”.  Seine Anerkennung, teilweise Bewunderung dieser in den Augen der Öffentlichkeit gescheiterten High Budget Produktionen begründet Tim Lucas ausführlich und klar. Der Leser hat dadurch eine Position, an welcher er sich reiben kann. Aber diese Klarheit nicht selten gegen den Hauptstrom der Kritiken zeichnet den Amerikaner seit vielen Jahren aus. Die Kürze der Texte macht es nicht immer möglich, seinen Gedanken bis zum logischen Ende zu folgen. Aber in diesen Fällen lohnt sich ein Blick in die antiquarisch noch verfügbaren „Video Watchdog“ Ausgaben. Viele der hier vorgestellten Filme haben seit ihrer Erstausstrahlung im Kino verschiedene Veröffentlichungen – Videocassette, Laserdisc, DVD und schließlich Blue Ray – durchlaufen, so dass sich in den mehr als einhundertfünfzig Heftausgaben entsprechende Rezensionen finden, die sich nicht selten durch die zwischen den Veröffentlichungen vergangene Zeit sogar sehr gut ergänzen. Selten ist ein Mann wie Jerry Lewis als das erkannt worden, was er in seinen Filmen wirklich gewesen ist: ein besessener Komiker, der wie Buster Keaton immer wieder die Grenzen überschritten und auf eine teilweise wundersame Art und Weise seinen Zuschauern ein Lächeln ins Gesicht gezaubert hat.

 Das Spielfeld ist die Welt. Japanische Sex oder Samurai Filme, russische Märchenfilme, eine Kolumne mit den Home Movies begeisterter, teilweise inzwischen verstorbener Fans, Produktionen aus Schweden oder Großbritannien... sie alle haben in den über einhundert Kolumnen eine Heimat gefunden. Wenn Tim Lucas noch auf einen bislang unbekannten, aber in mehrfacher Hinsicht das spätere Werk einführenden Brian de Palma Film zu sprechen bzw. zu schreiben kommt, ist der Video Watchdog wieder in seinem originären Element... die weißen Flecken auf der Landkarte der Filmschaffenden kreativ und intelligent mit seinen Rezensionen zu füllen.

„Nozone“ ist eines dieser Kompendien, das in zweifacher Art und Weise gelesen werden kann. Fortlaufend alle Kolumnen hintereinander, wobei die Sprunghaftigkeit teilweise auch irritiert. Nicht selten greift Tim Lucas Herzensangelegenheiten in den späteren, deutlich fokussierter und konzentrierter geschriebenen Kolumnen wieder auf, die er in seinen ersten Fingerübungen nur gestreift hat. Bei dieser Art der Lektüre entfaltet sich die Breite, aber aufgrund der Kürze nur selten die Tiefe, welche Tim Lucas mit seinen Kritiken umfasst. Die zweite Art ist das Hin- und Herspringen. Über bekannte, vertraute Titel zuerst lesen, vielleicht sie anschließend auf DVD, im Stream oder auf Videocassette noch einmal zu sehen. Manchmal auch das erste Mal mit anderen Augen. Dabei werden eine Reihe von cineastischen Perlen mit Nichtbeachtung gestraft, was grundsätzlich schade ist. Aber egal in welcher Reihenfolge man die mehr als einhundert Kolumnen angeht, die Lektüre lohnt sich und am Ende selbst des kleinsten Beitrags ist der Leser ein wenig schlauer, weil Tim Lucas sein umfangreiches Wissen unauffällig, aber mit einer Liebe zum Film geteilt hat. 

      

  • ASIN ‏ : ‎ B0CW1TQNQ5
  • Herausgeber ‏ : ‎ BearManor Media (20. Februar 2024)
  • Sprache ‏ : ‎ Englisch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 442 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 979-8887714035
  • Nozone – Reviews of Art, Cult, and Genre Cinema, 2003-2012
Kategorie: