Infinitia

Andreas Brandhrost

Andreas Brandhorst liebt es groß, auch wenn seine Geschichten nicht immer von den Protagonisten diese  Art von Größe verlangen. In „Infinitia“ – seinem vorerst letzten Buch im Piper Verlag, bevor er wieder zum Heyne Verlag zurückkehrt, in dem seine zweite Schriftstellerperiode begonnen hat – gibt es nicht nur Unsterbliche und Multiversen, Raum und Zeit sind mit Einschränkungen manipulierbar und das Universum per se ambivalent.

„Infinitia“ ist ein alleinstehender Roman, auch wenn der Autor Bezüge auf seinen ebenfalls im Piper Verlag veröffentlichten Roman „Das Schiff“ eingebaut hat. Mit Einschränkungen kann ein Leser auch von einer Fortführung seiner ebenfalls im Piper Verlag veröffentlichten „Maschinenintelligenz“ sprechen. Während „Das Erwachen“ und „Die Eskalation“ noch in der Gegenwart oder besser einer nahen möglichen Zukunft spiegeln, greift „Mars Discovery“ auch weiter in die Zukunft vorweg. Mit viel Phantasie kann man davon sprechen, dass Andreas Brandhorst das in diesen drei lesenswerten Romanen entwickelte Szenario in eine unendlich weit erscheinende und doch mittels Kathedralen oder Piraten auch wieder greifbare Zukunft extrapoliert hat.

Seit den achtziger Jahren bestimmt alle unter seinem eigenen Namen oder dem Pseudonym Andreas Werning veröffentlichen Geschichten die Idee einer Quest, einer Mission. Bei den als Thomas Lockwood veröffentlichten Heftromanen des Zauberkreis Verlags war Andreas Brandhorst noch handlungstechnisch breiter, experimenteller, aber auch teilweise simpler aufgestellt. Seine Protagonisten beiderlei Geschlechts werden entweder ausgeschickt -  teilweise unter falschen Voraussetzungen – oder sind  gezwungen, sich auf den Weg zu machen. Diese Wege führen nicht immer nur durch den Raum oder besser die Räume, sondern auch die Zeiten.

In  der fernen Zukunft leben auf der Erde nur noch 499 unsterbliche Menschen. Sie sind nicht die einzigen Menschen im Universum, aber die einzigen Menschen auf der Erde, geschützt von einem Cluster von Maschinenintelligenzen.  In Bezug auf die angesprochene „Maschinenintelligenz“ Trilogie hat die K.I. ihr Ziel erreicht. Die Menschen sind unter einer wenig selbstbestimmten Kontrolle, denn der Tod ist relativ. Korian ist einer dieser Menschen. Mehr als sechzigtausend Jahre alt, seine Erinnerungen teilweise in den Cluster ausgelagert, hat Korian weniger einer auffällige Todessehnsucht, sondern den Drang, eine Bestimmung zu finden. Achtundzwanzig Mal hat er sich bislang umgebracht, um wieder rekonstruiert zu werden. Der Tod ist ein Kick. Von einer bestimmten Klippe sucht er sich in den Tod zu stürzen. Walter Tevis hat in seinem fatalistischen Roman schon in den siebziger Jahren von einem perfekten Roboter, dem Einzigen seiner Art, geschrieben, der auf einer fast menschenleeren Erde der Hüter ist und sich nach dem Tod sehnt. Er will sich von einem Wolkenkratzer des mehr und mehr zerfallenen New Yorks stürzen, kann aber den finalen Schritt nicht gehen. Auch Korian tötet sich, um zu leben.

Horus, der Sprecher des Cluster der Maschinenintelligenzen, gibt ihm gegen die Überzeugung der anderen Mitglieder des Maschinentribunals eine Mission. Andere Menschen sind an diesem Auftrag gescheitert, nur einer ist wahnsinnig aus dem Stream von Parallelwelten zurückgekommen.

Es gibt unendlich viele Parallelerden. Man kann im Stream zeitlich nach oben wie nach unten gehen. Alle Veränderungen in der Vergangenheit sind von Beginn an zum Scheitern verurteilt, da die Vergangenheit bei Andreas Brandhorst die Gegenwart nicht verändern kann oder darf. Der Autor impliziert, dass die Vergangenheit „geschützt“ worden ist, damit sie geordnet bleibt und die angesprochenen Paradoxa nicht entstehen können.

Alle Expeditionen in die Zukunft geben dem Reisenden eine unendliche Entscheidungsfreiheit. Die Grundidee ist nicht neu. Stephen Baxter und Terry Pratchett haben vor einigen Jahren das Konzept der langen Erde entwickelt. Auch endliche Parallelwelten, die sich mittels einer simplen Maschine betreten lassen. Die Menschen können ost- und westwärts reisen.  Es sind keine Reisen durch die Zeit, aber da die verschiedenen Parallelwelten sich in unterschiedlichen Entwicklungsstadien befinden, lässt sich von einer relativen Zeitreise sprechen. Erst im Laufe der Geschichte wendet sich Andreas Brandhorst von diesem Konzept mehr ab und präsentiert eine Reise den Stream entlang, ohne die Notwendigkeit, sich auf einer Form von Erde zu befinden.

Korian soll einen Art namens Infinitia suchen, welcher den Maschinenintelligenzen aus ihm nicht erklärten Gründen unerreichbar ist. Von dort droht der Erde im Allgemeinen, dem Cluster und den verbliebenen Menschen eine ambivalente Gefahr. Korian nimmt einen kleinen Würfel mit, der sich wie bei der Tardis als eine Vielzahl von Räumen entpuppt, die sich über die Dimensionen entfalten. Auch das ist keine neue Idee. In der Karl May Reihe „Magischer Orient“ verfügten Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar ebenfalls über ein Zelt, das „ausgeklappt“ innen sehr viel größer erschien als es die Verpackung versprach. In beiden Fällen baute es sich von alleine auf und versprach den Bewohnern nicht nur Schutz, sondern eine komplette Möblierung. Das Zelt wird im Laufe der Handlung eher zu einer Art MacGuffin, ab und zu benutzt und dann der Not geschuldet aus der Hand gegeben.

Natürlich hat Horus – der Name ist Programm -  Korian nicht alle Informationen gegeben und scheint eigene Interessen zu vertreten. Ihr Ziel ist ein roter Faden der zweiten Handlungsebene. Vor allem von Dialogen getrieben bleibt der Autor absichtlich kryptisch, um die Spannungskurve hochzuhalten und den eher durch den Stream stolpernden Korian wissenstechnisch auf Distanz zu halten. Auch diese Vorgehensweise ist in einem Andreas Brandhorst Roman nicht neu. In einigen seiner letzten Bücher führte diese Manipulation der Protagonisten und damit der Leser allerdings in ein inhaltliches Nichts, das die Auflösung am Ende der Geschichte nicht immer eine Finalisierung des eingeschlagenen Weges darstellte.

Die größte Stärke sind weiterhin die exotischen Welten, die Andreas Brandhorst sprachgewaltig schafft. Seine Dialoge sind immer bedeutungsschwer. Nicht immer entspricht die Form dem Inhalt, aber das gesprochene Wort zählt. Das macht den Einstieg in das Buch auch nicht leicht. Nicht umsonst hat der Autor ein umfangreiches Glossar seiner Geschichte beigefügt. Weniger wäre vielleicht an einigen Stellen deutlich mehr gewesen. In seinen Gegenwartsthrillern hat sich Andreas Brandhorst deutlich zurückgenommen und bewiesen, dass er wirklich spannende Geschichten über weite Strecken, aber nicht immer bis zum Finale erzählen kann. Auch hier fallen einige rote Fäden unter den Tisch. Die Geduld zahlt sich  im mittleren Abschnitt durchaus und phasenweise aus.

Korian ist ein Träumer, ein Reaktionär, der mit seiner Mission anfänglich überfordert ist, sich aber in diese Aufgabe ohne Ziel hereinarbeitet. Sein Lebenswille erwacht, er denkt nicht mehr an den nächsten Selbstmord, auch wenn seine Lebensjahre – mehr als 60.000 Jahre und 28 Selbstmorde – immer wieder betont werden. Als wenn der Leser es auf keinen Fall vergessen soll. Aber Korian ist auch eine typische Brandhorst Figur. Kein strahlender Überheld, was positiv ist, sondern ein Durchschnittsmensch in einer nicht mehr durchschnittlichen Welt. Ein Intellektueller, kein Krieger, ein pazifistischer Zauderer, der Gewalt anzuwenden erst lernen muss. Kein Mensch der Technik, sondern ein Theoretiker.

Auf seiner Reise trifft er einige interessante Charaktere. Neben einem manipulierenden Opportunisten ragen die „Frauen“ aus den Figuren heraus. Er trifft auf die jugendliche Ria, das erste menschliche Kind seit Äonen. Aber natürlich ist Ria kein Kind. Sie wird zu Korians Boje im chaotischen Meer des Streams. Er will sie beschützen, muss sie schließlich nach ihrer Entführung suchen und befreien. Die Piraten Luzilla ist eine Art Vampir mit Flügeln, ein fragiles Wesen, das vom Tauschen und dem Blut ihrer Opfer lebt. Sie stiehlt Lebenszeit. Korian hat mehr als genug Leben in sich. Er benötigt Luzilla, um Ria zu befreien. Wie an einigen anderen Stellen wird der naive Korian eher manipuliert. Er gibt, ohne es zu müssen, weil die anderen Wesen den gleichen Weg gehen.

Luzilla und Ria sind deutlich interessanter, faszinierender und vor allem exotischer als der stellenweise farblose Korian und der ein wenig zu schematisch entwickelte Horus angelegt. Aber Andreas Brandhorst kann über die Länge der Geschichte mit diesen beiden Frauenfiguren zu wenig anfangen und lässt sie – wie einige andere Charaktere – im chaotischen Nichts seines Multiversums buchstäblich verschwinden. Manche seiner Figuren tötet er – zu deren eigener Überraschung – aus dem Nichts und demonstriert, dass die Welten des Streams auch für Unsterbliche gefährlich sind. Abseits der ständigen Datenaufzeichnung ist ein Tod endgültig und das wird Korian drastisch vorgeführt. Allerdings fehlt der emotionale Einschlag. Stoisch geht Korian seinen Weg weiter. Treffender wäre es, wenn man davon spricht, dass Korian auf seinem Weg in eine ambivalente „Zukunft“ weiter mitgerissen wird. Am Ende des Buches zeigt sich, dass Andreas Brandhorst das vielleicht nicht geplant hat, aber zumindest so umsetzt. Damit unterminiert der Autor auch die grundlegenden wie zeitlosen Themen seiner Geschichte.

Andreas Brandhorst Science Fiction Geschichten sind inzwischen – höflich gesprochen – abgehoben und sollen eine Art eigene Brandhorst- „Dimensionalität“ demonstrieren. In seinen in den achtziger Jahren geschriebenen Romanen konzentrierte sich der Autor auf exotische Hintergründe, fremdartige Planeten, vor bzw. auf denen Andreas Brandhorst teilweise wie mit einer Schablone gezeichnet kongruente Geschichten spielen ließ.  Jetzt erschafft er in seinen Science Fiction Romanen verschiedene Art nicht nur eines, sondern des Kosmos.  Die Beschreibungen wirken teilweise barock, spielen in der fernen Zukunft und greifen doch gerne auf Versatzstücke aus der menschlichen Vergangenheit zurück, die buchstäblich verformt und verfremdet werden. Seine Wesen sind überdimensional, entrückt von jeglichem griffigen Leben. In den letzten Jahren scheint sich der Autor eine Art Jüngerschaft gezüchtet haben, ein Publikum, das in  diesen Welten aufgeht, ohne sie wirklich zu verstehen. Es stellt sich an einigen Stellen auch die berechtigte Frage, ob der Autor seine komplexen, komplizierten und nicht immer konsequent entwickelten Welten noch versteht oder einfach nur Freude am kreativen Erschaffen hat? Andreas Brandhorst ist noch mehr als andere Science Fiction Schriftsteller zu einer Art „Gott“ geworden, der mächtige Wesen erschafft und ihnen durch noch mächtigere, wie geheimnisvollen Überwesen wieder Einhalt gebietet. Dabei greift der Autor – positiv gesprochen – rudimentär erkennbar in seinem gotischen Überbau auf klassische Themen der Literatur zurück : Liebe und Haß/ vielleicht auch Trauer. Gerechtigkeit und Strafe (für Verbrechen, welche die Leser im Grunde nicht mehr verstehen) und schließlich auch, dem eigenen Leben oder den eigenen Leben Sinn zu verleihen. Gut und Böse wären zu einfache Begriffe für die Schöpfungen, die Andreas Brandhorst kunstvoll wie verkünstelt in einer fast atemberaubenden Geschwindigkeit seinen (Stamm-) Lesern präsentiert. Wie in den achtziger Jahren ist Andreas Brandhorst außerhalb seiner Thriller zu seinem eigenen Kanon geworden. Seine Bücher sind gut erkennbar, sie lassen sich auf den ersten Blick leicht lesen und sind trotzdem schwer verständlich. Diese Prämissen wären alle zu akzeptieren, wenn sich nicht die Schwächen in seinem Gesamtwerk immer wieder zeigen. Brandhorst kann Szenarien entwickeln, sie aber nicht abschließen. Das Ende von „Infintia“ ist kein Höhepunkt der Geschichte, sondern der Plot verliert förmlich an Kraft und verläuft sich trotz eines sich abzeichnenden Höhepunktes in den unendlichen Leeren und nicht farbenprächtigen Welten, die Brandhorst erschaffen hat. Sinnbildbild dafür steht Korian, der neue fliegender Holländer, vielleicht auch der zukünftige ewige Jude, der weiterwandern muss und den es nicht mehr interessiert, welche Entwicklungen er angestoßen hat.

Andreas Brandhorst hat sich am Ende von „Infinitia“ im künstlichen Überbau seiner Geschichte derartig verfangen, dass er sie nicht auflösen kann oder mit Hinblick auf potentielle Fortsetzungen nicht auflösen will. Wie bei einigen anderen Romane aus seiner Feder ist der Weg das Ziel. Diese Reise ist interessant, fragmentarisch unterhaltsam. Staunend betrachtend der Leser wie in einer Museumsausstellung surrealistischer Kunst die Bilder, ohne die Möglichkeit zu haben, sie wirklich zu greifen. Von Verstehen kann keine Rede sein. Wie Korian möchte er gar nicht die Ausstellung oder den Stream verlassen. Die Reise soll unendlich weitergehen, um die Verarbeitung der Informationen sollen sich andere kümmern. Dieser Aspekt ist auf der einen Seite verführerisch, macht vielleicht auch süchtig, einen Brandhorst zu lesen, frustriert aber auch die objektiven Leser, da sich Brandhorst literarisches Haus als genauso leer erweist wie Korians kleine Haus als unendlich groß. Die größte Schwäche eines Buches, das gut angefangen hat, aber am Ende beweist, dass jede Reise mit dem ersten Schritt beginnt, am Ende auch ein überzeugendes Ziel stehen muss. Und das hat Andreas Brandhorst schlicht und ergreifend vergessen.               



Infinitia: Roman | Vom SPIEGEL-Bestsellerautor des preisgekrönten Science-Fiction-Epos' »Das Schiff«

  • Herausgeber ‏ : ‎ Piper; 1. Edition (29. Februar 2024)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Broschiert ‏ : ‎ 464 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3492706797
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3492706797