Der Mai ist gekommen und die Grundtöne in Neil Clarkes Vorwort sind en wenig optimistischer. Das Magazin kämpft weiterhin auf der Einnahme Front gegen den Wegfall der Abonnenten über das Kindle Portal von Amazon an. Ansonsten geht Neil Clarke auf das Spammen von Geschichten ein, die mittels künstlicher Intelligenz mit dem Tempo eines Schnellfeuergewehre geschrieben und verschickt werden.
D.A. Xiaolin Spires beschäftigt sich in seinem Artikel mit Bienen. Bienen im erdnahen Orbit auf den Raumstationen und Bienen in der Science Fiction Literatur. Wie seine bisherigen Essays geht der Autor erst einmal auf den gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen Forschung ein, bevor er eine Reihe von SF Werken vorstellt, in denen dieses Mal neben den Bienen vor allem die Schwarmintelligenzen im Mittelpunkt stehen.
Arley Sorg interviewt zwei Andreas. Andrea Kriz und Andrea Hairston, die beide im Bereich der Kurzgeschichte angefangen haben. Andrea Kriz hat das Schreiben nicht in ihrer Heimat, den USA, angefangen, sondern während einer Gastprofessur in Hamburg. Auch wenn beide Autorinnen karrieretechnisch vergleichbare Lebensläufe haben, ist ihr Werk ausgesprochen konträr und der mehrfach angesprochene Blick über die eigentlichen Kurzgeschichten auf die Menschen hinter diesen Storys sind im Grunde der wichtigere Aspekt der sehr ausführlichen Interviews im „Clarkesworld“ Magazin.
Sechs Kurzgeschichten und zwei Novellen bilden den literarischen Inhalt dieser Ausgabe. Auch wenn der Mai in Deutschland als Wonnemonat angesehen wird, ist der Grundton dieser Geschichten dunkel. Es geht um Trauer, um das Erinnern, aber auch das Vergessen.
Alice Toweys „Fishy“ ist am Rande des Kitsches eine melancholische Geschichte. Eine Tochter hat ihrem stetig forschenden Vater in Form eines Multifunktionsfisches mit künstlicher Intelligenz und einem eingeschränkten eigenen Bewusstsein einen Partner geschenkt. Aber der Vater interessiert sich nur für die Forschungen und setzt Fishy niemals in fließenden Gewässern aus. Nach dem Tod des Vaters versucht die Tochter mit dem Verlust fertig zu werden und findet in Fishy nicht nur ein Sammelbecken der aufgezeichneten Gespräche und Erinnerungen ihres Vaters, sondern den Schlüssel zu einem Projekt, welches das Gesicht der Erde ökologisch verändern kann und das dessen dunkler Geldgeiler Geschäftspartner an die Industrie verkaufen möchte.
Der Leser muss einige Kröten in dieser sentimentalen Geschichte schlucken, denn der von ihrem Vater unterschriebene Vertrag wirkt derartig einseitig, dass jeder gute Anwalt ihn auflösen könnte. Die aufgezeichneten Erinnerungen an den gerade verstorbenen Vater zeigen ein vielschichtiges Verhältnis seiner Tochter gegenüber und das Finale ist zwar kitschig, aber auch effektiv. Der Leser muss daran glauben, dass ein Fisch alles ändern kann.
Carolyn Zhaos „In Which Caruth is Correct“ bezieht sich auf die Psychologin Cathy Caruth und ihre Theorien, dass besondere Schockmomente wie Trauer die Menschen in einer Art Schwarzes Loch ziehen können, aus dem sie nicht mehr entkommen und sich die Vergangenheit in ihren Gedanken so gerade biegen, wie sie es möchten. Die zurückgelassenen Angehörigen erleiden so einen weiteren Verlust. Carolyn Zhao beschreibt, wie dieses Fallen in ein schwarzes Loch dem emotionslosen Protagonisten nach dem Tod seiner Mutter passiert. Katalysator ist eine andere Erinnerung, die vor allem Hundebesitzern ans Herz geht und anderen Menschen drastisch aufzeigt, wie eng die Verbindung zwischen Hund und Mensch – in genau dieser Abfolge – ist. Die Geschichte wirkt ein wenig kitschig, die Grundidee muss in dieser Form akzeptiert werden, aber emotional geht sie auch den Lesern ans Herz.
„The Texture of Memory, of Light“ von Samara Auman ist die längste Geschichte dieser Sammlung. Wieder geht es um Erinnerungen, Trauer und die vergebene zweite Chance. Allerdings ist der Hintergrund der Geschichte deutlich umfangreicher ausgearbeitet, auch wenn einzelne Facetten nicht wirklich zueinander passen und für den rührseligen Plot konstruiert wirken.
Vallarias Mutter hat nach einem Arbeitsunfall einen künstlichen Arm erhalten. Kein perfektes Modell, aber ein Hilfsmittel, damit sie weiterhin die langen Stunden in der Fabrik arbeiten kann. Damit ihre Tochter auch mittels Implantaten das durchschnittliche Leben der Mittelklasse genießen kann. Der Arm vergiftet allerdings den Körper der Mutter – eine stark konstruierte und nicht nachvollziehbare Wendung – und sie stirbt an Krebs. Ab diesem Moment nimmt die Geschichte eine Wendung ins Unwahrscheinliche mit dem Fund des Arms im Mühl und den aufkommenden Gefühlen. Auch wenn die Intention der Autorin sicherlich gut ist, fehlen der Geschichte einige überzeugende Wendungen und die Konzentration auf die Trauerverarbeitung ist bei anderen Geschichten vor allem in dieser „Clarkesworld“ Ausgabe deutlich besser.
Sehr viel besser ist „The Weight of Your Own Ashes“ von Carlie St. George, in welcher der zwar in den USA geborene Protagonist ein Mitglied einer fremden Rasse ist, dessen Bewusstsein drei Körper und damit auch vier Leben hat. Das wirkt auf den ersten Moment bizarr, aber der Autorin gelingt es ausgesprochen gut, dieses Multi Bewusstsein in den Vordergrund zu stellen. Einer der Körper stirbt bei einem Unfall. Seine Freundin hat sich in diesen Körper verliebt und wird traumatisiert. Sie kann mit dem Mehrkörperkonzept nichts anfangen und muss erkennen, dass ihr Freund sehr viel mehr als nur ein Körper ist. Die Charaktere sind ausgesprochen gut entwickelt und die Beziehung wird im Laufe der Trauerphase immer fragiler, wobei die Autorin Argumente für beide Seiten liefert. Sie verzichtet in ihrem offenen Ende auf ein klassisch klischeehaftes Happy End und lässt indirekt den Leser entscheiden, wie die Geschichte weitergehen könnte.
Fiona Moores Geschichte „The Portmeirion Road“ wird vor allem Fans der Fernsehserie „The Prisoner“ ansprechen, denn der Ort spielt in dieser postapokalyptischen Welt als Hort des Wissens eine wichtige Rolle. Morag betreibt eine kleine Farm und repariert nebenbei die Hinterlassenschaften der Zivilisation. So hat sie einen Roboter gebaut, der als Hilfsarbeiter funktioniert. Als ihre Nichte krank wird, reist sie zu Fuß mit dem Roboter nach Portmeirion, um ärztliche Hilfe aus dem Archiv zu erhalten. Natürlich hat diese Hilfe einen Preis, den Morag nicht wirklich bezahlen will. Gegen Ende des stringenten Plots präsentiert die Autorin einen interessanten Dreh, der auf Missverständnissen und Verschweigen basiert. Die Motive der Archivare sind klar, aber mit ein wenig mehr Kommunikation hätten beide Seiten von einem Deal profitiert. So wirken einzelne Aspekte der Geschichte rückblickend stark konstruiert, auch wenn die moralische Entscheidung, vor welche Morag eine Zeitlang gestellt wird, ein klassisches Spannungsmoment ist, das die Autorin auch gut herausgearbeitet hat.
Auch Thomas Has „The Brotherhood of Montague St. Video” handelt von Trauer und Hinterlassenschaften. In einer Welt der stetigen Optimierung und damit auch der Illusionierung der Massen findet der Protagonist ein „totes“ Buch – anscheinend elektronisch – im Nachlass seiner Mutter. Der Leser weiß, dass es sich um ein echtes Buch handelt, mit dem der Protagonist angesichts der mangelnden Optimierungsmöglichkeiten nicht viel anfangen kann. Andere Gruppen interessieren sich auch für das Buch. Nicht weil sie es lesen wollen, sondern weil es als Erbe der Vergangenheit zerstört werden muss. In einer wunderschönen Szene schreibt der Protagonist den Inhalt der klar als eine Variation von „Shane“ erkennbaren Geschichten ab, damit er sie zukünftig optimieren kann. Das Ende ist ein wenig rührselig, der Plot an einigen Stellen erstaunlich kompliziert, obwohl der direkte Weg sehr viel mehr geholfen hätte, aber sowohl der soziale Hintergrund wie auch diese Mischung aus Future Look und Retrotechnik heben die Novelle aus der Vielzahl der guten Geschichten dieser „Clarkesworld“ Ausgabe zusätzlich heraus.
Rejeev Prasads „The Blinding Light of Resurrection” ist eine Frankenstein Variation. Ein Arzt kann den Krebstod seiner Frau nicht verwinden und druckt Heimlich im Krankenhaus Ersatzteile. Er operiert sie zu Hause. Seinem Freund, der die Frau ebenfalls geliebt hat und denkt, dass sie inzwischen verstorben ist, fällt die Abweichung in den Büchern auf und er stellt seinen Freund zur Rede. Natürlich mit den entsprechenden fatalen Folgen. Das Ende soll einen Paukenschlag darstellen, ist aber angesichts der charakterlichen Entwicklung der drei Hauptfiguren und ihren Beziehungen untereinander keine wirkliche Überraschung. Auch wenn die Geschichte gut geschrieben ist, wirkt sie zu vertraut und optimiert das bekannte Thema nicht, sondern modernisiert höchstens die Fassade. Und das ist zu wenig.
Zu den kürzesten Texten dieser „Clarkesworld“ Ausgabe gehört „Our Father“ von K.J. Khan. An Bord eines Generationenraumschiffs werden aus Versehen die eingefrorenen Embryos lange vor dem Ziel aufgetaut. Die Besatzung muss jetzt eine Entscheidung treffen. Auch wenn die Ausgangsprämisse vielleicht nicht unbedingt originell ist, gelingt es der Autorin gegen Ende, eine überraschende Wendung zu präsentieren. Mit nicht einmal zweitausend Worten wird auf wenig Raum ausgesprochen viel theoretisiert, der Hintergrund ist dadurch entsprechend rudimentär entwickelt, aber generell unterhält die Miniatur dank der verschiedenen Überlegungen sehr gut.
Das Titelbild mit dem Blick auf ein robotisiertes Ruderboot zeigt die Frühlingsgefühle in der „Clarkesworld“ 212 Ausgabe. Bis auf zwei Ausnahmen sind die Geschichten alle ausgesprochen lesenswert. Vielleicht unbewusst hat Neil Clarke Trauer und Erinnerungen als verbindendes Element für die insgesamt acht Texte ausgesucht. Für den Mai unpassend, aber generell heben sich diese „Themenausgaben“ in den letzten Jahren von den normalen „Clarkesworld“ Ausgaben qualitativ wie inhaltlich immer ein wenig mehr ab.
E Book 112 Seiten
www,.clarkesworldmagazin.com