In fernen Gefilden

Joanna Russ

Der Carcosa Verlag beginnt mit der Veröffentlichung aller Alyx Geschichten eine drei Bände umfassenden Werksausgabe der bekannten amerikanischen Kritikern, Science Fiction Autorin  und Feministin Joanna Russ.  Im ersten Carcosa Almanach wurde Joanna Russ eher als zornige Frau vorgestellt.  Für die Werksausgabe  steuert die  Professorin für Amerikanistik Jeanne Cortiel ein ausführliches und auch zu Beginn der Lektüre empfehlenswertes Nachwort bei. Sie geht auf besondere Aspekte in Joanna Russ literarischen, aber auch sekundärliterarischen Werk dieser Schaffensperiode ein. Neben zwei Artikeln finden sich vier Buchkolumnen - drei aus “The Magazine of Fantasy & Science Fiction” - sowie zwei exzellente Essays aus Joanna Russ Feder. 

 Die ersten drei Kurzgeschichten um ihre widerborstige, kleinwüchsige, aber auch offenherzige Schwertkämpferin/ Diebin und schließlich auch Zeitagentin Alyx haben eher einen Fantasy Charakter, wirken wie eine feministische Version der „Sword & Socery“ Stories, welche die Pulp Magazine in den dreißiger Jahren bevölkerten.  In einer 1974 veröffentlichten Story wird Joanna Russ in diese der griechischen Antike entsprechenden Epoche zurückkehren. 

Im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen folgte Joanna Russ einer ihrer literarischen Inspirationen C.L. Moore, in dem sie in einer archaisch mittelalterlichen Welt eine durchaus realistische, bodenständige, intelligente und schlagkräftige, aber auch fast über realistische Protagonistin platziert.  Neben C.L. Moore hat sich bei der Konzeption der Welt ihrer ersten Storys an Fritz Leibers „Fahhrd und der Graue Mausling“ Geschichten orientiert. So vergnügt sich Alyx anscheinend eine Woche lang mit Fafhrd in der ersten Story „Bluestocking“. Fritz Leiber revanchiert sich in einer späteren Sammlung mit einem Gegenbesuch Alyx in seinem Universum. .

Die vier Kurzgeschichten erschienen jeweils in den von Damon Knight publizierten „Orbit“ Anthologien, während der einzige Roman und Wechselpunkt von Fantasy zur Science Fiction ursprünglich alleinstehend publiziert worden ist. Während “In ferneren Gefilden” die einzige deutschsprachige Gesamtausgabe der Alyx Abenteuer ist, publizierte der Verlag Timescape schon 1967 einen Sammelband ohne die finale, erst 1974 publizierte allerletzte Alyx Story.    

Die erste Kurzgeschichte “Blaustrumpf”/ „Bluestocking“ – der ursprüngliche pragmatische Titel war „The Adventuress“ -  ist in Orbit 2 (1967) publiziert worden. In dieser Anthologie findet sich mit  “Ich dachte, sie hätte Angst, bis sie mir über den Bart strich” / “I Thought She Was Afeard Till She Stroked My Beard” eine zweite Alyx Geschichte aus ihrer Feder, die chronologisch früher spielt. Die Reihenfolge der beiden Geschichten ist entgegengesetzt der nicht nur in dieser Werksausgabe präsentieren Veröffentlichung.   Der Titel “Blaustrumpf” bezieht sich auf eine heute fast vergessene Frauenbewegung am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts.   

Die Handlung der Kurzgeschichte ist relativ geradeaus. Die arrogante, junge und aus gutem Hause stammende Edarra möchte einer arrangierten Ehe mit einem älteren Mann entkommen.  Joanna Russ spricht davon, dass dieser zukünftige Ehemann schon drei Frauen hinter sich hat. Sie sind unter verschiedenen Umständen frühzeitig verstorben. Alyx hat anfänglich kein Interesse, diesen Auftrag zu übernehmen, da Edarra ihr unsympathisch und die Bezahlung zu schlecht ist. Natürlich übernimmt sie schließlich doch die Mission. Gemeinsam fliehen sie nachts in einem kleinen Seelenverkäufer über das Meer und erleben auf ihrer Reise ins Unbekannte einige Abenteuer. Sie wachsen zusammen, Alyx bringt Edarra die Selbstverteidigung mit dem Kurzschwert bei. Ihr abschließend  und irgendwie improvisiert wirkendes Ziel ist eher eine ironische Parodie auf die Schatzjagd anderer muskulöser Helden. Vom Regen in die Traufe ist eine unzutreffende, aber nicht ganz falsche Bezeichnung.

In allen fünf Texten erfährt der Leser nur wenig Konkretes über Alyx. Zum Zeitpunkt der ersten Geschichte arbeitet sie sehr erfolgreich als Dieb in Ourdh. Jahre vorher hat sie nach einer Exkursion zu den Piraten und der Flucht aus einer missbräuchlichen Ehe ebenfalls in der Umgebung von Ourdh gelebt.  Wie schon angesprochen beschreibt Joanna Russ diese Flucht Joanna Russ in der zweiten Alyx Geschichte, die ebenfalls in Orbi 2 erschienen ist.  

 Sie kennt die Stadt und ihre Bewohner sehr gut. Da es bis zu ihrem siebzehnten Lebensjahr außer dem tragischen wie konsequenten, von Eigenhang initiierten Ende ihrer Ehe keine vorherigen Informationen gibt, kann es durchaus sein, dass sie in dieser Gegend auch geboren worden ist.   Mit Religion hat sie nichts mehr am Hut, nachdem sie in einer kleinen Gruppe gelebt hat, die den Gott der Berge YP anbeten. Ihre Freunde wurden verfolgt und getötet.  In der dritten Geschichte wird sie wieder nach Ourdh zurückkehren.

Gleich im ersten Absatz beschreibt Joanna Russ ihre Alys als eine Frau durchschnittlicher Größe, nicht besonders hübsch, aber mit grauen Augen. Sie ist etwa 30 Jahre alt. Die Rückblenden umfassen also gut 13 Jahre ihres bisherigen Lebens.   

Der Tonfall der Geschichte ist selbstironisch. Auch wenn Alyx ihren Job und damit auch ihre Mission ernst nimmt, betrachtet sie ihre eher rudimentär beschriebene Umgebung wie auch ihre männlichen Mitmenschen eher spöttisch, fast arrogant. Am Ende der Story, am Ziel ihrer Reise wird sie allerdings wieder eine ganz(e) (selbstbewusste) Frau, die auf die nächste Beziehung hofft, den perfekten Mann, der in der Einsamkeit auf sie wartet. Das Ende der Geschichte  -  aus Joanna Russ Sicht fast absurde Unterordnung unter einem Mann - könnte eine Parodie auf die Rollenklischees der Frau in der phantastischen Literatur sein. In den in diesem Band gesammelten Kolumnen kritisiert Russ unter anderem Kate Wilhelm, keine überzeugenden Frauencharakter schreiben zu können. Es ist aber nicht die einzige, an bekannte Klischees appellierende Szene. Auch in der dritten Geschichte sinkt Alyx am Ende wieder in die Arme ihres Mannes, nachdem sie ihn ohne sein Wissen gerettet hat.  

Wie Fritz Leibers „Fafhrd“ Storys überzeugt der leichte Tonfall der Geschichte. Alyx ist zwar körperlich ihren Gegnern/ Feinden nicht überlegen und braucht im Zweikampf auf hoher See auch ein wenig Glück/ Hilfe, aber sie nimmt das Leben nicht zu ernst und es fehlt der fatalistische Tonfall vieler Sword & Sorcery Geschichten. Dabei geht Joanna Russ durchaus respektvoll, aber ausschließlich aus weiblicher Perspektive mit diesem von Männern dominierten Subgenre um.  

„Ich dachte, sie hätte Angst, bis sie mir über den Bart strich“ (I Thought She Was Afraid Till She Stroked My Beard“) erschien – wie angesprochen – ebenfalls in Orbit 2, allerdings unter dem Titel „I Gave her Sack and Sherry“.  Alyx ist noch kein so ausgereifter Charakter und in Joanna Russ beschreibt die Flucht ihrer Protagonistin aus einer Ehe voller Gewalt und Missbrauch. In einigen späteren Geschichten wird auch eine mögliche Schwangerschaft angesprochen, in der vorliegenden Story finden sich keine Hinweise. Am Ende der Geschichte schließt sich Alyx den Piraten ein. Die Werksausgabe weist hinsichtlich der Chronologie wahrscheinlich einen Fehler auf.  In der ursprünglichen Anthologie erschien diese Geschichte auf den Seiten 164 bis 185, erst anschließend auf den Seiten 185 bis 211 folgte der bei der  vorliegenden Werksausgabe als erste Geschichte abgedruckte Text. Es empfiehlt sich bei der Lektüre, der ursprünglichen Veröffentlichung Reihenfolge aus der “Orbit” Anthologie zu folgen. 

In der falschen Reihenfolge wird der Leser von der selbstbewussten Alyx ohne Vorwarnung in deren Vergangenheit gestoßen und lernt eine Frau kennen, die quasi am praktischen Objekt ihr Selbstbewusstsein erwirbt. Einzelne Charakterzüge sind schon zu erkennen, aber der Figur fehlt noch die lakonische Seite. Alyx befindet sich hier ausschließlich auf der Flucht. Sie schlägt ihrem Mann auf den Kopf, ist der Ansicht, dass sie ihn getötet hat und schwimmt förmlich in eine kurzfristige Freiheit. Vieles wirkt noch hölzern, der Handlungsablauf ein wenig pragmatisch und Alyx als Figur unrund. Sie ist weder naiv noch unschuldig oder jungfräulich. Ihr Charakter entwickelt sich förmlich beim Gehen und ihr Mann fordert seine „Bestrafung“ gerade zu heraus. Von den Alyx Geschichten handelt es sich unabhängig vom ironischen Titel, welcher Alyx Charisma unterstreicht, um die schwächste der hier gesammelten Geschichten.

In „Die Barbarin“  ( „The Barbarian“, ein Titel der von der ersten Publikation beibehalten worden ist) kehrt Alyx wieder von den Piraten nach Ourdh zurück. Die Geschichte spielt ungefähjr sechs Jahr nach „Blaustrumpf“. Alyx ist 36 Jahre alt und verheiratet. Sie liebt ihren kantigen Mann und ist bereit, lebensgefährliche Risiken einzugehen, um ihn zu retten und am Ende neben ihm ins Bett zu sinken.  Am Ende von „Blaustrumpf“ hat Alyx auch nach einem Mann Ausschau gehalten. Allerdings hat dieser nicht in Ourdh gelebt. Emotional folgt „Die Barbarin“ direkt im Anschluss an „Blaustrumpf“ und unterstreicht die Tatsache, dass die hier präsentierte Chronologie nicht richtig ist.

Die drei ersten „Alyx“ Geschichten entstanden in den letzten Zügen ihrer eigenen Ehe mit  Albert Amateau.  Erst danach bekannte sich Joanna Russ zur Homosexualität. Vielleicht versuchte die Autorin auch das Trauma einer gescheiterten normalen Ehe zu verarbeiten, indem sie Alyx die ganze Bandbreite von Missbrauch bis  uneingeschränkter Liebe allerdings durch einen Mann erleben ließ.

Alyx soll im Auftrag und mit einem seltsamen Zauberer in einen Palast einbrechen und während der Mission ein für sie nicht akzeptables/ nicht abgesprochenes Verbrechen begehen. Das Herz dieser Geschichte ist die nicht abschließend geklärte Frage, ob man einen Menschen töten darf, von dem man weiß, dass er in der Zukunft grausame Taten vollbringen wird. Nicht mittels der Zeitreise – auf dieses Thema kommt Joanna Russ erst in ihren späteren Geschichten zu sprechen -, sondern weil ein manipulierender Zauberer es angeblich in seiner ambivalenten Glaskugel sieht.  Der Einbruch geht schief und Alyx muss fliehen. Der Zauberer scheint in Form eines Würfels mit der Seele ihres Mannes eingeschlossen ein Faustpfand zu haben. Alyx muss sich auf den Weg machen, den Zauberer zu töten und ihren Mann zu befreien.

Während das Thema der zukünftigen Schuld nur angerissen wird, ist die finale  Konfrontation zwischen dem Zauberer und Alyx sehr viel interessanter. Der Zauberer prallt mit seiner Macht, arbeitet in seinem Turm an Maschinen und kann anscheinend zumindest durch den Raum reisen. Möglicherweise handelt es sich auch um einen Abtrünnigen der Trans-Temporal Authority, für die Alyx  später arbeiten sollte. Alyx durchschaut auf ihre pragmatische Art und Weise das Gehabe des Zauberers und agiert pragmatisch erfolgreich.  Auch wenn sie Respekt vor den fremden Maschinen spürt, trickst sie den Zauberer aus und kann – wie schon angesprochen – ihren Mann retten. Körperlich unterlegen ist es ihr Überlebensinstinkt, der ihr schließlich hilft.

Der Geschichte fehlen die pointierten Dialoge aus „Blaustrumpf“, aber generell entwickelt Joanna Russ ihre Figur weiter. Alyx hat inzwischen nicht nur aus ihrer Ehe, sondern auch der Zeit bei den Piraten gelernt.  Sie scheut sich nicht, einen Menschen aus Notwehr zu töten, aber sie ist natürlich keine Mörderin. Auch wenn sie -  um die eigene Haut zu retten –  zu einer Mörderin wird und eine Unschuldige trotz aller Warnungen töten muss. Dieser innere Konflikt geht angesichts des hohen Tempos der Geschichte im letzten Handlungsabschnitt verloren, aber weniger feministisch als in „Blaustrumpf“ überzeugt Alyx weiterhin als eine Art Anti- Conan. Der Titel könnte auch eine Anspielung auf Robert E. Howards bekannteste Schöpfung , den Barbaran Conan, sein,  während „Blaustrumpf“ ja einzelne Aspekte aus Fritz Leibers Werk übernommen hat.

Der einzige Roman dieser Serie „Picknick auf Paradies“ erschien vor vielen Jahren als „Alyx“ schon im Rahmen der Knaur Science Fiction Reihe ohne die begleitenden Kurzgeschichten.   Der Roman entstand im gleichen Jahr wie „Die Barbarin“.  Der Originaltitel ist voller Ironie, denn der Planet Paradies ist nur für eine kleine Gruppe von Menschen ein Paradies: Extremsportler mit Affinität für Eis und Schnee.  Alyx ist inzwischen eine Agentin, an einer Stelle steht die Agentin der Trans- Temporal Agency.  

Die grundlegende Handlung ist erschreckend simpel und mindestens in Hollywood tausende von Malen verfilmt worden.  Eine Gruppe von unangepassten Menschen soll unter verschiedenen Gefahren von A nach B gebracht werden.  Paradies ist eine perfekte  Spielwelt, wo die Besucher viel Geld bezahlen, um einen realen Nervenkitzel mit dem entsprechenden Sicherheitsnetz zu erleben. Michael Crichton wird diese Idee Jahre später mit Dinosauriern auf die Spitze treiben. Virtuelle Realitäten ergänzen bzw besser extrapolieren inzwischen das von Joanna Russ noch rudimentär  entwickelte Szenario in unzählige Richtungen.

Angeheuert wird eine  Spezialistin/ ein Spezialist, der diese Mission anführen soll. Aufgrund eines mit extremer Technologie geführten Kriegs muss es ein Mensch sein, der ohne jegliche Technik zu überleben gelernt hat. Viele Kandidaten gibt es natürlich nicht. Bei „B“ ist die Mission nicht wie geplant zu Ende, sondern neue Schwierigkeiten türmen sich auf. Neben den äußerlichen Gefahren gibt es Spannungen innerhalb der Gruppe, es gibt Todesfälle und meistens erreichen neben dem Anführer/ der Anführerin zumindest eine Handvoll der anvertrauten Menschen ein Ziel. Wenn auch nicht das ursprüngliche Ziel.

Diese Zusammenfassung des  Plots hört sich erstaunlich simpel an, trifft aber den Kern der Geschichte. Dadurch wird aus „Picknick auf Paradies“ kein grundlegendes schlechtes Buch. Dazu ist Joanna Russ eine zu intelligente Frau und Autorin. Keep it simple, aber spannend. Keine technischen Exkurse und vor allem keine gegen alle  Logik handelnden Charaktere. Die letztere Facette bekommt Joanna Russ relativ einfach hin. An der Spitze Alyx muss die Gruppe fortlaufend reagieren und kann an kaum einer Stelle der Geschichte wirklich agieren.

Alyx wird deswegen auch in einer archaischen „Gegend“ abgesetzt, in welcher die Menschen aufgrund von Angriffen von außen ihre überlegene Technik nicht einsetzen können. Sie müssen die Strecken in den unendlichen Schnee Weiten sowie den Bergen/ Tälern auf Paradies zu Fuß bewerkstelligen. Alyx selbst ist eher durch einen Zufall in der Zukunft gelandet. Sie drohte zu ertrinken und eine Art Zeitschaufel zog sie buchstäblich aus dem Wasser in die Zukunft. Jetzt ist sie die ideale Frau am perfekten Platz, um die exzentrische Gruppe in Sicherheit zu bringen. Joanna Russ hat sehr viel Spaß, den Lesern die Extreme vorzustellen. Zwei Nonnen; eine Mutter mit ihrer Tochter und ein Teenager mit dem Spitznamen Machine und einem ausgebildeten Sextrieb gehören zu der Handvoll Menschen, die auf Paradies gestrandet sind. Alyx betrachtet diese anfänglich als verweichlichte Nervensägen beschriebene Gruppe als minderwertig und wäre sie nicht auf einer Mission – ihr Wort ist Verpflichtung -, dann würde sie die Menschen von ihrem Elend erlösen und in der Schneewüste zurücklassen. Aber wie ein klassisches Held muss sie ihre Mission gegen alle Wahrscheinlichkeit erfolgreich zu Ende führen. Dabei  ist sie für diese Mission in einer Zukunft technisierter Kriege ausgewählt worden, weil sie eine primitive “Barbarin” ist, die durch einen Zufall und ihr Leben rettend in die Zukunft abgefischt worden ist. 

Für sich alleinstehend könnte die Geschichte eher wie ein Torso wirken. In dieser Werksausgabe ist der Leser mit Alyx und ihren Ecken wie Kanten deutlich vertrauter. Vor allem die erste Geschichte „Blaustrumpf“ trägt in dieser Hinsicht viel dazu bei.  Ohne diese „Vorinformation“ hätte es ein Leser schwieriger, sich in dieser eher rudimentär beschriebenen zukünftigen Welt zurechtzufinden und vor allem Alyx als Figur zu akzeptieren.

Gegen Ende spricht Alyx davon, wie sie aus einer im Grunde unmöglichen Situation gerettet und in die Zukunft gebracht worden ist. In ihrem ebenfalls in dieser Sammlung enthaltenen Essay schreibt Joanna Russ über Frauenbilder und Frauencharaktere.  Alyx ist eine interessante Mischung aus den Thesen und Herausforderungen, denen sich Russ vor allem in ihren in den siebziger Jahren veröffentlichten Bücher stellen sollte und der literarischen Hommage an Jyrill, die Amazone, welche C.L. Moore in ihren Fantasy Pulp Geschichten als ersten überzeugenden weiblichen Charakter entwickelte.

Alyx ist eine Überlebenskämpferin, die sich in der griechischen Antike aus verschiedenen, nicht selten auch überheblich selbstverschuldeten Situationen gerettet hat. Sie ist entschlossen, rücksichtslos, aber keine emotionslose Mörderin. Auch wenn die dritte Alyx Geschichte dieser These widerspricht. Sie versucht die Gruppe mit verbalen Beschimpfungen, Motivation und schließlich auch handfester Hilfe an ein immer schwammiger werdendes Ziel zu bringen.

Natürlich gibt es Spannungen innerhalb der Gruppe.  Mit dem Tod einer Frau scheint die Dynamik auseinanderzubrechen. Mit tragischen, teilweise berührenden Folgen. Die  Liebesgeschichte zwischen Alyx und Machine wirkt anfänglich konstruiert, entwickelt sich aber in die richtige Richtung. So versucht Maschine als typischer jugendlicher unerfahrener Mann es beim  zweiten Sex genauso zu machen wie beim ersten Mal. Eine klassische, aus seiner Sicht Alyx Begierden erfüllende Kopie des ersten Akts , welche diese brüsk ablehnt.  Maschine ist ein interessanter Charakter. Einige Jahre vor „Westworld“ und auf einer herausfordernden Touristenwelt mit den ultimativen Kicks angesiedelt besteht auch die Möglichkeit, dass Maschine seinem Namen gerecht wird und tatsächlich eine Maschine ist, welche als Android den weiblichen Touristen die perfekte Lusterfüllung verschaffen soll. Mit dem kräftigen Gunnar als Wikinger, als Mann fürs Grobe, findet sich ein weiterer Prototyp von Mann in dieser Gruppe.

Neben Alyx hat Joanna Russ noch zwei Nonnen – sie bleiben eindimensional wie ihr ambivalent beschriebener Glaube – und eine seltsame, missbräuchliche Mutter- Tochter als Frauenfigur etabliert. Es ist der erste Tod, welche aus der widerwillig zusammenarbeitenden kleinen Gruppe von Wanderern ein Team mit einigen Abstrichen in der Haltungsnote bei Gefahr macht.

Gegen Ende der Geschichte verlagert Joanna Russ den Schwerpunkt der Handlung. Bis dahin ausschließlich eine fast klassische zu nennende Überlebensgeschichte,  fügt sie einen seltsamen Wanderer in einem noch seltsameren Flugobjekt ein. Anscheinend ist und wird Alyx dieser Inkarnation in weiteren Geschichten begegnen. Von seiner Haltung her könnte der Zauberer die erste Version dieses Mannes/ dieses Wesens  außerhalb der Zeit sein.  Auch hier ist es weniger die Technik als eine primitive Waffe, welche ihnen einen Vorteil verschafft. 

Die Rettung kommt schließlich ebenfalls aus dem Nichts. Den Schlüssel hält die bislang unscheinbarste Figur buchstäblich nahe bei sich an ihrem Körper. Joanna Russ hat in ihren Kritiken und Essays immer wieder die dumme Nutzung von Technik kritisiert. Dabei geht es nicht um einen zu phantastischen oder wissenschaftlich absurden Blick in die Zukunft, sondern die Ignoranz von bekannten Fakten der Zeit, als die Geschichten geschrieben worden sind. Zumindest die wissenschaftlichen Beilagen der Sonntagszeitungen sollten angehende Genre Autoren kennen, sonst wären ihre Werke einfach nur minderwertige Fantasy. Sie selbst unterwirft sich nur bedingt diesen Gesetzen.

Vieles bleibt während des hektischen und fast abrupten Endes unaufgeklärt. Sowohl der Hintergrund der Welt als auch die Frage, ob diese Reise wirklich stattgefunden hat oder Teil einer primitiven frühen virtuellen Realityshow gewesen ist, bleiben im Dunklen. Joanna Russ ist aber auch eine sehr intelligente Frau. Mit der „primitiven“ Alyx hat sie einen Charakter etabliert, den diese Fragen nicht interessieren.  Ihr geht es um das alltägliche Überleben und die Zeitschaufel hat sie als einzigen Menschen aus einer akuten Lebensgefahr gerettet, weil sie sich in den Sicherheitskorridoren befunden hat, welche die Zeitforscher etabliert haben, um die Vergangenheit nicht zu gefährden. Wie sie in den Korridor gekommen ist, steht auf einem anderen Blatt und reiht sich in die Phalanx von satirisch komischen Bemerkungen ein, welche durch die neue, sehr gründlich von Hanns Riffel überarbeitete Übersetzung Thomas Zieglers erst jetzt ans Tageslicht kommen. 

Hinsichtlich der emotionalen und sexuellen Evolution ihrer Geschichten ist „Picknick auf Paradies“ eher ein Schritt zur Seite. Alyx ist eine kleinwüchsige – der Sex mit dem großgewachsenen Maschine im Schnee wirkt wie eine Parodie – grauäugige Griechen, die genau weiß, was sie will. Viele Diskussionen und Gespräche gehen weniger um Beziehungen, sondern um klassische heterosexuelle Beziehungen. Männer sind Alyx niemals überlegen, wobei es in dieser Hinsicht auch Einschränkungen gibt. Sie weiß, dass sie körperlich im  Nachteil ist. Kräftige  Männer haben aber auch in einigen Schlüsselszenen mehr Angst, etwas zu verlieren. Ohne es den Lesern unter die Nase zu greifen, entlarvt Joanna Russ die muskulösen Überhelden als opportunistische Feiglinge. Das bedeutet allerdings nicht, das sie nicht ihrem Schicksal entkommen. Es dauert nur einige Seite länger.

Während die Handlung – wie angesprochen – bis auf das kryptische Ende ausgesprochen stringent, fast simpel ist, versucht Joanna Russ eine interessante charakterlich überzeugende Variation der klassischen Pulp Science Fiction mit einer weiblichen Heldin zu verfassen, die nicht mittels Technik oder Wissenschaft, sondern wegen ihrer angeblichen Primitivität perfekt für einen Job ist, den kein „Mann“ dieser Zukunft noch erledigen kann. Sie ist aber noch weit von der sozialkritischen, feministischen und vor allem Geschlechterrollen untersuchenden Science Fiction der 70er Jahre entfernt. Nicht einmal Ansätze über Alyx Charakterisierung hinaus finden sich in diesem Roman. Dieses Spiel mit den Erwartungen der Leser als Space Operas ist vielleicht  die am ehesten zeitlose Note einer lesenswerten, aber im direkten Vergleich zur überraschenden ersten „Alyx“ Geschichte „ Blaustrumpf“ – bis auf deren schwaches, plötzlich fast klischeehaftes Ende – ein wenig mechanisch wirkenden ersten reinen Science Fiction Geschichte um die griechische Diebin.  

1977 schrieb Joanna Russ “We are about to…” eine Variation dieses Themas. Dieses Mal ist eine Gruppe von Touristen auf einer fremden Welt gestrandet. Joanna Russ hat ein sichtliches Vergnügen, die Klischees des Golden Ages bezüglich Zivilisationen und sozialen Zusammenleben noch nachhaltiger zu demontieren als es in Ansätzen in dem vorliegenden Kurzroman erkennbar ist.            

In „Orbit“ 6 erschien 1970 mit „The Second Inqiusition“ – in der Werksausgabe auch passend als „Die zweite Inquisition“ eine weitere Alyx Geschichten.  Wieder spielt die Autorin mit Elementen. Die Grundhandlung ist relativ simpel und doch komplex, aber nicht kompliziert angelegt. Die sechzehn Jahre alte Erzählerin lebt bei ihren Eltern. Sie haben eine großgewachsene, seltsame Besucherin aufgenommen, die anscheinend großzügig für diesen Aufenthalt bezahlt hat. Warum die Eltern der Erzählerin die junge Frau aufgenommen haben, wird nicht erklärt. Der Vater scheint Geld zu verdienen, während die Mutter sich klassisch-  klischeehaft um die Tochter kümmert. Später implizierte die Besucherin, dass sie eine Zeitreisende sein könnte. Sie wäre die Enkelin von Alyx, bekannt aus den ersten Geschichten.  Die Organisation, welche Alyx aus der Vergangenheit gefischt hat, wird genauso vorgestellt wie die Idee eines  Konflikts zwischen den Gruppen. Auch scheint es eine Art Zauberer zu geben, denn die Besucherin mit Haushaltsmitteln „töet“. Ganz klar ist dieser Aspekt der Geschichte nicht. Das Töten eines Zauberers, einer mächtigen Gegenidentität, findet sich in unterschiedlichen Variationen nicht nur in „Die zweite Inquisition“, sondern auch in „Die Barbarin“ sowie „Picknick auf Paradies“ mit dem Mann in seiner fliegenden Glaskugel. Alle drei Männer können aufgrund der Schwächen, angelegt in der eigenen  Arroganz mit eher primitiven Mitteln besiegt werden.

Aber in „Die zweite Inquisition“ steckt noch mehr. Die Besucherin steckt die Sechzehnjährige mit  ihrer Liebe zu H.G. Wells an. Sie soll Menschen fragen, ob sie sich als Morlocks oder Elois sehen. Sie selbst hat dieses Experiment schon in Großbritannien durchgeführt und erstaunliche Ergebnisse ans Tageslicht gebracht. Es gibt heftige Diskussionen um das Buch „The Green Hat“ von Michael Arlen, einem Skandalbuch.  Die Besucherin findet den Roman schlecht, provoziert aber ihre Gasteltern, indem sie von Zeichnungen zu Beginn des Buches spricht, die sie ausradiert  hat. Es gibt keine Zeichnungen, niemand will ihr widersprechen. Dann müsste zugegeben werden, dass die Eltern dieses skandalöse Buch im Bücherschrank des Vaters gelesen haben. Im Roman geht es um eine fremdgehende selbstbewusste Frau, die sich gegen die eigene Familie stellt und die Ehe ihres heimlichen  Liebhabers zerstören will.  Das dunkle Ende des Romans spricht für sich.

Die Besucherin ist in einer gegenteiligen Ehe gelandet. Joanna Russ macht deutlich, dass die Besucherin mit ihrer geistigen Freiheit die Tochter ansteckt, den Keim der Rebellion in ihre sähen wird.  Es ist nicht ganz klar, ob Joanna Russ sich eine historische Persönlichkeit als Vorbild genommen hat. Aber die Rollenmuster sind bis zum Eindringen der Besucherin klar.  Die Mutter ist eher devot, sie ist ihrem Mann Untertan. Dieser scheint zwar dominant, aber nicht gewalttätig zu sein. Er ist abschließend auch mit der in sein Privatleben eindringenden Frau überfordert, die vor allem mit fast zwei Meter Größe auch noch überdurchschnittlich groß und damit trotz ihrer Schlankheit ihm gegenüber Ehrfurcht einflößend ist.  Am Ende der Geschichte auch inspiriert durch den Eindringling finden sich zwei konträre Punkte. Die junge Frau beginnt von der Zukunft zu träumen. Von Zeitreisen und schließlich auch Flügen zwischen den Sternen.  Von der gegenwärtigen wie zukünftigen Science Fiction. Die Geschichte spielt zwölf Jahre vor Joanna Russ Geburt. Wäre sie die sechzehnjährige junge Frau, dann müsste der Text in den fünfziger Jahren spielen, in denen sich das (weiße) Frauenbild durch deren Arbeit an der Heimatfront zu wandeln begann. Aber nicht in der klassischen amerikanischen Vorstadt, welche für viele Science Fiction Autoren immer noch im Mittelpunkt ihrer retrofuturistischen Science Fiction Geschichten steht. Auf diesen Punkt ist sie im zweiten, hier abgedruckten Essay hinsichtlich des Frauenbilds eingegangen. 

Die Geschichte endet mit dem Hinweis, dass es keine weiteren Geschichten mehr geben wird. Bezieht sich Joanna Russ auf ihren Charakter Alyx, der ja aktiv nicht an der Handlung teilnimmt? Bezieht sich die Autorin auf ihre eigene Karriere? In diesem Fall wäre der Hinweis falsch, denn vier Jahre später schreibt sie noch einen Text, der im „Alyx“ Universum spielt und publiziert zusätzlich eine Reihe von sozialkritischen Kurzgeschichten und Romanen, deren Hintergrund nicht selten klassische Science Fiction ist. Die letzte Idee wäre ein Aufruf an ihre sechzehn Jahre alten Protagonisten, dass es Zeit ist, aufzuwachen und nicht mehr Geschichten zu erfinden, sondern das moderne Leben aktiv in die Hand zu nehmen.

Es ist die einzige Geschichte, die mit dem Satz endet „Keine Geschichten mehr“ endet. Alle anderen kürzeren „Alyx“ Storys enden mit dem fast märchenhaften Hinweis, aber „Das ist eine andere Geschichte“.

1974 folgte in „The Magazine of Fantasy & Science Fiction“ mit “Eine Vlet- Partie” die letzte Story, die im “Alyx“ Universum spielt.  Es handelt sich in dieser Werksausgabe um eine deutsche Erstveröffentlichung, übersetzt von Hannes Riffel.  Sie spielt wieder in Ourdh, ein Kreis hat sich geschlossen. Neben einem Dieb, der dem Herrscher ein besonderes Vlet Spiel überbringen möchte, gibt es eine ältere Frau, die sich – wie am Ende bekannt wird – quasi in den Palast geschlichen und eine entsprechende Rolle übernommen hat. Bei dieser Frau könnte es sich um Alyx handeln. Das würde allerdings implizieren, dass sie nach ihrem Ausflug in die Zukunft wieder nach Ourdh gekommen ist. In „Die zweite Inquisition“ macht Joanna Russ schon deutlich, dass das vorsichtige Fischen in der Zeit vorbei ist.  Alyx ist ja nur durch einen Zufall in der Zukunft gelandet. Die Menschen schicken jetzt aktiv Beobachter in die Vergangenheit. Vielleicht haben sie es in Form des Zauberers auf eigene Rechnung auch schon früher gemacht. Dafür gibt es keinen Beweis, aber in „Die zweite Inquisition“ sprechen sie offen darüber.

 Die Idee des Vlet Spiels – eine komplexere Version des klassischen Schachs – wird später Einzug in Samuel R. Delanys halten, einem Buch, das sehr stark von Ursula K. Le Guins „Planete der Habenichts“ beeinflusst worden ist.  Auch Delanys „Neveryon“ Geschichten nehmen – wie Hugh Walkers MAGIRA Abenteuer – eine Welt als Basis, die von einem strategischen Spiel beherrscht wird. Allerdings fügt Joanna Russ ihrer Geschichte noch eine ironische Note hinzu. Das Spiel kontrolliert diese Gesellschaft, die Spieler versuchen, das Spiel unter Kontrolle zu bekommen. Was  passiert, wenn eine Partei nicht nur nicht diejenige ist, die sie vorgibt, sondern die Regeln des Spiels im Verlaufe einer Partie zu ändern beginnt? Welche politische Folge hat  eine solche Manipulation für eine feudalistische, dekadente und in Ourdh auch archaisch strukturierte Gesellschaft, mitten aus einer bizarren Version der Geschichten aus 1001 Nacht?

Während Joanna Russ vor allem Delaney beeinflusste, fühlte sie sich von Avram Davidsons „The Phoenix and the Mirror“ inspiriert. Joanna Russ machte auch klar, dass es sich um die letzte, um die allerletzte Alyx Geschichte handelt.  

  Wie in den ersten „Alyx“ Geschichten tritt die gereifte Überlebenskämpferin -  inzwischen deutlich älter- quasi aus dem Nichts auf. In fremden Kleidern scheint ihre eigene Planung durch die Eindringlinge empfindlich gestört zu sein. Den Herrscher und seine Mätresse hat sie zur Ausführung ihres Plans ins Land der Träume geschicht. 

Sie wird allerdings von dem geschickt in den Palast eindringenden und sie an eine jugendliche Version ihrer selbst erinnernden Dieb, den die Palastwache aufgegriffen hat, gestört und schließlich fast aus lauter Verzweiflung zu einer Partie Vlet aufgefordert, nachdem sie das besonders feine,  ausführlich als jungfräulich beschriebene Spielbrett mit den feinen Figuren entdeckt hat.  Aus diesem Spiel wird -  allerdings eher im metaphorischen Sinne- eine Auseinandersetzung mit der feudalistischen, realen Welt. 

Im Gegensatz zu den dunkleren ersten „Alyx“ Geschichten ist dieser Epigone deutlich verspielter, Alyx provokanter und  gleichzeitig auch souveräner. Sie weiß zwar, dass mit dem Spiel aus einem unerklärten Grund auch die politische Realität außerhalb des Palastes beeinflusst werden kann, aber vieles basiert eher auf Hoffnungen, aber keinem Ausharren. Die Saat der Revolution des einfachen Volkes gegen die Dekadenz des Herrschers ist aufgegangen, es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Massen die Tore stürmen werden.  Aber das ist eine andere Geschichte, auch wenn Joanna Russ vorher schon deutlich gemacht hat, dass es diese aus ihrer Feder nicht mehr geben wird.

„Eine Vlet- Partie“ wirkt daher eher wie eine verspielte Fussnote im „Alyx Universum“, die sich auf die Veränderung einer mittelalterlichen feudalistischen Gesellschaft, subversiv von außen, aus der Zukunft konzentriert.  In dieser Hinsicht wäre „Eine Vlet- Partie“ ein weiterer Schritt der zukünftigen Menschheit in Richtung einer Veränderung der Vergangenheit. Das hat sich in „Die zweite Inquisition“ schon angedeutet, konsequenterweise würde die am Beginn dieser Serie stehende „Alyx“ im antiken Griechenland, dem Hort der Demokratie, auch den letzten, finalen Schritt übernehmen.  Moderne feministische Untertöne finden sich nur in “Die zweite Inquisition“ - der Inquisitor wäre in diesem Fall der extrem konservativ denkende Familienvater -, während die anderen fünf Geschichten Alyx als eine instinktiv handelnde; durchaus auch bauernschlaue bis pragmatisch intelligente Frau in der Tradition von C.L. Moores Jirel von Joiryl zeigen.  Karl Edward Wagener schrieb in einer Anthologie über die Verbindung zwischen Cl. Moore und Jirel: “    „Like her creator, Jirel was a redhaired beauty and fiercely independent—arguably one of the genre’s first liberated heroines. Jirel was not simply Conan in a brass bra. Moore portrayed Jirel with a depth of characterization and a sure grasp of feminine feeling that placed Jirel generations beyond the rest of the pulp field.“  Der noch erhalten gebliebene umfangreiche Briefkontakt mit H.P. Lovecraft unterstreicht die von Karl Edward Wagener angesprochenen Charakterzüge. Kein Wunder, dass sich Joanna Russ wahrscheinlich an der fiktiven Figur, aber auch ihrer Autorin orientiert hat.

Wenn aber Jirel ihrer Schöpferin C.L. Moore ähnelt, stellt sich die Frage, ob Joanna Russ ihre Alyx auch nach dem eigenen Vorbild erschaffen hat.   Wahrscheinlich ähnelt die sechzehnjährige Protagonistin aus “Die zweite Inquisition” am meisten Joanna Russ am Vorabend ihres auch intellektuellen Erwachens.  Alyxs Kurzschwert ist genauso scharf wie die Zunge bzw. Feder der Kritikerin Joanna Russ. Joanna Russ war aber eher eine hochgewachsene Frau, die gerne eine Kurzhaarfrisur trug. Absichtlich entwickelt sie gleich zu Beginn der zweiten, hier ersten Geschichte “Blaustrumpf” Alyx äußerlich als eine Art Gegenentwurf nicht nur zu sich selbst, sondern auch Frauenfiguren wie Jirel oder die tragische Shambleau in C.L. Moores erster professioneller Veröffentlichung. Klein, eher gedrungen mit markanten grauen Augen. Ein scharfer Geist in einem durchschnittlichen Körper. Ein wildes Mädchen aus den Hügeln im Umland der großen Stadt. Viele Kritiker sagen, dass kein Mann Alyx besiegen kann. Diese These ist so nicht richtig, wie das Ende von “Blaustrumpf” und der Abschluss von “Die Barbarin” beweisen.  Tief in ihrem Inneren sehnten sich Alyx und Joanna Russ nach wahrer Liebe, basierend auf einem respektvollen Umgebung miteinander.  

Zusammen mit C.L. Moores Jirel Geschichten bilden die sechs “Alyx” Stories aber ein interessantes Gegengewicht zu den Macho Phantasien, welche sich sowohl im “Sword & Sorcery” Genre wie auch der seltsamen Science Fantasy Gemengelage in erdrückender Vielzahl tummeln. Das macht die Arbeiten der beiden Autorinnen zeitlos und wieder entdeckenswert.  

Im sekundärliterarischen Teil finden sich drei Kolumnen aus „The Magazine of Fantasy & Science Fiction“, wie eine Buchsparte eines eher wissenschaftlich orientierten Magazines. Joanna Russ reiht sich in eine Phalanx von bekannten Kritikern ein, die seit Jahrzehnten Publikationen in “The Magazine of Fantasy & Science Fiction” vorstellen. Wie in den beiden anschließend ebenfalls abgedruckten Artikeln liebt Joanna Russ die Bloßstellung der Autoren mittels Zitaten. Als wenn sie die Dummheit oder Naivität der Schriftsteller ans Licht der Öffentlichkeit ziehen will. Diese Vorgehensweise betrifft in den hier gesammelten Sparten bekannte Schriftsteller wie Kate Wilhelm oder Poul Anderson, dem sie unterschiedliche Schriftsteller Persönlichkeiten unterstellt. John Boyd spricht sie jegliche schriftstellerische Fähigkeiten ab und sein Verlag sollte sich schämen, ein solches Machwerk veröffentlicht zu haben. 

Sie verehrt James Blish, Harlan Ellison und Samuel R. Delany.  Ihre Kritik ist beißend, entlarvend, aber abschließend durch die Fokussierung auf die einzelne Geschichte auch wieder versöhnlich.  Joanna Russ greift niemals den Menschen direkt an, sondern weist auf noch vorhandene literarische Schwächen hin und ist optimistisch, dass er/sie sich nur verbessern kann und wird. Diese Vorgehensweise ist für eine Autorin, die ebenfalls im Genre tätig ist, natürlich ein Ritt auf der Rasierklinge, aber mit aller Routine einer Professorin und dem Charme einer Frau ( auch wenn sich Joanna Russ wahrscheinlich ob dieser Bemerkung im Grabe umdreht) macht sie aus ihren Verrissen lesenswerte zeitlose Traktate.       

Im ersten der beiden sekundär literarischen Artikel ist die Nachbemerkung gleichzeitig eine Art Schlüssel. Frustriert angesichts des schematischen Denkens ihrer Studenten hat sich Joanna Russ in ihrem Essay über Tagtraumliteratur am Beispiel  von Lindsays “Reise zum Arkturus” ein wenig den Frust von der Seele geschrieben.  Auf der einen Seite definiert Joanna Russ einzelne Grundbegriffe inklusive exotischer, aber passender Namen, damit ihre Art von Science Fiction und damit Tagtraumliteratur überhaupt funktionieren kann. Viele Bücher scheitern an ihrer schematischen Darstellung von Alltäglichen, als über den Tellerrand zu schauen und zu experimentieren. Die Gedanken sind zu verkopft und der Traum, das Spiel mit der (eigenen) Phantasie, findet zu wenig im kommerziellen Buchbetrieb statt. Kritik an den eigenen Studenten ist angesichts fehlender Erfahrung der Leser mit Joanna Russ Unterrichtsstil schwierig, aber sie scheint ein weiblicher Mister Keating zu sein, deren “Club der toten Dichter” nicht unter der Erde, sondern zwischen den Sternen beheimatet ist.   

In ihrem ersten Essay kritisiert Joanna Russ die fehlende wissenschaftliche Kompetenz bei der von ihr als Tagtraumliteratur bezeichneten Science Fiction. In der Fantasy ist sie großzügiger, auch wenn Tolkien als Professor für Literatur hinsichtlich einiger sprachlicher Mängel einiges mitbekommt.  Science Fiction Autoren sollten zumindest den wissenschaftlichen Teil der Tageszeitung lesen können, sonst wären sie im Genre falsch. Im zweiten Essay spricht sie davon, dass es viele Frauenbilder in der Science Fiction, aber nur wenige Frauen.  Die Bemerkung Frauen bezieht sich weniger auf weibliche Autorinnen, deren verstärkte Präsenz Joanna Russ Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre wohlwollend aufgenommen hat, sondern auf das Bild der Frauen. Nicht selten wird der amerikanische weiße Vorstadt Mittelstand mit seinen konservativen Bild von Wohnen, Leben, Familie und vor allem Kindern/ Kindererziehung in die Zukunft übertragen, ohne dass sich jemand Gedanken über neue Lebenskonzepte macht. Auch progressive Autoren wie Samuel R. Delany setzen sich mit Ideen sexueller „Gemeinschaften“ auseinander, aber wenn es um Kinder geht, dann herrscht auch da eine konservative Haltung vor.

Während Joanna Russ in ihrer Auseinandersetzung mit der Tagtraumliteratur und dem zu konservativen Denken zumindest ihre Kritikpunkte extrapoliert und positive Beispiele zitiert, kann sie in dem zweiten Essay keine Alternativen präsentieren. Auch in ihren frühen Werken finden sich keine wirklich neuen Ideen zu familiären Gemeinschaften der Zukunft.  Zumindest entlarvt Joanna Russ viele angeblich sozial progressive Arbeiten ihrer Kollegen als Fassade.  Positiv stellt sie die Satiren Frederik Pohls heraus, der eine vollkommen durchschnittlichen Frau in „Zeit der Katzenpfoten“ als perfekte Produktesterin für die amerikanische Mittelschicht ins Zentrum seiner Geschichte stellen musste.

Joanna Russ erweist sich nicht einmal bei diesem ihr am Herzen liegenden Thema als ausgesprochene wie aggressive Feministin. Sie will einfach ein wenig mehr Phantasie in den Werken ihrer weiblichen und männlichen Kollegen vorfinden, die gigantische imaginäre Welten bauen, aber nicht über das Frauenbild einer sich um die Kinder sorgenden Mutter hinaus planen können.   

Beide Essays sind weniger aggressiv, weniger entlarvend als die hier gesammelten Buchkritiken aus der Zeit ihrer „Alyx“ Geschichten. Damit soll nicht gesagt werden, dass Joanna Russ plötzlich milde geworden ist. Pointiert, intelligent und mittels zahlreicher Zitate auch direkt zeigt sie ihr umfassendes literarisches Science Fiction Wissen, auch wenn sie an zwei Stellen zugeben muss, das sie nur noch den Inhalt der Texte, aber weder Verfasser noch Titel oder Publikation benennen kann. Aber die Texte waren ihr zu wichtig, als dass sie  nicht auf eine vielleicht unwissenschaftliche Art und Weise präsentiert werden könnten.

Lesenswert sind beide Essays. Sie geben einen sehr guten, belebten wie informativen Einblick in Joanna Russ Erwartungen an die Literaturgattung, die sie von ganzem Herzen seit langen Jahren liebt.

Die Literaturprofessorin und Autorin einer ausführlichen Biographie  Jeanne Cortial begleitet diese dreibändige Werkausgabe mit einem ausführlichen, thematisch den einzelnen Bänden zugeordneten Nachwort. Sie geht auf die Bedeutung der “Alyx” Geschichten im Gesamtwerk ein, ordnet die beigefügten Kolumnen Joanna Russ Ansichten dieser Ära zu. Joanna Russ hat mehr als dreizehn Jahre für “The Magazine of Fantasy & Science Fiction”  geschrieben und den ganzen New Wave rezensionstechnisch begleitet.  Die beiden Essays zeigen - wie erwähnt - Joanna Russ Vorgehensweise. Nicht nur gentechnisch, sondern wie eine fast verzweifelte klingende Fussnote der Profession Joanna Russ an die Autorin Joanna Russ zeigt, auch in Hinblick auf ihre Studentin. 

“In fernen Gefilden” als erster Band der Werkausgabe mit den wirklich vollständigen “Alyx” Geschichten - die letzte aus den siebziger Jahren stammende literarische Abschluss Story fehlt in den amerikanischen Sammelbänden -  ist ein weiterer Meilenstein im Carcosa Programm. Die überarbeiteten Übersetzungen geben Joanna Russ ironischen Unterton perfekt wieder und die Zeichnung der Protagonisten Alyx entschädigt für einige mechanische Plotverläufe vor allem in “Picknick auf Paradies”.  

Herausgeber ‏ : ‎ Memoranda/ Carcosa ; 1. Edition (18. März 2024)

  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 380 Seiten

    Übersetzung: Hannes Riffel, Erik Simon, Thomas Ziegler

  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3910914187

·  ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3910914186

In fernen Gefilden: Werke 1 (Carcosa)