Dead Silence

S.A. Barnes

Die unter dem Pseudonym S.A. Barnes schreibende Stacey Kade spricht in ihrem Nachwort von der Faszination, welche die „Titanic“ seit vielen Jahren auf sie ausübt. Ihre „Aurora“- das erste Luxusraumschiff der Extraklasse – ist auf die eine Art und Weise ihre tragische „Titanic“, wobei interessanterweise der Kern ihrer Prämisse ebenfalls ein technisches Problem für die Ingenieure der „Titanic“ darstellte.

Bislang hat die in Chicago lebende Stacey Kade zwischen 2011 und 2013 eine Jugendbuch Trilogie veröffentlicht, in welcher es dem Titel nach auch um Geister gegangen ist: „The Ghost and the Goth“.  Es folgten eine Reihe von weiteren Jugendbüchern, bevor sie sich mit diesem Science Fiction Horror Thriller unter dem Pseudonym S.A. Barnes zum ersten Mal an ein erwachsenes Publikum wandte.

Viele der negativen Kritiken sprechen zwei Punkte an, die in dieser Form nicht richtig sind.  S.A. Barnes hat für gut Zwei Drittel der Handlung den Roman auf zwei Ebenen aufgespalten, die beide miteinander verknüpft sind.

Claire ist die Teamführerin an Bord eines Verux Reparaturraumschiffs, das das Kommunikationsnetz draußen im All wartet. Es wird ihre letzte Mission sein. Maschinen werden diese Aufgaben übernehmen.

Auf einer Handlungsebene versucht Claire ihren Vorgesetzten zu erzählen, was nach dem Abbruch des Funkkontaktes mit ihrem Raumschiff und ihrer Bergung an Bord einer Rettungskapsel wirklich geschehen ist. Die Rettungskapsel stammt von der vor mehr als zwanzig Jahren im All verschollenen AURORA, einem Luxus Kreuzfahrtschiff, das mit einer Reihe von Influencern, Soap Opera Schauspielern inklusive ihrer an Bord spielenden Serie und einer Elite von Reichen auf eine Kreuzfahrt in die Tiefen des Alls aufgebrochen ist. Ein Jahr sollte diese Reise dauern. Irgendwann brach der Funkkontakt ab, eine Suche war nicht erfolgreich und das Schiff gilt mit allen Passagieren und Besatzungsmitgliedern als verschollen.  Wie bei der „Titanic“ passierte das Unglück auf der Jungfernfahrt und wie bei der „Titanic“ war das Schiff so groß und luxuriös, dass ihre Fahrt auch einen „Learning by Doing“ Prozess darstellte. 

In Rückblenden erzählt Claire, was mit ihrer Crew passiert ist. S.A. Barnes spielt mit den Erwartungen der Leser und durch die verschobene Erzählstruktur könnte – so einige Kritiker – spannungstechnisch der Wind aus den metaphorischen  Segeln genommen worden sein. Das ist nur bedingt richtig, denn Claires eigene Erzählungen bilden nur einen Teil der Geschichte. Auch die Rückblenden enden lange vor dem eigentlichen Ende des Romans. Hinzu kommt, dass Claire eine nicht zuverlässige Erzählerin sein könnte. Denn entgegen aller Kritiken an einem möglichen „Alien“ Klon – das wäre inhaltlich schon falsch – ist Claire weniger Ripley, sondern Newton, das kleine Mädchen, das Ripley im zweiten Teil  der Serie vor den Aliens gerettet hat. Denn Claire ist zusammen mit ihrer Mutter von ihrem Arbeitgeber – der Verux Konzern – auf eine Kolonie geschickt worden, wo ihre Mutter als  Ärztin arbeiten konnte. Der verzögerte Versand von Luftfiltern führt zu einer Katastrophe und Claire selbst durchbricht als kleines Mädchen die Isolation und führt damit indirekt dazu, das alle Kolonisten sterben. Ein Trauma, das sie ein Leben lang begleitet.

Daher stehen ihr die Verantwortlichen im Konzern – Max und der Sohn eines Angestellten auf der Chefebene Reed – sehr skeptisch gegenüber.

In ihren Rückblenden berichtet sie, wie ihre Crew, bestehend aus Voller, Kane, Lourdes und Nysus ein Notsignal jenseits der bekannten Grenze aufgefangen und die im All treibende AURORA gefunden haben. Alle Passagiere und Besatzungsmitglieder sind tot, allerdings hinterlässt das Auffinden der Leichen eine Reihe von Fragen. So scheinen Teile der Menschen an Bord wahnsinnig geworden zu sein. Ihre Aggression hat sich gegen die Passagiere oder Besatzungsmitglieder gerichtet. Andere haben sich auf teilweise spektakuläre Art und Weise umgebracht. Auf der Brücke des Raumschiffs finden sie die Kommandantin und den Ersten Offizier ineinander verkrallt. Als wenn sie sich gegenseitig in den Tod gezogen haben.

Anscheinend hat etwas in die Menschen an Bord in den Wahnsinn getrieben und je länger sich Claires Crew an Bord aufhält, um so mehr zeigen sich ähnliche Phänomene. Länger unauffällig als gedacht, da Claire schon in ihrer Kindheit an einem traumatischen Stress Syndrom leidet und die Quarantäne in ihrer Kolonie durchbrochen hat, als sie zu ihrer Freundin wollte, die sie jenseits der Barriere gesehen hat. Nur war diese Freundin zu diesem Zeitpunkt schon zwei Tage tot.

S.A. Barnes ist im Grunde ein perfekter Thriller gelungen. Die abschließende Erklärung wirkt zwar auf der einen Seite ein wenig weit hergeholt, aber basierend auf einem unglücklichen Zufall während des finalen Baus der AURORA und dem  kapitalistischen Denken der Konzerne ist die Lösung schlüssiger als bei vielen Horror oder Science Fiction Filmen, die abschließend etwas eine „Deus Ex Machina“ Lösung aus dem Hut zaubern und/ oder die unheimlichen Kreaturen der Nacht dank Improvisation und Inspiration besiegen.

Bis zu dieser finalen Lösung legt S.A. Barnes eine Reihe von falschen Spuren, die auf den Seh- und Lesegewohnheiten des Publikums basieren. In dem die Autorin immer wieder auf Versatzstücke aus der schon angesprochenen „Alien“ Serie oder Filmen wie „Ghost Ship“ sowie „Event Horizon“ zurückgreift, wird der Leser in eine bestimmte Richtung förmlich getrieben. Mit Claire als möglicherweise verrückt gewordene von ihrer Vergangenheit eingeholte Frau verfügt die Geschichte über eine Figur, die unter den unglücklichsten Umständen ihre Crew zum Sterben zurückgelassen hat, um den ungeheuren Finderlohn alleine einzustreichen. Ihre subjektiven Rückblenden zeigen zwar, dass sie eher verantwortungsbewusst, aber auch an der Grenze ihrer Belastbarkeit handelt, aber es gibt lange Zeit keinen einzigen Beweis, das ihre Geschichte stimmt.

Mit einem gigantischen Raumschiff im All verfügt S.A. Barnes aus einer anderen Richtung über den perfekten Hintergrund einer Science Fiction Horror Geschichte.  Aus einem Raumschiff kann man nur bedingt fliehen. Zwar gibt es Rettungskapseln, aber an einer unbekannten Position in den Tiefen des Alls ist es eher unwahrscheinlich, dass man gefunden wird.  Ein Raumschiff steht noch mehr für die Isolation und Hilflosigkeit den Gezeiten gegenüber als ein Luxusschiff nach der Kollision mit einem Eisberg und jenseits aller damals technischer Rettung.

Der Aufenthalt im All ist in S.A. Barnes Zukunftsvision immer noch eine Herausforderung und harte Arbeit. Die körperliche Belastbarkeit wird herausgefordert.  Ein Luxuskreuzfahrtschiff ist grundsätzlich ein Widerspruch per se, eine Pervertierung der bisherigen Erfahrungen. Daher wirkt die AURORA auch zwanzig Jahre nach ihrer Jungfernfahrt wie ein Fremdkörper in diesem Blue Collar Universum. Wir hart das All ist, findet mit Reed der Sohn eines führenden VERUX Abteilungsleiters heraus.

Schon Robert Kraft hat in einer Miniserie vom „Mikrokosmos Schnelldampfer“ geschrieben.  Das gilt für dieses Luxuskreuzfahrtschiff um so mehr.  Ausführlich und teilweise voller liebevoller Details beschreibt S.A. Barnes den Luxus, den die Passagier vor allem in der Platin-Klasse zur Verfügung hatten. Im Grunde stellte die Platin-Klasse auch noch ein Raumschiff innerhalb des Raumschiffs dar. Das wirkt ein wenig überzeugen, dass man die reichen Passagiere mit der Idee lockte, im Falle von Weltraumkoller der Crew oder der gewöhnlichen Passagiere ihre Klasse abschotten zu können. Eine eigene Luftversorgung, eigene Vorräte und damit die Möglichkeit, wie bei Romeros zweitem  und dritten „Dead“ Film in einer Mall oder einem Bunker das Ende der sie umgebenden Welt geruhsam zu überleben. Geholfen hat es nicht, denn manchmal sitzt der Feind buchstäblich im eigenen Bett.

Viele der Informationen erhält der Leser ausschließlich auf Claires Augenhöhe. Die Legende der AURORA hat viele Spekulationen im Netz befruchtet. Wie bei der TITANIC gibt es neben den Bauplänen und ausufernden Beschreibungen des dekadenten Luxus viele Spekulationen, warum das Raumschiff spurlos und ohne eine Nachricht zu hinterlassen verschwunden ist. Aber wie die „Alien“ Serie sich mehr und mehr auch in Richtung einer Kapitalismuskritik und der perfiden Idee einer Perfektionierung von Waffen entwickelt, bürgt auch die AURORA zumindest für einige Unternehmenslenker ein sehr dunkles Geheimnis, das nicht mehr ans Licht der Sonnen darf.

Claires Intention ist damit konträr den Interessen verschiedener Menschen auf der Erde.

Mit diesen Gegensätzen spielt die Autorin. Weckt in der Tradition von Stephen Kings „The Shining“ – das Overlook Hotel ist genauso unerreichbar wie die AURORA in den Tiefen des Alls – die Erwartungen der Leser, als die einzelnen Crewmitglieder Claires Visionen in erster Linie von toten Menschen sehen. Aufgefundene Videoaufzeichnungen der Reality Show deuten ebenfalls darauf hin, dass die Passagiere und die Besatzungsmitglieder der AURORA unheilvolle Visionen gesehen/ gespürt haben, die schließlich zu Eruptionen von Gewalt  führten.

Während viele der Protagonisten eher pragmatisch entwickelt worden sind, überzeugt Claire als die angesprochene Newton. Sie steht zwischen einem sie für ihr Leben brandmarkenden Trauma – immerhin ist sie mit ihrer Fahrlässigkeit Schuld am Tod unzähliger Menschen – und angesichts der herausfordernden, in diesem Fall nicht von ihr verursachten Situation an Bord der AURORA neuen posttraumatischen Belastungsstörung.  Auch wenn ihre Crew zusammen mit Kane, der sie heimlich liebt, ihr vertraut, traut sie ihren eigenen Entscheidungen und sich selbst nicht. Ein im Grunde tödlicher Kreislauf. Claire verfügt über einen zynischen Humor, lässt sich schwerlich beeindrucken, ist aber auch keine klassische Heldin, die sich ohne weitere Überlegungen ins Gefecht stürzt. Ihr fällt die Entscheidung schwer, noch einmal zur AURORA zurückzufliegen, allerdings sieht sie sich im Gegensatz zu vielen anderen Menschen, die in dieser Geschichte eine Rolle spielen, auch in einer nachhaltigen Verantwortung gegenüber ihrer Crew. Sie weiß nicht wirklich, was nach dem Abschuss der Rettungskapsel von der AURORA passiert ist und ob ihre Crew vielleicht noch lebt. Das ist der Antrieb, mit dessen Hilfe sie die eigene Furcht überwinden kann. Auch wen  ihre Umwelt sie als komplett verrückt und damit gefährlich ansieht.

Neben Claire als rückblickend doch starker Charakter ist es vor allem die Atmosphäre an Bord der AURORA, welche „Dead Silence“ – der Titel ist allerdings nicht ganz richtig, denn die Charaktere sehnen sich förmlich nach Stille – aus der Masse simpler Science Fiction Action Romane heraushebt. Subtil, nicht erdrückend und vor allem sich immer weiter entwickelnde  präsentiert die Autorin ein Geisterschiff voller Leichen. Eine Ausgangsprämisse, die schon grundsätzlich belastend ist. Dazu kommen neben der allgegenwärtigen unheimlichen Präsenz -  ALIEN  lässt zwar grüßen, ein Vergleich wäre aber Wasser auf die Mühlen der Autorin und ein Beweis, wie leicht ein guter Autor Erwartungen der Leser lenken, wenn nicht manipulieren kann – die potentiellen Spannungen innerhalb der Crew durch die an sich selbst mehr und mehr zweifelnder Claire. Das Kommando will und kann sie nicht abgeben, aber Entscheidungen treffen fällt ihr immer schwerer. Der noch heute erkennbare Luxus an Bord der AURORA erinnert ein wenig an die Bilder der auf dem Meeresgrund liegenden TITANIC, welche immer noch den Betrachtern vor Augen führt, welch Luxus damals verbaut worden ist.  Und sowohl über der AURORA wie auch der TITANIC schweben die Geister der Toten, geopfert einem rücksichtslosen Kapitalismus, wobei der Untergang der TITANIC primär auf einem gegen alle Wahrscheinlichkeit stattgefundenen Unfall basiert. Bei der AURORA ist es deutlich komplexer und komplizierter.

„Dead Silence“ ist ein cineastisch verfasster Roman, der eine ideale Vorlage für eine Netflix Miniserie bilden könnte. „High Seas“ ist eine in den vierziger Jahren auf einem Luxuskreuzfahrtschiff während der Fahrt von Spanien nach Brasilien in die potentielle Freiheit spielende Netflix Miniserie, welche mit der Mischung aus Mystery, Drama und potentiellen Geistererscheinungen auch die Entstehung von „Dead Silence“ beeinflusst haben könnte. Das Tempo der Geschichte ist hoch; die beiden anfänglich parallel  laufenden Handlungsebenen mit der Erzählerin und dem von ihr berichteten Geschehen lassen ausreichend Fragen offen, so dass die Spannungskurve nicht abflacht und das Misstrauen nicht nur der Vorgesetzten, sondern auch der Leser gegenüber Claire ausreichend hoch bleibt. Die Atmosphäre, beginnend an Bord des reinen Blue Collar Arbeiterraumschiffs und endend in einem literarisch visuell gut gestalten Höhepunkt, ist durchgehend erdrückend, verstörend und an das Horrorgenre angelehnt.  S.A. Barnes platziert eine Reihe von Schockeffekten gut über den ganzen Handlungsbogen. Auch wenn der Leser an einigen Stellen das unbestimmte Gefühl einer Vertrautheit gegenüber dem Text hat, gelingt es der Autorin, kurze Zeit später eine weitere Wendung zu präsentieren, so dass  ihr Text grundlegend originell, stimmig und vor allem bis kurz vor dem Ende der Geschichte rückblickend grundlegend in sich stimmig ist. Das können nicht viele reine Unterhaltungsromane von  sich behaupten. Während des Finales muss S.A. Barnes ein oder zwei kleine Kompromisse eingehen, damit sich Claire zum ersten Mal aktiv aus einer im Grund unmöglichen Situation befreien kann, aber diese handlungstechnischen Biegungen verzeiht der Leser angesichts der langen emotionalen Achterbahnfahrt durch die Gruselbahn mit einer Reihe von überzeugenden Schockeffekten.  

Dead Silence: Roman

  • Herausgeber ‏ : ‎ Heyne Verlag; Deutsche Erstausgabe Edition (11. Januar 2024)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 448 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3453322932
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3453322936
  • Originaltitel ‏ : ‎ Dead Silence