„Air“ ist der neunte Titel des Sublabels „Zwischen den Stühlen“ und Lukas Verings erster Roman. Immer wieder hat p.maschinery in „Zwischen den Stühlen“ Titel veröffentlicht, die in den Bereich der Science Fiction gehören, aber über die literarischen Grenzen des Genres hinweg ausstrahlen sollen. Gabriele Behrend hat hier unter anderem einem einen sehr interessanten, dystopischen und optimistischen Text zugleich veröffentlicht.
Der 1988 geborene Lukas Vering lebt und arbeitet im Ruhrgebiet. Nach einem Studium der Literatur- und Kulturwissenschaften ist er momentan journalistisch tätig und macht Öffentlichkeitsarbeit. Bislang sind seine Texte vor allem in Anthologien und Literaturzeitschriften sowie E Books erschienen.
Schon 2017 schrieb der Blog Kulturgeschwätz über Lukas Verings „Air“, im Jahre 2023 ist das Buch dann bei p.machinery erschienen.
Die Ausgangslage ist faszinierend, aber sie wirkt auch ein wenig zu sehr auf eine literarische Perfektion hin konstruiert. Lukas Vering schaut nicht über den Horizont seiner „kleinen“ konstruierten Welt hinaus und präsentiert keinen Blick in das große Ganze. Das ist für die zugrundeliegende Handlung auch nicht notwendig, da sie sich mit Individuen in oder knapp außerhalb ihrer “Wohlfühlzonen” auseinandersetzt. Auf der anderen Seite wäre eine umfangreicher beschriebene und nicht nur derart subjektiv aus wechselnden Erzählperspektiven präsentierte Welt für den Leser attraktiver, da eine der wichtigsten Komponenten ja “Air” als normale Luft zum Atmen, aber auch “Air” als eine neue Form von Inhalation Droge ist.
Die Gesellschaft hat sich scheinbar von der Natur und ihren natürlichen Ressourcen gelöst. Alles ist künstlich und wird autark hergestellt. Kein neues Szenario, wobei Ian MacDonald in seiner „Luna“ Trilogie diese Selbstversorgungsgesellschaft auf dem Mond platziert und mit 3 D Druckern ausgerüstet hat. Wie viele Menschen auf diese Art und Weise leben und woher die Grundprodukte kommen, bleibt außen vor. Der Leser muss diese Prämisse akzeptieren.
Die Menschen wohnen kompakt in künstlichen Städten anscheinend unter Kuppeln, welche einen Austausch mit der Umgebung verhindern. Der Radius der Menschen ist eng beschränkt, auch wenn es zumindest in dieser Siedlung verschiedene Viertel für Reiche und Arme gibt. Soziale Klassen lassen sich auch in einer sterilen, geplanten Umgebung nicht herausfiltern.
Das Meer ist durch Beton abgeschottet, liegt also außerhalb des Wirkungskreises der im Blog „Kulturgeschwätz“ als Ausgangspunkt angesehenen Risikogesellschaft. Dabei scheint diese Definition auch nicht ganz richtig, denn das einzige Risiko ist der Mensch per se mit seinem weiteren vorhandenen Selbstzerstörungswillen. Die Droge Air hat die normalen Waffen ersetzt. Air bezieht sich auch auf die künstliche Luft, welche die Menschen atmen. Bis zu einem gewissen Grad lässt sich Luft künstlich herstellen, ohne dass sie recycelt werden muss. Aber auch hier verweigert der Autor einen notwendigen Blick hinter die Kulissen.
Wie viele Menschen selbst in der kleinen, von den beiden Erzählern zugänglichen Zone in dieser künstlich sterilen Welt leben, wird nicht extrapoliert. Sie ist da und der Leser sollte oder besser muss sie akzeptieren. Eine der Schwächen eines Debütromans. Der Elfenbeinturm ist stärker als die Logik. Er funktioniert, solange sich der Leser an der Seite der leider ein wenig schematischen wie unsympathisch charakterisierten Protagonisten aufhält. Sobald der Leser bzw. Zuschauer das Buch oder das Kino verlässt, das Nachdenken einsetzt, umso schwieriger wird es, diese Prämissen auf einer globalen Ebene zu akzeptieren.
Mit der Fokussierung auf seine wenigen Figuren, auf diesen umgrenzten Raum verzichtet Lukas Vering auch auf einen allwissenden, umfassenden Erzähler, welcher die Leser an die Hand nimmt und nicht durch die Handlung, sondern den Hintergrund der Geschichte führt. Diese fast absichtliche Desorientierung ist bei einigen Büchern ein spannungsförderndes Element, funktioniert aber bei Lesern, welche ein ausführliches wie in sich logisches Worldbuilding verlangen, nur bedingt. Bekannte Autoren haben mehrfach geschrieben, innerhalb der eigenen Rahmenbedingungen ist alles literarisch erlaubt, nur müssen diese Eckpfeiler der eigenen Welt auch in sich stimmig sein. Bei “Air” ist es schwierig, diese Eckpunkte über die schon mehrfach angesprochene Idee hinaus zu erkennen.
Eine Welt unter vollständiger planerischer Kontrolle kann keine anarchistischen Elemente akzeptieren. Es gibt eine Art Dating App, welche die Menschen matched. Auch hier stellt sich die Frage, ob aus diesen einzelnen Treffen Beziehungen oder Familien werden können. Über weite Strecken geht es nur um das Kennenlernen, die verzweifelte Suche nach der besten Bewertung und damit auch das Ranking. Diese Szenen tragen satirische Züge zur Gegenwart in sich, bleiben aber auch ein wenig auf der Strecke. Zumindest scheint der Protagonist keine zweiten Dates zu haben, auch wenn es bei dem zweiten in diesem Buch beschriebenen Treffen zumindest zu einem für die Frau sehr zufriedenstellenden One Night Stand reicht. Interessant erscheint, dass sich die Beiden nicht zumindest wieder verabreden und die Gemeinsamkeiten genießen. Eine gute Bewertung und das war es. Die Stellung des Individuums in dieser hierarchisch aufgebauten Gesellschaft ist einer der roten Fäden, der ”Air” von anderen Dystopien positiv abhebt.
Für das „Bild“ dieser Gesellschaft ist Ty Redfern 427 – warum werden die Namen immer derartig verkünstelt und distanzieren den Leser zusätzlich von in diesem Fall auch nur einzenen Charakteren ? – mit verantwortlich. Er arbeitet in einer Werbeagentur und verkauft kapitalistische Illusionen. Einige der von Lukas Vering angeführten Beispiele sind interessant, aber der Leser fragt sich, woher das Geld für den Kauf der manchmal auch sinnfreien Produkte kommen soll, wenn es anscheinend nur eine kleine Gruppe von Menschen, die intellektuelle Oberschicht gibt? Aber selbst in der Werbebranche streben die Menschen nach Höherem. Zurück zur wahren Natur, wie eine Versammlung unter einer künstlichen Kuppel zeigt, die als Illusion wieder einen wunderschönen Himmel zeigt. Die Illusion nährt die Illusion, wie auch zum künstlichen Regen Regenschirme an den Mann oder die Frau gebracht werden müssen. Mittels Reklame. Das Perpetuum Mobile.
Privat hat Ty weniger Glück. Er sehnt sich danach, eine Frau einfach so kennenzulernen, was aber unmöglich ist. Zu Beginn der Geschichte kehrt er zum wiederholten Male zu spät und frustriert von einem Date zurück, das eigentlich schon nach zehn Minuten zu Ende sein sollte. Eine schlechte Bewertung bringt ihn näher in den C Bereich, in denen Mann nicht mehr die richtigen Partner findet. Der Gegenentwurf ist einer der Drogendealer - „Air“ ist eine Droge, teilweise mit Meeresgeruch -, der sowieso nur in seinem Viertel und auf seiner sozialen Ebene daten darf. Und die Tussies bekommt er sowieso, sie müssen wir „Air“ es bei ihm „abarbeiten“. Zumindest dieser Aspekt hat sich selbst in Lukas Verings Zukunftswelt nicht verändert.
Durch einen Zufall lernt Ty Redfarn 427 dann doch Pamina kennen. Pamina ist das archaische Element, das die langweilig geordnete Welt Tys durcheinander bringt und ihn zu einem „Rebellen“ mit einer Brise „Air“ unter der Nase werden lässt.
Der Autor versucht den Widerspruch zwischen einer komplett kontrollierten Welt – aus welchem Grund auch immer – und der Sehnsucht des Menschen nach Individualität herauszuarbeiten. Es gibt aber noch einen zweiten Widerspruch in der Geschichte. Auf der einen Seite ist Ty ist das stringente System eingebunden und wird in der Theorie erst frei, als sein Konto vier Nullen als Kontostand anzeigt, auf der anderen Seite arbeitet er als kreativer Geist an der Gestaltung dieser Welt mit. Zumindest bis zu dem Augenblick, als er Pamina kennenlernt. Vielleicht wäre es effektiver gewesen, einen klassischen Arbeiter mit einer Fließarbeit als „Ausbrecher“ in den Mittelpunkt der Geschichte zu stellen. George Orwell hat das in „1984“ ein wenig, effektiver und pointiert besser geschafft. Vor allem hätte Lukas Vering seine Figuren dreidimensionaler, sympathischer und damit auch zugänglicher darstellen müssen. Die Welt ist erdrückend und deswegen bin ich langweilig, angepasst und eindimensional? Es fällt anfänglich schwer, den Figuren emotional zu folgen und damit ihre eher aufgesetzten Probleme zu verstehen. Die zwei Dates werden so distanziert beschrieben, der Sex scheint mechanisch, aber erfüllend zu sein, das sich der Leser fragt, wie ein perfektes Treffen aussieht. Ty ist als Figur eher langweilig, auch wenn seine Arbeit aufregend, kreativ, aber auch manipulierend ist. Ty stellt sich auch nicht gegen das System, das System stellt sich irgendwie gegen ihn. Er wirkt im Vergleich zu der ein wenig lebendiger und interessanter gestalteten Pamina wie ein Fremdkörper, der ausgesondert werden muss.
Lukas Vering unterbricht auch den Handlungsstrom, in dem er einen Perspektivwechsel vornimmt. Aus der distanzierten Erzählebene mit einer dritten Person wird die intimere Ich- Erzählung, allerdings mit einem anderen Charakter. Dieser Bruch trifft den bis dahin sorgfältig, fast wie auf einem Reißbrett entwickelten Roman und damit den Leser unvorbereitet und wird wie vieles in der Geschichte gekünstelt. Zwar finden sich wiederkehrende Motive – das Meer, ein Baum, aber auch die Hoffnung, irgendwann direkt in den Himmel sehen zu können -, aber sie wirken eher wie Versatzstücke, um das Interesse des Lesers hochzuhalten.
Lukas Vering verlangt Geduld von seinen Lesern. Sprachlich intensiv, stellenweise ein wenig experimentell verdichtet er buchstäblich seine kleine Welt, insbesondere im ersten Drittel des Buches noch mehr. Wie angesprochen, erhält der Leser nur notwendige Informationen, vor allem fragmentarisch, aber nicht zufriedenstellend. Seine Figuren entwickeln sich nur bedingt beim Gehen, beim Fortschreiten der Handlung. Das macht das Ausbrechen aus den Strukturen, diese charakterliche Wandlung zum dunklen Ende hin schwieriger zu greifen , fokussiert allerdings auch die Aufmerksamkeit der Leser auf das Wesentliche. Diese extreme Kompression der Handlung wirkt angesichts eines Umfangs von mehr als vierhundert Seiten fast verstörend pervers, erweist sich aber angesichts einiger Längen im mittleren Abschnitt und der schon angesprochenen, nicht unbedingt zwingend notwendigen Änderung der Perspektive als notwendig. Ein wenig überambitioniert will und muss Lukas Vering seine Leser eng bei sich behalten, damit sie nicht die Logik der von ihm geschaffenen künstlichen Welt hinterfragen. Jeder Ausbruch nicht nur seiner Figuren, sondern auch der Leser würde diese dystopische Illusion zusammenfallen lassen.
Es ist die Reise, welche „Air“ interessant macht. Einzelne Aspekte werden dem Leser aus anderen dystopischen Romanen bekannt vorkommen. Liebesgeschichten vor dem Ende der Welt im Angesicht einer kompletten Überwachung sind auch nicht neu. Selbst die absolut künstliche Welt ohne weitergehende Erklärungen findet sich in vielen Büchern, beginnend im deutschsprachigen Raum mit einigen Arbeiten Herbert W. Frankes. Das sind alles Ideen, welche Lukas Vering eher variiert als wirklich entwickelt. Seine Figuren sind mehr kompliziert als komplex, der Notwendigkeit der Konstruktion der Geschichte geschuldet. Für einen Erstling finden sich aber beginnend mit der besonderen Droge „Air“ auch eine Reihe von Szenen, von Begegnungen und schließlich auch kleineren Handlungsfäden, welche sich in diese Welt mit ein wenig Druck eingeflochten unterhalten und herausfordern. „Air“ ist kein leichtes Buch, es ist aber auch nicht wirklich sperrig. Es funktioniert unter den angesprochenen Prämissen in dieser künstlichen Umgebung mit einigen Einschränkungen zufriedenstellend bis gut. Um auf den Blog Kulturgeschwätz und damit den Begriff der Risikogesellschaft zurückzukommen. Lukas Vering hat versucht, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen und ist – vielleicht unbewusst – zur Erkenntnis gekommen, dass es immer ein Element gibt, das nicht kontrollierbar ist: der Mensch. Und damit gibt der Autor eine direkte Antwort auf die verschiedenen soziologischen Modelle, die an den Universitäten entwickelt worden sind und weiterhin entwickelt werden: es wird nie eine perfekte Gesellschaft geben, da das ein Widerspruch zum nicht perfekten Menschen ist. Mit dieser Erkenntnis kann der Leser „Air“ durchaus gut einatmen.
- Herausgeber : p.machinery; 1. Edition (24. Juli 2023)
- Sprache : Deutsch
- Taschenbuch : 496 Seiten
- ISBN-10 : 3957653436
- ISBN-13 : 978-3957653437
- Lesealter : Ab 14 Jahren