Der 1963 geborene Udo Schmitt ist hauptberuflich als Chefingenieur in der Medizinbranche tätig. Nebenberuflich spielt er die E- Gitarre in verschiedenen Bands und veröffentlicht Kurzgeschichten. Verheiratet und Vater von zwei Kindern. Die Musik durchfließt seinen Debütroman „Tonspur“. Es gibt eine Reihe von Romanen, die sich mit Comebacks legendärer Bands auseinandersetzen. Alleine im phantastischen Bereich hat George R.R. Martin mit „Armageddon Rock“ in dieser Hinsicht ein heute noch empfehlenswertes Meisterwerk erschaffen. Literarisch bewegen sich die Autoren nicht selten auf einem schmalen Grat, der an Variationen von „A Star is Born“ erinnern könnte. Udo Schmitt folgt diesem Pfand nicht, auch wenn der Autor in der Euphorie um das Comeback der europaweit belannten Hard Rock Band „Brandmal“ und ihrem Leadsänger „Warrior“ einzelne Aspekte vergisst, die er in der Exposition aufgeworfen hat.
Vor zehn Jahren hat Kai fast über Nacht „Brandmal“ verlassen. In Europa haben sie mit ihren provokanten Bühnenshows – dem Sklaven wurde auf der Bühne ein „Brandmal“ auf den nackten Hintern gedrückt – ihr Publikum begeistert. Nach etlichen Prozessen ist Kai clean geworden und lebt vielleicht nicht zufrieden, aber aus dem Fokus der Öffentlichkeit gerückt mit seiner Freundin Alexandra zusammen. Drogen sind Vergangenheit, im heimischen Tonspur wird nur aus Freude mit Freunden außerhalb der Band musiziert. Nach zehn Jahren wird allerdings auch das Geld knapp. Alexandra kommt aus gutem Hause und ist ein besseres Leben gewöhnt. Die Idee zieht sich lange Zeit durch den Roman, wird aber im letzten Kapitel fallen gelassen. Sinnloser Luxus ist nur einmal im Künstlermilieu geil und wenn der Bühnenerfolg da ist, kann man seinen persönlichen nicht ökologischen Fussabdruck in der Welt der Konsumreichen hinterlassen. Immerhin hat die attraktive, aber wie viele der hier beschriebenen Frauen auch eindimensionale, bis ans Klischee der attraktiven Spielerfrau mit einem schönen Körper, aber wenig Hirn entwickelten Alexandra ihren Kai von den Drogen befreit.
Kais Manager verschafft ihm einen Job in einer Marketingfirma. Natürlich ist nicht zuletzt aufgrund seines Auftritts in einer von Spießigkeit trotzenden Firma mit einem despotischen Chef der erste Tag auch gleich der Letzte.
Der italienische Manager hat aber andere Absichten. Kommerziell ist er mit Kai noch nicht fertig. Er pflanzt ihm den erschreckenden Gedanken ein, nicht nur die eigene Biografie schreiben zu lassen, sondern auch Brandmal wieder zu vereinigen und zehn Jahre nach dem letzten Konzert wieder durchzustarten.
Ab diesem Augenblick lässt sich der Roman in drei unterschiedliche Teile aufspalten. Da wäre die Reunion inklusive der Rivalitäten innerhalb der Band mit neuen Songs, neuen Verantwortlichkeiten und schließlich auch einem atemberaubenden, eher an Bands wie „Rammstein“ erinnernden Konzert. Der zweite Handlungsteil ist der Widergänger. Ein Mann, der wie Kai aussieht und eine perfekte Homepage gefälscht hat, auf welcher er einen Blog mit Einträgen aus einer psychiatrischen Klinik führt. Dazu entsprechende Fotos und Auftritte. Der dritte Abschnitt – der zweite Handlungsbogen fließt gegen Ende in diesen finalen Handlungsstrang ein – setzt sich mit der eigenen Vergangenheit im dunklen Schatten der beiden deutschen Staaten auseinander.
Kai beginnt sich nach und nach für das Projekt Brandmal zu begeistern. Er hat wieder Angst vor den Drogenexzessen, dem Leben aus dem Koffer und den Tagen zwischen den Konzerten voller stereotyper Hotelzimmer und innere Leere. Auf der anderen Seite finden sich die anderen Mitglieder aus der Gruppe relativ schnell bereit, dem Aussteiger Kai zu verzeihen und mit ihm wieder zusammenzuarbeiten. Nicht alle sind abgebrannt, aber Spielsucht und eine große Familie haben die Kassen zusammenschrumpfen lassen. Nur Sklave hat anfänglich Bedenken und ist vielleicht auf den ersten Blick der Labilste in der Gruppe. Schnell ist die neue Musik zusammengestellt, die Kooperation wirken so, als wären keine zehn Jahre vergangen und selbst ein neuer Sound; eine Anpassung der damals ausschließlich harten Töne an die Gegenwart geht erstaunlich reibungslos vonstatten.
Probleme gibt es, weil Kai einen lukrativen Buchvertrag für die eigene Biographie sein Eigen nennt und die anderen Bandmitglieder wieder Angst haben, außen vor zu sein. Aber auch hier präsentiert Udo Schmitt eine erstaunlich pragmatische Lösung.
Die Vorbereitungen zum Revival lesen sich erstaunlich flott und Udo Schmitt kann dem Leser einen Eindruck vermitteln, wie komplex das Schreiben von Songs, das Arrangieren von Nummern und schließlich auch eine echte Zusammenarbeit unterschiedlichster Charaktere auf der Bühne sein kann. In diesen Haupthandlungsstrang fließen auch einige Hintergrundinformationen zur finalen Trennung ein. Kai ist kein Sympathieträger. Zu Beginn ein arrogantes selbst verliebtes ehemaliges Idol, das mit seiner Mischung aus Prolet und Provokateur in jedem normal strukturierten Betrieb anecken muss. Kai ist ein Freigeist, ein Songschreiber, im Grunde auch ein Künstler, der vor seiner Umwelt geschützt werden muss.
Am Ende entwickelt er sich aber mehr und mehr zu einem Teamplayer, der aus der Bandvergangenheit gelernt und erkannt hat, das sie nur als Team funktionieren können und das weniger mehr Leidbild als Sozialkompetenz erstaunliche Ergebnisse hervorbringen kann. Die Ecken und Kanten verschwinden, Kai wird bis zum Tag nach dem ersten Konzert tatsächlich zu einer Figur, welcher der Leser Sympathien im Gegensatz zu seiner Freundin Alexandra entgegenbringen kann. Ohne diese überzeugend gestaltete Charakterwandlung vor allem vor dem Hintergrund einer Reihe von ewig Gestrigen könnte das Buch nicht so gut funktionieren.
Sowohl die einzelnen kleinen Gigs wie auch der Medienauftritt bei der einzigen öffentlichen Lesung oder das finale, alleine in der Beschreibung atemberaubende Wort inklusive einer kleinen Manipulation der Leser bilden die Höhepunkte des Buches.
Der Widergänger als Doppelgänger ist schwerer in den Griff zu bekommen. Ein Mann, der Kai ähnlich sieht. Ein Künstler wie er, der aber schließlich an den eigenen Problemen gescheitert ist. Ein Mann, mit einer interessanten, vielleicht ein wenig klischeehaften und mit Kai teilweise zusammenhängenden Vergangenheit. In mehrfacher Hinsicht eine lebende Zeitbombe mit einer kurzen Zündschnur. Wie gut diese Beschreibung funktioniert, unterstreicht die subtile Manipulation der Leser während des Comeback Konzertes. Alleine die Klappentext und brennende Bücher vor der Halle mit dem aus seiner Biographie lesenden Kai deuten in eine bestimmte Richtung. Der Leser erwartet förmlich die Eruption von Gewalt, einen tragischen Helden. Auch hier überrascht Udo Schmitt die Leser und fügt diesen Handlungsteil geschickt wie cineastisch effektiv in die Haupthandlung ein.
Die Vergangenheit. Kais Vater ist ein Sozialist, welcher der DDR genauso wenig abgewinnen konnte wie den kapitalistischen Bewegungen in Deutschland. In Kais Jugend ist ihr Haus abgebrannt. Ein Unfall oder steckt etwas Dunkleres dahinter? Jahrelang ist Kais Vater verschwunden. Als er wieder in das Leben seiner Mutter und ihm tritt, ist er verändert. Auch hier präsentiert der Autor Erklärungen erst während des Finals. Immer wieder hangelt sich Udo Schmitt an den möglichen Klischees entlang, um dann ein wenig theatralisch eine andere Sichtweise zu präsentieren. Aber Kais Vergangenheit geht noch weiter. Sein Vater bleibt eine unzugänglich Chiffre, die mit dem Künstler nichts anfangen kann. Alles sieht er als eine Art persönlichen Anschlag auf sich selbst, auf seine Art zu leben. Kais Prominenz nimmt ihm seine wichtigste Botschaft. Egozentrisch und verbohrt in einer Welt festgeklebt, die es damals vielleicht ein wenig, aber heute nicht mehr gegeben hat. Aber Kais Vater ist auch ein Macher gewesen. Ein Mann, der Risiken eingegangen ist und für die er durch Verrat aus den eigenen Reihen bezahlen musste. Hier folgt der Bogenschlag in die schon angesprochene deutsch- deutsche Vergangenheit, die nicht ruhen kann. Ist dieser Handlungsbogen wirklich notwendig? Ja und nein. Udo Schmitt untersucht abschließend auf diese Art und Weise verschiedene Figurenkonstellation. Kai und sein Doppelgänger; Sklave und seine Freundin; die junge Frau und ihr Bruder. Wirklichkeiten verschieben sich und teilweise scheint die Übernahme einer fremden Persönlichkeit – und sei es nur in einem Blog auf einer Homepage – die einzige Möglichkeit, auf der Popularität eines anderen Menschen zu „reiten“, damit der eigene Hilferufe nicht verhallt.
Die einzelnen Teile funktionieren, geben der ganzen Geschichte vielleicht eine emotionale Tiefe, welche der zugrunde liegende Stoff eines Comebacks voller Selbstzweifel und Hoffnungen gar nicht benötigt hätte. Es ist zusätzliches Fleisch, aber positiv gesprochen kein zusätzliches Gewicht, das Udo Schmitt dem allgegenwärtigen wie getriebenen Kai eher um die Hüften als auf die Schultern legt. Zumindest deutet das Ende nicht zuletzt aufgrund der windigen Vorschläge des italienischen Managers in eine bessere Zukunft. Natürlich werden einzige Selbstzweifel und Minderwertigkeitskomplexe bleiben. Am Ende von „Tonspur Rocklegenden und ein Spaziergang am Meer“ (der Spaziergang bezieht sich auf die Wanderungen am Strand von Sellin) präsentiert der Autor einen optimistischen Ausblick, aber keine Freisprechung von jeglicher Vergangenheit.
Für einen Debütroman mit überzeugenden, aber nicht auf reine Sympathie hin konzipierten Figuren und sehr vielen, cineastisch geschriebenen Szenen überzeugt „Tonspur Rocklegenden und ein Spaziergang am Strand“ auf vielen Ebenen. Der Leser wird förmlich von der sich stetig steigernden kreativen Energie Kais mitgerissen und verfolgt das Geschehen fast ausschließlich auf Augenhöhe, auch wenn der Autor auf die in diesem Fall verführerische Ich- Perspektive positiv für das ganze Szenario verzichtet. Musikfans werden vielleicht noch ein wenig mehr von der Geschichte mitnehmen als „normale Leser“, aber in vielen Punkten ist es auch irgendwie eine Coming of Age Geschichte einer Generation in mittleren Jahren, die zu schnell zu viel Gas gegeben haben, aber nicht wie ein Komet in Sekunden verbrannt sind. Und denen das Leben eine zweite Chance in ihrem Element schenkt. Uneigennützig, aber noch ohne viel Arbeit... der Weg ist das Ziel.
Udo Schmitt
TONSPUR
Rocklegenden und ein Spaziergang am Meer
Zwischen den Stühlen 10
Zwischen den Stühlen @ p.machinery, Winnert, Dezember 2023, 360 Seiten
Paperback: ISBN 978 3 95765 363 5 – EUR 20,90 (DE)
E-Book-ISBN 978 3 95765 742 8 – EUR 6,99 (DE)