The Only Criminal

Tim Lucas

Es lohnt sich, mit dem langen Nachwort anzufangen. Tim „Video Watchdog“ Lucas schaut weit in die 47 Jahre umfassende Entstehungsgeschichte dieses Romans beginnend mit den ersten Notizen; der ersten Kurzgeschichte; einer Novelle und schließlich der mehrfach überarbeiteten Romanversion zurück. Lange Projekte sind kein Novum für den Filmkritiker und Magazinherausgeber. An seinem Mario Bava Buch hat er zweiunddreißig Jahre gearbeitet und mit der Veröffentlichung des Kaffeetischbuches im Grunde alle erschlagen. Seit der Publikation 2007 hat Tim Lucas weitere Informationen zum italienischen Drehbuchautor und Regisseur zusammengetragen, allerdings sieht er das reichhaltig bebilderte voluminöse Werk als vollendet an. „The Only Criminal“ ist deutlich schlanker, wirkt aber als Geschichte betrachtet immer noch unfertig. Das Nachwort hilft dem Leser, die einzelnen relevanten Sequenzen – das nächtliche Cruisen; die Appartements mit den papierdünnen Wänden; schließlich auch Miss White – einzuordnen. Die Szenen werden dadurch lebendiger.

 1984 drehte Walter Hill mit „Streets of Fire“ ein romantisches Neo Noir Musical, das in einer märchenhaften, grellbunten Welt direkt neben unserer dunklen Realität spielt. Alles war in diesem Film größer: der Held; der Schurke; die zu rettende Maid bzw. Sängerin... die Musik; die Action. Eine heroische Geschichte jenseits der Realität und doch in der falschen Erinnerung einer Generation verankert, die auf den damals progressiven Rock N Roll mit verklärte Liebe zurückblickte.

 Aus dieser Perspektive sollte der Leser „The Only Criminal“ betrachten. Das funktioniert bis zum vierten Kapitel ausgesprochen gut. Wie sich später zeigt, spielt die Geschichte nicht nur in einer Stadt. Der Leser hat das Gefühl, als wenn sich diese Stadt unter einer Art Dom befindet, isoliert von der Außenwelt, fokussiert auf das einzige relevante Thema: „The Only Criminal“.

 Diese schemenhafte Figur ist seit Jahrzehnten, vielleicht auch Jahrhunderten die einzige Quelle von Verbrechen und Übel. Alle dunklen Taten führen zu diesem gesichtslosen Mann zurück, der die Dunkelheit beherrscht. Im Nachwort spricht Tim Lucas davon, dass ihn vor allem der französische Charakter Judex als Gegenentwurf zum populären Fantomas inspiriert hat. Das ist aber nur bedingt richtig, denn Judex ist ein reicher Rächer, ein Vigilant, der die Verbrechen festsetzt, vor das eigene Gericht stellt und schließlich verurteilt. Tim Lucas „The Only Criminal“ ist eher eine Mischung aus dem schon angesprochenen Fantomas der Originalromane und natürlich „The Shadow“ aus den Pulpgeschichten der dreißiger Jahre, der aber wie Judex gegen das Verbrechen kämpfte. Auch wenn „The Only Criminal“ in der ganzen über mehrere Jahrzehnte spielenden Geschichte nicht aktiv in Erscheinung tritt, ist er allgegenwärtig.

 Man kann seine Musik kaufen; im Fernsehen und Kino laufen anscheinend nur Filme mit „The Only Criminal“ Bezug, wobei Tim Lucas als Filmkenner sichtlich Freude hat, dem Leser bekannte Werke umzudichten; die Musik wird von „The Only Criminal“ bestimmt und in einer Übertreibung bestehen auch die Artikel aus den Zeitungen nur aus dessen dunklen Taten.

 Dr. Paul Vaguely ist von Kindheit an vom Verbrecher fasziniert. Seine Oma – seine Mutter ist früh aus seinem Leben verschwunden – liest ihm die „The Only Kriminal“ Kinder oder besser Jugendbücher vor. Er beginnt, Zeitungsartikel auszuschneiden und zu sammeln. Auch während seines Psychologie Studiums ist „The Only Criminal“ allgegenwärtig. Nach Abschluss des Studiums beginnt Vaguely in einer honorigen Nervenheilanstalt zu arbeiten und nennt sich bald „The Only Criminologst“ . Er behandelt die Menschen, die unter den Taten von „The Only Criminal“ leiden.

 Eines Nachts wird ein Mann eingeliefert. Mit einem Baseballschläger hat er sich einem mit lautem Motor und noch durchdringender Musik  durch seine Straßen fahrenden Wagen gestellt. Die Polizei findet ihn mit schneeweißen Haar und im Koma schließlich in dem Wagen, der „The Only Criminal“ zugeordnet werden könnte.... Tim Lucas liefert dafür keine Beweise. Anscheinend hat der komatöse Patient den Superverbrecher gesehen. Deswegen wird er schnell zu „The Only Witness“ und einem Medienphänomen. Um die Öffentlichkeit zu befriedigen, greifen Vaguelys Chef und er zu einem kleinen Trick.

 Kaum wird die Öffentlichkeit aufmerksam, scheint „The Only Criminal“ zu verschwinden. Zuerst erweckt Tim Lucas den Eindruck, als wenn es keine Verbrechen mehr gibt. Das ist nur bedingt richtig. Sie werden nicht mehr automatisch dem Superverbrecher zugeordnet. Und plötzlich hat man eine Nervenheilanstalt ohne Patienten; einen Kriminologen ohne Ziel und eine wunderschöne, geheimnisvolle Frau, die in Vagueleys Haus eine Wohnung bezieht.

 Tim Lucas Roman ist expressiv geschrieben. Sein Stil ist im Vergleich zu seinen anderen Büchern wie „The Book of Renfield“ – einer Dracula Hommage – oder „The Man with kaleidoscop eyes“ – die Geschichte spielt während der Dreharbeiten eines Roger Corman Films – deutlich verklausulierter. Nicht selten hat der Leser das unbestimmte Gefühl, selbst an einem psychologischen Experiment teilzunehmen, das von den dreidimensional entwickelten, aber distanziert lebenden oder besser agierenden Personen während des Laufens (also der Lektüre) entwickelt wird. Immer wieder hofft oder fürchtet man, die nächst höhere Ebene kennen zu lernen. Eine solche Variation – siehe „Simulacron 3“ - hätte dem Buch vielleicht sogar geholfen, denn zu Beginn dominiert der Glaube oder besser die Furcht vor „The Only Criminal“, der nicht nur für Vaguely zu einer krankhaften Obsession wird.

 Vaguely ist ein Gewohnheitsmensch. Seinen langweiligen Tagesablauf beschreibt Tim Lucas ausführlich. Stoisch arbeitet er tagsüber mit den Opfern des „The Only Criminal“, nachts liest er dessen Abenteuer in den Zeitungen und geht mit einer Geschichte/ einem Roman über den Mann ins Bett. Diese Gewohnheiten zwängen ihn förmlich ein. So reagiert er lange nicht auf seine attraktive Nachbarin und als er sich wie „The Only Criminal“ zu Weihnachten durch das Haus schleicht, um den Nachbarn das erste Mal Geschenke vor die Tür legen, hat das Präsent für  Miss White eine perverse Note. Die Antwort erhält der Leser erst gegen Ende der Geschichte.

 Als „The Only Criminal“ aus den Medien und damit dem Bewusstsein der Menschen verschwindet, verliert er seinen Lebensmittelpunkt. Der Wendepunkt ist nicht nur ein Betrug an der Öffentlichkeit, sondern an seiner heimliche Ikone. Im letzten Drittel des Buches deutet Tim Lucas an, welche Auswirkungen auf Vaguelys emotionales Gleichgewicht dieser Betrug; dieser Verlust haben könnte. Hier liegt auch die größte Schwäche des Buches. Tim Lucas beginnt falsche Spuren zu legen. Die Perspektive beginnt sich zu verschieben, wird subtiler und damit auch paranoider. Aber der Autor scheut sich, diesen Gedankengang zu einem logischen Abschluss zu bringen. Nietzsche hat gesagt: „Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“. Das ist tatsächlich der Fall. In einer der vielen kleinen, emotional überzeugenden Szenen ist es eine Bücherei, die sich für Vaguely als Hort erweist. Kaum hat er sich vom Ballast des „The Only Criminal“ befreit, muss er in diesen wieder zurückkriechen. Aber der Geschichte fehlt in dieser Hinsicht der finale Schritt, der letzte verzweifelte Schrei, wie in Edward Munch in seinem berühmtem Bild dargestellt hat.

Tim Lucas ist nahe dran, aber wie die zahllosen Handschuhe bleibt zu wenig zurück. Auch in dieser Hinsicht verfügt der Roman über eine kleine grandiose Szene, die vor allem cineastisch perfekt umgesetzt werden kann.

 Die erste Hälfte des Buches mit dem dominanten, aber nicht präsenten „The Only Criminal“ ist deutlich besser, effektiver und geheimnisvoller. Was muss das für eine Welt sein, in welcher ein Verbrecher alle Schlagzeilen beherrscht? In welcher die Spielzeugläden nur Sachen verkaufen, die in einen Zusammenhang mit „The Only Criminal“ gebracht werden können? Jede Zeitung, jedes Buches, jedes Magazin steht in einem direkten oder indirekten Zusammenhang mit dem allgegenwärtigen und doch niemals gesehenen Überschurken. Was auf den ersten Blick eindimensional und vielleicht konstruiert erscheint, wird unter Tim Lucas Leitung lebendig und dreidimensional. Jedes Kapitel des Romans wird von einem Gospel eingeleitet, den Elvis Presley gesungen hat. 

 Vielleicht sollte man das Buch nicht als Parabel auf die Pulpgeschichten; auf die Vigilanten in der Dunkelheit und die Faszination der Öffentlichkeit mit dem Verbrechen; der Gewalt und den Schandtaten sehen. Vielleicht handelt es sich tatsächlich nur um eine Art Liebesgeschichte. Natürlich in Dreiecksform.

 „The Only Criminal“ ist Vaguelys heimliche, platonische Liebe. Seine Geschichten fühlen die emotionale Leere seiner Kindheit und Jugend aus. Auch sein Beruf richtet sich ganz nach dem „Menschen“ aus, der ihn indirekt beherrscht und zu dem er im Grunde werden möchte. Auch wenn er „The Only Crimologist“ ist, mag niemand wirklich die Ordnungshüter; die Polizei oder in diesem Fall den alle Obsessionen erklärenden wie verklärenden Psychologen. Die Schurken sind immer stärker, charismatischer und verführerischer.

 Diese Liebe erkaltet, als Vaguely erkennen muss, dass sich „The Only Criminal“ nicht ihm gezeigt hat. „The Only Witness“ -  an keiner Stelle wird klar erklärt, ob er wirklich den Meisterverbrecher gesehen hat oder nicht- ist Vaguely einen Schritt voraus. Als der Mann schließlich aus dem Koma erwacht, ist seine Reaktion enttäuschend.

 Miss White ist der Vamp. Eine attraktive Blondine; sie arbeitet in der Werbebranche. Attraktiv, verführerisch und doch auch sehr zurückhaltend. Vaguely kann nicht wirklich mit ihr in Kontakt treten. Die Gespräche bleiben oberflächlich. Zwei einsame Schiffe auf dem weiten Meer, die sich nur aus der relativen Ferne ansehen. Das ändert sich mit dem angesprochenen Geschenk. Miss White öffnet Vaguely durch eine ihrer Schaufensterpräsentationen nicht nur eine neue Perspektive (auch auf „The Only Criminal“), sondern ermöglicht es ihm, neben „The Only Criminal“ jemand anders zu lieben. Aber nur unter bestimmten Bedingungen, die sehr nahe seiner bisherigen (Phantasie?) Welt entsprechen. Ohne „The Only Criminal“ wäre es Vaguely nicht möglich, Miss White näher kennen zu lernen. Ohne „The Only Criminal“ und das enge psychologische Band zwischen Vaguely und „ihm“,  hätte Miss White vielleicht auch kein Interesse, wie die lange nächtliche Sequenz im Treppenhaus des gemeinsamen Wohnhauses zeigt.

 Aber diese intime, ein wenig perverse Liebesgeschichte muss wieder in den größeren Kontext gesetzt werden. Mit dem Verschwinden von „The Only Criminal“ scheint sich zu Beginn ein große Leere auszubreiten, die aber von den meisten normalen Menschen schnell und effektiv überwunden wird. Im übertragenen Sinne wird die Welt farbig. Informationen aus anderen Teilen des Planeten dringen ein. Die Zeitungen verdienen mit Anzeigen Geld und aus dem kleinen Zeitschriftenladen, in dem sich Vaguely immer mit Zeitungen; Magazinen und schließlich auch Zigarren versorgt hat, wird ein Gunshop. Das Viertel beginnt sich zu ändern. Aus Vaguelys Sicht nicht unbedingt zum Besseren, aber seine Umwelt ist plötzlich der Starre von „The Only Criminal“ entkommen und wird irgendwie allerdings nach einer letzten wie doppelten Tragödie farbiger. Diesen Bogenschlag zurück von Miss White und Vaguely hat Tim Lucas nicht unbedingt sehr gut hinbekommen. Seine Intentionen liegen klar vor den Lesern, die Puzzlestücke wollen nicht richtig zusammenpassen. Im direkten Vergleich eignen sich vor allem Michael Siefeners paranoide Liebesgeschichten wie „Der Ballsaal auf der dunklen Seite des Mondes“ oder mit Einschränkungen auch „Teufelspakt“ oder „Das Schattenbuch“, um diese Distanz zwischen der vielleicht entrückt dargestellten „Realität“ und der verschrobenen Perspektive der emotional unterentwickelten Figuren besser zu überbrücken.

 „The Only Criminal“ ist keine leichte Lektüre. Zu künstlich, zu verspielt und auf ein eher ambivalentes Ziel hin konstruiert bietet der Roman eine Handvoll ausgezeichneter und verstörender Szenen, die ohne Brutalität und Gewaltvoyeurismus auskommen. Auf der einen Seite eine überdrehte und überspannte Hommage an die Obsession mit den Superschurken (Tim Lucas gibt es auch ohne Einschränkungen zu), auf der anderen Seite eine verdrehte, fremdartig vertraute Welt und zum Dritten eine Auseinandersetzung mit im Kern lebensunfähigen Menschen, die erst durch das Charisma eines Dritten emotional und auf ihre Art auch liebevoll zueinander finden. Ja, „The Only Criminal“ ist eine seltsame Liebesgeschichte auf allen Ebenen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.  

The Only Criminal

  • Herausgeber ‏ : ‎ Riverdale Avenue Books (24. September 2024)
  • Sprache ‏ : ‎ Englisch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 269 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 1626016933
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-1626016934
  • Abmessungen ‏ : ‎ 15.24 x 2.03 x 22.86 cm
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