Die Sterne leuchten am Erdenhimmel

Sylvana Freyberg, Alexandra Dickmann, Jaewon Nielbock- Yoon (Hrsg.)

Sylvana Freyberg, Alexandra Dickmann und Jaewon Nielbock- Yoon präsentierten insgesamt sieben Geschichte von südkoreanischen Science Fiction Autoren. Daniel Lozano hat die Texte liebevoll illustriert und ein augenfälliges Titelbild beigesteuert. Sylvana Freyberg schreibt in ihrem auch als Vorwort lesenswerten Nachwort über die Entstehung der Anthologie, anschließend folgen noch Autorenportraits.

 Das amerikanische Online Magazin „Clarkesworld“ hat sich seit einigen Jahren neben der chinesischen Science Fiction auch mit Südkorea beschäftigt. Einige wenige der hier präsentierten Autoren werden ausführlich von Arley Sorg interviewt. Es lohnt sich, diese in die Tiefe gehenden Gespräche und weniger klassischen Interviews nach der Lektüre der entsprechenden Storys zu lesen, um einen besseren Eindruck auch in die jeweiligen Lebenssituationen der Verfasser zu erhalten.

 Kim Bo- Youngs Titelgeschichte „Die Sterne leuchten am Erdenhimmel“ zeigt gleich die Feinheiten der südkoreanischen Science Fiction. Die Story ist als Brief einer Schwester an ihren Bruder verfasst. Anscheinend leidet die junge Frau an einer seltenen Krankheit: Narkopelsie. Ohne größere Vorwarnung fällt sie in eine tiefe Ohnmacht, verliert mehrere Stunden. Inzwischen hat sie die Zeichen der bevorstehenden Bewusstlosigkeit erkannt und verkriecht sich in eine dunkle Kiste. Bei einer Expedition ist sie auf die Botschaft „Die Sterne leuchten am Erdenhimmel“ gestoßen. Sie versucht aus ihrer Höhle – die Hälfte der Zeit ist diese in vollkommener Dunkelheit – heraus, ihrem Bruder eine persönliche Interpretation dieser Worte zu präsentieren. Während sich die Protagonistin anscheinend mehr und mehr in sich zurückzieht, wird der Horizont der Erzählung breiter, dunkle metaphorische Wolken scheinen sich zu verziehen und alles erhält plötzlich eine andere Perspektive, bedingt durch eine wirklich wortgetreue Interpretation dieses einen Satzes. Das Ende der Geschichte ist offen, aber die Autorin öffnet sehr viele Türen und zeigt auf, dass diese Krankheit vielleicht nur eine andere Art von Normalität ist.

 Djunas „Pentagon“ beginnt als klassischer Krimi. Zwei Menschen sind auf brutale Art und Weise ermordet worden. Die Polizei steht vor einem Rätsel. Als Täter kommt eine flüchtige Frau in Frage. Die Suche wird nach einer Jagd auf sich selbst. Verschiedene Identitäten scheinen sich zu überlappen; die Täter sind nicht mehr klar erkennbar. Wie in „Die Sterne leuchten am Erdenhimmel“ lässt sich das Ende in mehrfacher Hinsicht interpretieren. Dabei reicht das Spektrum von einem Traum innerhalb eines Alptraums bis zu einer Bewusstseinsaufspaltung. Ob sich wirklich alles in der Realität abspielt, wird abschließend nicht ganz klar und die Ermittlungen verlaufen nicht immer geradlinig. Zurückbleibt aber eine vor allem zu Beginn verstörend faszinierende, teilweise indirekt auch brutale Kriminalgeschichte voller paranoider Charaktere, die enger miteinander zusammenhängen als sie es sich selbst eingestehen wollen.  

 Lee Sanhwas „Neustart“ vereinigt ein Duo von klassischen Ideen. Bei der Rückkehr aus dem All droht das Raumschiff mit zwei Astronauten abzustürzen. Sie landen in einer Zeitschleife, die letzten vier Minuten wiederholen sich immer wieder. Die Astronauten sind sich dieses Szenarios bewusst. Erschwerend kommt hinzu, dass das Raumschiff ausgerechnet über einer streng militärischen Anlage abstürzen würde, welche diese Katastrophe als Angriff ansehen und eine Weltvernichtungsmaschine in Gang setzen würde. „Dr. Seltsam oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ lässt grüßen. Die Astronauten stehen also vor einer doppelten Aufgabe. Die Welt und das eigene Leben zu retten.

Die Auflösung des Plots ist verblüffend einfach. Ohne zu viel zu verraten, handelt es sich um eine pragmatische Lösung. Diese Simplizität unterminiert das sich stetig spannender entwickelnde Szenario und hinterlässt im Leser trotz der gut gezeichneten beiden Protagonisten eine gewisse Leere.

 „Ein Hauch von Vintage“ (Lee Seoyoung) ist in sexueller Hinsicht für die eher strengeren asiatischen Kulturen eine Offenbarung. In ferner Zukunft können sich vor allem die begüterten Frauen Roboter und virtuelle Stimulationen jeglicher Art kaufen. Die Protagonisten gehört eher zu den Durchschnittsverdienern und ihr robotischer Playboy ist inzwischen ach schon acht Jahre alt. Sechs Jahre hat er ihr gut gedient. Jetzt scheint er kaputt zu sein. Ersatzteile sind schwer zu bekommen und die Industrie versucht der immer verzweifelter werdenden Protagonisten die Nachfolgemodelle anzubieten. Das Ende ist keine wirkliche Überraschung. Es ist sanft, pragmatisch und konsequent. Dazwischen versucht sich Lee Seoyoung auf dem Gebiet der Satire zu etablieren, aber hier wird viel Potential verschenkt. Die Ansätze sind richtig, auch die einzelnen Abläufe wirken ausreichend die Realität extrapolierend, das sie glaubwürdig erscheinen. Aber immer wenn die Geschichte eine bitterbösen sozialen Spitze entgegenstrebt, bricht die Geschichte ab und konzentriert sich auf die romantische Liebesgeschichte zwischen Mensch und Maschine. Emotional vielleicht ein wenig am Rande des Kitsches agiert die Protagonistin aber nachvollziehbar und glaubwürdig, so dass der Leser ihre emotionale Abhängigkeit von ihrem Yeoni auch nachvollziehen kann.   

 „Eine ganz normale Ehe“ von Bora Chung ist eine von zwei Geschichten dieser Sammlung, die sich auf ungewöhnliche Art und Weise mit einem sehr bekannten Sujet der SF auseinandersetzen. Ein Ehemann bekommt mit, dass seine Frau gerne und viel telefoniert. Vor allem nachts und mit einer seltsamen Nummer. Am anderen Ende der Leitung ist ein Mann. Ein klassisches, absichtlich mit einem ironischen Unterton fast als Klischee dargestelltes Ausgangsszenario, das sich anschließend in eine andere Richtung entwickelt. Damit der Plot nicht zu dunkel wird, wird inhaltlich ein Kompromiss gesucht, der nicht zu einhundert Prozent vom Leser nachvollzogen werden kann.

 Aus einer gänzlich anderen Perspektive nimmt sich Park Seolyeon mit „Sisff“ diesem Thema an. Ein Außerirdische ist auf der Erde gelandet und hat in den USA um Asyl gebeten. Er kommt von einem Planeten, auf welchem die beiden Parteien seit Ewigkeiten Krieg führen. Die USA landen mehr als dreihundert Schriftsteller aus aller Welt ein, um mit dem Fremden zu sprechen. Es müssen dabei keine Science Fiction Schriftsteller sein, wie es die amerikanische Weltraumbehörde im 20. Jahrhundert probiert hat. Die Protagonistin ist eine südkoreanische Autorin von historischen Büchern, die kaum bekannt ist. Durch einen Zufall wird sie mit ausgewählt. In Gruppen können die Autoren mit dem Fremden „sprechen“. Am Ende erweitert Park Seolyeon seine First Contact Geschichte in verschiedene, soziale Richtungen. Auf der einen Seite hält sich die Südkoreanerin aufgrund ihrer Erziehung als Frau deutlich zurück, versucht ihre Gedanken zu ordnen. Die ganze Geschichte ist deswegen auch als Artikel, als Bericht, vielleicht auch als Memoiren konzipiert. Auf der anderen Seite stellt sie aber aus der Perspektive ihrer südkoreanischen Gesellschaft nicht nur den eigenen Landsleuten, sondern erstaunlicherweise der ganzen Welt wichtige Fragen hinsichtlich der Flüchtlingsströme, anderer sozialer Gemeinschaften und schließlich auch, was das eigene Leben wirklich auszeichnet.

 Zusammen mit „Sisff“ ist „Genesis“ (Jeon Samhye) die kraftvollste Geschichte dieser Sammlung. Wieder handelt es sich um einen Bericht. Eine junge Frau sollte auf dem Mond den Moonwriter warten, eine gigantische Maschine, die Botschaften auf die Mondoberfläche schreibt. Oft Reklametexte. Ihre Freundin – aber zumindest nicht von beiden Seiten Geliebte – arbeitet auf der Erde in der Wetterkontrolle. Aus unterschiedlichen sozialen Schichten kommend haben die gemeinsam die Ausbildung gemacht und stehen weiterhin in einem engen Kontakt.  Eine Katastrophe führt dazu, dass die Erzählerin auf dem Mond zurückbleibt. Wahrscheinlich als einer der letzten Menschen und ihr Sauerstoffvorrat ist begrenzt. Ein (fast) ganzes Leben zieht in dieser kompakten Geschichte nicht nur vor den Augen der Protagonistin, sondern auch der Leser vorbei. Die Figuren sind ausgesprochen gut gezeichnet, der Plot am Rande des Kitsches entwickelt, geht aber niemals einen Schritt weiter.

 „Die Sterne Leuchten am Erdenhimmel“ ist eine überzeugende Sammlung von südkoreanischer Science Fiction. Auf den ersten Blick unterscheidet sie sich nicht so stark von der westlichen Literatur. Südkorea hat sich seit vielen Jahren eher an der amerikanischen SF orientiert, während die chinesische SF sich mehr und mehr – so weit es die Zensur zuließ – nach innen kehrte. Modern, frech und mit dreidimensionalen Protagonisten werden klassische Themen neu aufgearbeitet, die Perspektive gewechselt und vieles hinterfragt. Nur wenige Storys gehen auf die südkoreanischen Verhältnisse ein. „Sisff“ und „Ein Hauch von Vintage“ ragen in dieser Hinsicht aus der Sammlung heraus. Viele der handelnden Figuren sind Frauen. Über die Hälfte der hier vertretenen Autoren sind auch Frauen. Vielleicht liegt es daran.

 Als deutschsprachiger Einstieg in eine hier kaum bekannten Science Fiction bildet „Die Sterne leuchten am Erdenhimmel“ einen fast perfekten ersten Schritt mit sieben Geschichten, die alle stilistisch überdurchschnittlich gut sind; die Übersetzungen lesen sich deutlich fließender als im amerikanischen „Clarkesworld“ mit Übertragungen ins Englische. Perfekt wäre die Sammlung gewesen, wenn die Herausgeber noch ein wenig mehr auf die Entwicklung der SF in Südkorea in Form eines Artikels eingegangen wären. Interessierte können das – wie schon angesprochen – teilweise durch die Interviews mit entsprechenden Autoren/ Autorinnen im Internet mit den alten „Clarkesworld“ Ausgaben nachholen.    

 

Die Sterne leuchten am Erdenhimmel: Science Fiction aus Südkorea (Memoranda)

  • Herausgeber ‏ : ‎ Memoranda; Originalausgabe Edition (18. März 2024)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 200 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3948616965
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3948616960