Zweimal langsamer wie du...

Dieter Rieken

P. Machinery legt mit “Zweimal langsamer wie…” du nach dem Roman “Land unter” eine Sammlung bestehend aus zwei Novellen und einer Kurzgeschichte vor. Der Autor äußert sich sehr ausführlich im Nachwort zu den einzelnen Texten. 

Die Titelgeschichte „Zweimal langsamer wie du…“ –Dieter Rieken erläutert im Text  den außerhalb von Norddeutschland ungewöhnlichen Titel.- spielt gute zwanzig Jahre nach seinem Roman „Land unter“. Auch wenn die Handlung eigenständig ist und in Italien überwiegend spielt, empfiehlt es sich wegen der Charakterentwicklung und den Beziehungen der Figuren untereinander, den Roman zuerst zu lesen.

Tine ist inzwischen knapp fünfzig Jahre alt, sucht irgendwie Abstand von ihrem bisherigen Leben. Nach einer Synchronarbeit in München fährt sie in das Ferienhaus ihrer Eltern in Italien. Die ökologische Katastrophe hat aber auch in Italien ihre Spuren hinterlassen. Die Küsten sind überflutet, eine neue Infrastruktur muss erst noch eingerichtet werden. Das führt sie Staus. Viele Flüchtlinge von der Küste ziehen fast mittellos durch das Land, die Behörden sind überfordert.

Dieter Rieken hat sich vor allem auf die Stimmung und die Stimmungen seiner Protagonistin konzentriert. Eine stringente Handlung gibt es bis zum doppelten überstürzten Finale nicht. Die Natur schlägt gleich zweimal zu, wobei Tina nur indirekt betroffen und in letzter Sekunde von einer weiteren markanten Figur aus „Land unter“ gerettet wird. Einem Menschen, dem sie vor Antritt ihres Italienurlaubs begegnet ist und den sie während dieser Stunden ganz anders einschätzte. Auch ihre eigentliche Heimat wird von einem weiteren katastrophalen Sturm heimgesucht. Die Vorbereitungen bekommt sie aus dem Gespräch mit ihrem Freund mit.  

Dazwischen steht noch  eine klassische Science Fiction Sequenz. In dem ausführlichen Nachwort geht Dieter Rieken auf seine Inspiration ein. Allerdings ist die Anklage nicht, dass die Menschheit ihren Planeten zugrunde gerichtet haben, sondern in der Kurzgeschichte wird der Außerirdische Klaatu lange vor dem Verkünden seiner Botschaft erschossen. In Robert Wises Verfilmung warnr der Außerirdische schließlich mit einem einstündigen Stromausfall die Menschheit, dass sie beobachtet werden und den Weg der atomaren (und noch nicht ökologischen) Selbstvernichtung nicht weitergehen sollen. Mächte im Kosmos würden verhindern, dass sich die aggressiven Menschen unter den friedlich zusammenlebenden Wesen in der Galaxis ausbreiten. Auch Dieter Riekens Außerirdische hat zumindest eine Idee, wie die Menschheit von ihrer ökologischen Selbstzerstörung abgebracht werden man. Man nimmt die neun Milliarden Menschen und versetzt sie auf einen erdähnlichen Planeten, der viermal so groß ist. Sie dürfen neu anfangen und wenn sie sich benehmen, könnten sie irgendwann zur Erde zurückkehren.

Inhaltlich konzentriert sich der Autor auf Tina, die nicht nur langsam zur Ruhe kommt, auch wenn die ökologischen Herausforderungen in Italien genauso schwer sind wie an der Nordsee. Das Innenleben seiner Protagonistin wird überzeugend, emotional und trotzdem nicht kitschig beschrieben. Aber die Handlung führt lange Zeit ins Nichts. Sie will das Haus renovieren und kauft ein. Da sie ihren PUC – eine Art Allzweckkommunikator – nicht trägt, bekommt sie wenig bis gar nichts vom Geschehen um sie herum mit. Rettung in letzter Sekunde; ein Neuanfang, der sie an die Wurzeln zurückführt.

Die Geschichte ist gut geschrieben, ihr fehlt aber ein inneres Momentum. Wie „Land unter“ konzentriert sich Dieter Rieken vor allem auf das Umfeld seiner Protagonisten, beschreibt teilweise ausführlich, dann eher oberflächlich die Veränderungen im Land, ohne dass der Leser wie Tina diese distanzierte Betrachterposition verlässt. Das ist grundsätzlich nicht schlimm, der Leser muss sich allerdings drauf einlassen.

Noch eine zweite Geschichte „Die Schneekönigin“ spielt unmittelbar nach einer ökologischen, dieses Mal aber nicht von Menschenhand verursachten Katastrophe. Die Informationen erhält der Leser nach und nach. Dieter Rieken hat die Geschichte für die Neuveröffentlichung grundlegend überarbeitet und die Protagonisten ausgetauscht. Statt dem in der vorliegenden Fassung an einer Lungenentzündung erkrankten Grendel ist es Linnea, welche die Verantwortung übernimmt. Nach einem Vulkanausbruch beginnt sich die Atmosphäre zu Verdunkeln, es wird kalt.  Die Menschen beginnen zu fliehen. Linnea entschließt sich, den anderen Weg zu gehen. Nach Norden. Unterwegs sammelt sie noch Grendel auf. Sie haben dort eine Hütte, in welcher sie zusammen mit zwei Hunden leben. Geschützt ist die Hütte durch einen Schneewall, der nur an einer Stelle passierbar ist. Die Haupthandlung beschreibt den brutalen Überfall auf die Hütte. Grendel ist zu krank, um sich zu wehren. Also übernimmt Linnea das Kommando und wehrt die Angreifer ab.

Am Ende ist Linnea einen Moment auf ihrem eigenen Thron die im Titel angesprochene Schneekönigin. Im Vergleich zur Titelgeschichte folgt „Die Schneekönigin“ der längsten Novelle „Jonas und der Held Terranovas“. In der Novelle sind es Menschen, welche zumindest in Worten Veränderungen anstreben, in „Die Schneekönigin“ zeigt sich am Himmel ein wenig Hoffnung.

Bis auf die Flucht nach Norden beschreibt Dieter Rieken genretechnisch nicht viel Neues. Beginnend mit „Die Straße“ – um ein neues Werk zu nennen – die lange Genrekette zurückblickend gibt es zahlreiche solcher Sequenzen. Nur der Hintergrund ändert sich.  Viele große Science Fiction Autoren haben sich an dieser Art des Katastrophengenres versucht. Linnea ist als Figur gut gezeichnet, ragt aber bei den drei Frauenfiguren – Yuma Watanabe aus „Jonas“ muss hier extra genannt werden – am Wenigsten heraus, auch wenn sie wie Tina in der Titelgeschichte eine tragende Rolle spielt. Es ist das Ende, das die Geschichte aus der Masse heraushebt. Es sind die kleinen Augenblicke, diese spielerisch entstandenen Szenen, die Dieter Riekens Werk auszeichnen. Die Suche nach diesen Momenten erfordert Geduld, wird vielleicht nicht immer belohnt, aber zeigt, welches Potential er als Schriftsteller hat.  

Die zweite Novelle  “Jonas und der Held Terranovas” ist ein Nachdruck aus „Nova“ 33 und die längste Geschichte dieser kleinen Anthologie. Dieter Rieken hat die Geschichte nach eigenen Angaben noch einmal gründlich überarbeitet, indem er die langen Passagen voller nicht immer relevanter Informationen geglättet hat. Die grundlegenden strukturellen Schwächen bleiben allerdings bestehen.  

Die Jonas Legende ist ein integraler Bestandteil der Story, auch wenn die Wale auf dem Planeten Terranova eher Würmern ähneln.

 Der Plot ist ein wenig zu simpel angelegt, auch wenn das Thema komplex ist. Irgendwie stimmt nach der Lektüre der beiden Fassungen die Balance immer noch nicht. Vielleicht wäre ein Roman die bessere Alternative gewesen.  

Der im Tau Ceti gelegene Planet ist von Europäern wie auch Asiaten besiedelt worden. Die Zahl der Siedlungen oder besser Siedler ist relativ klein, laut dem Autoren haben sie allerdings ihre Vorurteile und vor allem den schweren Rassismus von der Erde auf die neue Welt mitgebracht. Diese Ausgangsprämisse muss der Leser erst einmal akzeptieren, auch wenn angesichts der Herausforderungen es schwer nachvollziehbar ist, dass eine derartig kleine Gemeinschaft mit einer so schweren Aufgabe sich in den Kleinkriegen und vor allem von der Erde mitgebrachten Klischees verfängt. Aus der Distanz versucht Dieter Rieken die Quadratur des Kreises, in dem er für kritische Science Fiction durchaus opportun ein gegenwärtig brennendes Thema auf eine andere Welt verpflanzt und literarisch seziert. Aber das von ihm entwickelte Szenario wirkt wie der labortechnische Mikrokosmos. Wenig eigenständiges  Leben, aber gut gezüchtet.

Es ist natürlich auch ein schmaler Grat. Was ist wichtiger?  Demokratie und der entsprechende Mehrheitsbeschluss oder Minderheitenschutz ? Dazu müsste das von Beginn an etablierte Gesetz bzw, Abstimmungsverhalten geändert werden. In dieser Novelle ist es passend, dass die „Minderheit“ asiatischen Ursprungs ist, die Mehrheit Europäer. Das lässt sich in der Theorie auf jede Minderheit übertragen, die von der Mehrheit unterdrückt wird. Allerdings kann der Leser diesem Gedankengang nur eingeschränkt folgen, da nicht  - bis auf das unbegründete Reiseverbot – wirklich explizit nur Gesetze erlassen werden, welche den Asiaten schaden, den Europäer helfen und das Leben auf dem fremden Planeten für eine Gruppe schwer machen. Dazu ist dann der Hintergrund der Geschichte zu wenig differenziert entwickelt worden. 

Wie sich im Laufe der Geschichte herausstellt, ist der „Captain“ – militärischer Rang – unter dem Druck der Aufgabe in zwei Persönlichkeiten zerbrochen, die sich nicht wirklich mögen. Daher könnte der Titel auch als blanke Ironie verstanden werden, denn Jonas und der Held Terranovas sind untrennbar miteinander verbunden und doch auf immer “getrennt”. Auf der einen Seite die militärische charismatische Anführerfigur, die sich irgendwie dann doch den Aufgaben stellt, auf der anderen Seite der Jonas, der ängstliche Typ. Wobei der Jonas aus der Legende das genaue Gegenteil ist und der Captain sich im Wal bzw. Wurm wiederfindet. Aber nicht der Jonas. 

 Dieter Rieken versucht, den Konflikt innerhalb dieser gespaltenen Persönlichkeit der Situation der Kolonie gegenüberzustellen. Dabei wirkt die gespaltene Persönlichkeit noch überzeugender als der Alltag der Kolonisten.

Einmal im Jahr hält er auf dem Erinnerungsfest eine Rede, die Zeit dazwischen verbringt er im Tiefschlaf. Als dieses Fest einmal in einer anderen Kolonie, bewohnt von Asiaten stattfinden soll, brechen die rassistischen Vorurteile unter der im Grunde überschaubaren Anzahl von Siedlern endgültig und aggressiv wieder auf.

Nach der anfänglichen Zusammenarbeit versucht Dieter Rieken dem schlummernden und plötzlich wieder ausbrechenden Rassismus innerhalb der Kolonie auf den Grund zu gehen. Dazu ist aber der Hintergrund der Welt als Ganzes zu fragmentarisch angelegt. Entweder weniger mit einer stringenten Handlung oder mehr in Form eines Romans. Wie der ausbrechende Konflikt bleibt vieles unausgesprochen und der Leser muss die Gedanken des Autoren zu Ende führen. Für geübte Schriftsteller sicherlich eine hohe Kunst, aber bei Dieter Rieken bleibt vieles unausgegoren und vor allem angesichts der Länge der Geschichte und der stark konstruierten an ein Korsett erinnernden Struktur der Story zu wenig interessant erzählt.  Klischees reihen sich aneinander und an einigen Stellen hat der Leser Furcht, irgendwelche Parteiprogramme zu lesen. Rassistische Entgleisungen sollen schockieren, müssen in der Literatur weh tun, damit der vielleicht Scheuklappen tragende Leser aufwacht. Science Fiction kann und muss sperrig sein. Das war sie immer und wird sie hoffentlich auch wieder sein. Wenn sich Minderheiten verletzt fühlen, der Autor aber seine Kritik offen und nachvollziehbar für die Massen präsentiert, dann haben gute SF Geschichten ihre Ziele erreicht. Das ist bis zum wirklich naiven Ende der Geschichte leider bei dieser Novelle nicht der Fall.   

Jonas Täuber - der vollständige Name wird erst relativ spät in der Handlung offenbart - muss durch eine Art persönliches Fegefeuer gehen, bevor er während der finalen Rede das Licht der Erkenntnis erlangt hat.  Jonas erwacht, der Captain schweigt.

Vieles wirkt in dieser Novelle konstruiert.  Die Siedler verlagern fast alle Probleme von der Erde auf den neuen Planeten, obwohl nur jeder Zehnte diese Welt erreicht. In derartigen Extremsituationen ist es wahrscheinlicher, dass die Menschen ihre Herkunft vergessen und zusammenarbeiten. Es ist auch alles vorhanden, aber daraus lässt sich keine Novelle zimmern. Also muss alles wieder auf den rassistischen Anfang gestellt werden. Ja, nachvollziehbar, aber auch nicht wirklich überzeugend dargestellt.   Der Hintergrund der Welt ist eher fragmentarisch entwickelt und der Leser kann sich die seit der Landung verstrichene Zeit angesichts des Verhaltens der Siedlung schwer vorstellen.

Technik ist nur noch bedingt vorhanden, die Lebensumstände entsprechen eher den Science Fantasy Welten, die Jack Vance entwickelt hat. Überzeugend sind die gigantischen Würmer, welche den Wal ersetzen. Der Versuch, dem Wurm zu entkommen, ist die beste Passage der ganzen Novelle.

 Auch wenn sich der Text relativ fließend liest, wirkt der Handlungsaufbau auf den zweiten Blick bzw. der neuen Fassung weiterhin auf das ein wenig zu pragmatisch belehrende  Ende hin zugeschnitten. Natürlich will Dieter Rieken seinen Text auf einer positiven Note beenden, aber auch in der überarbeiteten Fassung ist der Wille stärker als das (geschriebene) Wort.    

Die drei Geschichten in “Zweimal langsamer wie du…” bieten neben den ökologischen Warnungen und der politischen Diskussion um Minderheiten und Rassismus in der längsten Geschichte der Sammlung solide Unterhaltung. Stilistisch ein wenig zu gleichförmig, ohne Tempowechsel oder Dynamik - im ersten Stillleben wäre das allerdings kontraproduktiv, in den beiden anderen Geschichten fällt es eher negativ auf - zeigt sich Dieter Riekens Potential als Erzähler, aber es will wie in “Land unter”  sich (noch) nicht richtig entfalten.  Dieter Rieken hat aber in einem Punkt recht. Die dunklen Hintergründe seiner Geschichten, die nachvollziehbaren Mahnungen und Warnungen vor den bevorstehenden ökologischen Katastrophen präsentieren die Plots trotz manch belehrenden Unterton und einigen Wendungen des Autoren, die ökonomische Gesichtspunkte ausser acht lassen und damit den Hintergrund von “Land unter” in dieser Hinsicht unrealistisch erscheinen lassen, auf der Höhe der Zeit. 

»ZWEIMAL LANGSAMER WIE DU …«: Erzählungen (AndroSF: Die SF-Reihe für den Science Fiction Club Deutschland e.V. (SFCD))

  • Herausgeber ‏ : ‎ p.machinery; 1. Edition (1. März 2024)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 148 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3957653797
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3957653796
  • Lesealter ‏ : ‎ Ab 14 Jahren