Somebody´s Voice

Ramsey Campbell

Ramsey Campbell hat sich in seinen inzwischen mehr als vierzig Romanen immer wieder eher mit der Psyche seiner Protagonisten als klassischen Bedrohungen auseinandergesetzt. Wie bei seinem großen Vorbild H.P.Lovecraft ist sich der Mensch selbst Feind genug und nicht selten konnte der Leser eher schwerlich zwischen tatsächlichen, übernatürlichen Bedrohungen aus dem ambivalenten Jenseits oder Einbildungen bis zu schweren psychischen Erkrankungen unterscheiden. Das lag weniger an den Fähigkeiten des Autoren, sondern seiner kraftvollen Art, eine bedrohliche Atmosphäre aus dem Nichts heraus zu erschaffen, die allerdings in zwei Richtungen erklärt werden könnte. In vielen seiner Romane entließ der Autor seine Leser mit dem unbestimmten Gefühl, dass dort draußen sehr viel mehr ist, als es auf den ersten Blick vermuten ließ.

„Somebody´s Voice“ ragt ja nach Perspektive positiv wie negativ aus Campbells umfangreichen Werk heraus. Positiv, weil es in dem allerdings lange Zeit auch die Geduld der Leser fordernden Buch keine übernatürlichen Bedrohungen gibt. Twitter mit seinen anonymen Hasskommentaren, seiner allgegenwärtigen Präsenz ist ausreichend, um einen Menschen beruflich zu vernichten oder in die Isolation zu treiben. Negativ, weil Ramsey Campbell zwei schwierige Sujet aufgreift, aber auf eine zu simple Art und Weise miteinander verbindet. Transgender und Missbrauch im Kindesalter.

Alexander Grand ist ein erfolgreicher Krimiautor. Mit seinem letzten Buch hat er sich allerdings in die Nesseln gesetzt.  Missbrauch von Kindern im häuslichen Umfeld und daraus resultierend der Drang der Betroffenen, sein Geschlecht zu verändern und ein anderes, von den ursprünglichen Erlebnissen abgetrenntes Leben zu beginnen. Alexander Grand wird vorgeworfen, mit diesen Themen zu oberflächlich umgegangen  zu sein.

Sein Verlag gibt ihm eine zweite Chance. Er soll nicht als Ghostwriter – diese Unterscheidung ist wichtig -, sondern als Co Autor die Memoiren eines Missbrauchsopfers niederschreiben, das sich als Erwachsene schließlich zu einem Geschlechtswechsel von Frau zu Mann entschieden hat. Aus Carla wurde Carl.

Ramsey Campbell erzählt die Geschichte auf zwei Ebenen. Nach der Einführung mit einer Lesung vor einem teilweise feindlich gesinnten Publikum mit einem Opportunisten namens ToM – die Szene wiederholt sich am Ende der Geschichte – spaltet Ramsey Campbell die Handlung auf.

Ein Teil ist Carlas Geschichte, erzählt von Alexander Grand. Dem Leser wird das fertige Buch präsentiert. Die „Wahrheit“. Dazwischen breitet sich ein zweites Handlungsbogen aus. Alexander Grand erfährt, dass Carl – inzwischen ist er ein erfolgreicher Unternehmer – einzelne Passagen entweder ausgelassen hat – die Schwester lebt -, verändert – ein Charakter ist nicht tot – oder möglicherweise auch erfand – eine weitere Nebenfigur steht nur auf Jungs und nicht Mädchen.

Alexander Grand steht plötzlich zwischen allen Stühlen. Sein Verlag ist nicht begeistert, auch wenn er schnell sowohl von Carla wie auch Alex Grand eine Erklärung bekommt, dass die Geschichte auf Erinnerungen basiert, die sie als wahrhaftig annehmen.

Der Ärger konzentriert sich bei Alexander Grand, während Carl als Erzähler sich ausgesprochen ambivalent verhält und eher von einer Art Grundsatzurteil spricht, das indirekt wie auch später direkt zur Verurteilung der Schuldigen führt.

Ramsey Campbell hat in seinem Roman die ungewöhnliche Schwierigkeit, Tabuthemen  emotional zufriedenstellend anzusprechen, aber auch sachlich distanziert, ohne den Vorwurf eines Voyeurs   abzuarbeiten. Keine leichte Aufgabe.

In der vorliegenden Form ist Carlas tragische Geschichte im Grunde ein Klassiker. Ihr Vater kommt durch einen Autounfall ums Leben, sein Chef heiratet sich in die kleine Familie ein. Er ist ein bigotter dominanter Mann, der mehr und mehr Carlas schwache Mutter unter seine Kontrolle bringt. Anschließend beginnt der Missbrauch, wobei Carlas Stiefvater so clever ist, es nicht zur Penetration und damit offensichtlichen Spuren kommen zu lassen. Carla steht alleine da, niemand will ihr glauben.

Dieser Teil Roman beschreibt ihre Rückkehr ins Leben. Sie kann sich aus der Familie lösen und findet nach einigen Exzessen mit Drogen als Betäubungsmittel zurück ins Leben. Kollegen schenken ihr Vertrauen, Carla arbeitet sich von der Telefonzentrale eines Konkurrenz-Taxiunternehmens zu ihrem Vater über Fahrer hoch zum Chef. Und als Chef beginnt sie, Alex Grand ihre Geschichte zu erzählen.

Die Handlung ist schlüssig, geradlinig und Ramsey Campbell trifft nicht selten die richtigen Töne. Religiöse Fundamentalisten christlichen Glaubens sind in seinem Werk keine Seltenheit. Ihre Betriebsblindheit gegenüber der Öffentlichkeit ist das Einfallstor für geschickte Manipulation und schließlich auch die Verzweiflung Carlas.

Die potentielle Bestrafung der Schuldigen wirkt dann allerdings teilweise konstruiert. So impliziert Ramsey Campbell, dass der verzweifelt auf der Suche nach der Wahrheit befindliche Alexander Grand ausgerechnet im richtigen Moment am richtigen Ort ist, um die Verhaftung live zu verfolgen. Er behauptet steif und fest, dass er nicht die Polizei gerufen hat. Ihr schneller Einsatz wäre auch ein wenig befremdlich. 

Alex Grand ist noch ein zweites Mal Zeuge einer solchen Aktion. Hier wird die Geschichte kryptisch. Während die erste Sequenz in einer Verhaftung und einem späteren Gerichtsprozess gipfelt, endet die zweite Szene tragisch. Allerdings aus Perspektive des übergeordneten „objektiven“ Erzählers auch ohne tragfähige Beweise.

Mit dieser Doppelung will Ramsey Campbell ausdrücken, dass sich Alex Grands Welt mehr und mehr verändert.  Anscheinend hat er als Schriftsteller einige Szenen Carlas ausgearbeitet und erweitert.  Ob es eine im Badezimmer spielende Szene wirklich gegeben hat, muss der  Leser final selbst entscheiden. Vieles spricht dafür. Eine verschüttete Erinnerung, die nicht nur beim Verfassen dieser Lebenserinnerungen, sondern vor allem auch des vorangegangenen Krimis zu Tage getreten ist. Diese Erinnerung bewirkt eine komplette Veränderung in Alexander Grand, welche die Basis für den Epilog und damit eine Rückkehr zum Anfang der Geschichte darstellt. Ramsey Campbell ist ein routinierter Erzähler, ein guter literarischer Psychologe, der sich in seine Figuren hineindenkt, ihre nur auf den ersten Blick geordneten Welten zum Einsturz bringt, um dann im günstigen Fall etwas Neues, etwas Anderes und vielleicht auch etwas Befreiendes aufzubauen.  Im ungünstigen Fall sind seine sympathischen Protagonisten verloren und Wahnsinn wäre eine metaphorisch gesprochene Befreiung.

Diese Änderung muss aber vorbereitet werden. Ramsey Campbell konzentriert sich mehr und mehr  auf den Sündenbock Alex Grand. Dabei arbeitet Campbell zu wenig heraus, wie viele Freiheiten sich ein Autor bei einer biographischen Geschichte wirklich nehmen darf und wo sein Mitstreiter die Grenzen setzen muss. So entschlossen Carla auch ihren eigenen Weg gegen die Familie und die verschiedenen Herausforderungen zu gehen sucht, desto weicher und schwammiger zeichnet Ramsey Campbell sie/ ihn als Erwachsene. Der Leser beginnt, jegliche Sympathien für Carla zu verlieren. Sie scheint sich auf einem Rachefeldzug zu befinden. Alexander Grand hat auf der einen Seite das Problem, dass sich vor allem sein Vater angesichts der beiden Bücher schuldig zu fühlen beginnt. Ob berechtigt oder nicht, deckt der Autor erst gegen Ende der Story in einer dramaturgisch gut geschriebenen, aber für den aufmerksamen Leser auch nicht mehr überraschenden Szene auf.

 Ramsey Campbell versucht die unmögliche Quadratur des Kreises. Eine Doppelung von Ereignissen, wobei ein Charakter hinsichtlich der Notwendigkeit, aber auch der Konsequenzen nicht wirklich klar ist. Das wirkt auf der einen Seite gegen alle Zufälligkeiten konstruiert. Auch die finale Erkenntnis, dass  Alex Grands und Carlas Leben in unterschiedlicher Gewichtung in die Geschichte eingeflossen sind und sich Alex Grand nur mit einem dritten, im Epilog erwähnten Buch befreien kann, erscheinen zu stark konstruiert und schießen über das Ziel hinaus.

Der Autor versucht klar zu machen, dass Missbrauch immer und überall stattfinden kann. Aber die Schwäche des Buches ist die einseitige Abfolge. Anders herum könnte ein Leser auch berechtigt argumentieren, dass Transgender die Folge von einem Missbrauch in der Kindheit sind. Das ist zu polemisch, vielleicht zu antiquiert, aber vor allem zu einseitig.

„Somebody´s Voice“ – der Titel passt rückblickend ausgesprochen gut auf die ganze Geschichte – ist ein psychologischer Thriller mit einigen interessanten Wendungen. Der grundlegende Spannungsaufbau erfolgt über die Gegenwartsebene. Der Leser möchte ab einem bestimmten Punkt wissen, was an Carlas Geschichte echt und was erfunden ist. Diese Frage wird nur bedingt beantwortet, weil Ramsey Campbell ein anderes Sujet – Internetpornographie – als Beweis der Schuld des Angeklagten hervorzaubert. Damit macht es sich der Autor hinsichtlich der grundsätzlichen Frage zu leicht.

So werden Carlas und Alexs Computer gleichzeitig durch einen Virus zerstört. Zufall oder Absicht? Es gibt bei Ramsey Campbell keine Clouds, in denen Daten aufbewahrt werden. Interessant ist, dass Alex Grand seine eigenen Bücher auf einem gesonderten Computer schreibt. So bleibt sein neuer klassischer Krimi erhalten, während alle Notizen und potentiellen Beweise – möglicherweise gefälscht – verschwunden sind. Viel nachgefragt gegenüber Carla/ Carl wird auch nicht. Immerhin hat sie diese „Beweise“ als Grundlage ihrer Geschichte eingereicht und damit gelogen. Inwieweit der Ghostwriter die Fakten prüfen muss, bleibt ebenfalls unausgesprochen. Alex Grand hätte auch einfach darauf bestehen können, dass sein Name vom Buch genommen wird. Immerhin ist er lange Zeit anscheinend ein populärer wie kommerzieller Autor gewesen. Der Sturm im Wasserglas wirkt in dieser Hinsicht überzogen, ist aber eine spannungstechnische Notwendigkeit.  

Ein anderer Punkt wird vollkommen vernachlässigt. Carla ist in mehrfacher Hinsicht ein Opfer, Alexander Grand ist einseitig eine Art von Täter außerhalb der Kategorie sexuellen Missbrauchs. Für den Verlag wäre es eine Sensation, wenn sie das Buch ganz anders vermarktet hätten, als Carla und Alex Grand geschrieben haben. Dabei geht es weniger um die Änderungen, sondern die grundsätzliche Frage, wie durch einen Zufall nicht eine, sondern möglicherweise zwei allerdings schwer beweisbare Straftaten zu Tage gefördert worden sind. Carla und Alex Grand sind – in der Theorie- enger verbunden, als es der Öffentlichkeit deutlich gemacht wird. Hier liegt die Schwäche des Buches und damit auch die Ignoranz des Autoren gegenüber den von ihm geschaffenen Tatsachen. Natürlich ist es schwieriger, Carlas Geschichte mit Alex Grands Erinnerungen (?) zu verbinden, aber es wäre für einen guten Autoren möglich gewesen und das Buch wäre literarisch wahrscheinlich zu einer wirklichen Sensation gewesen. Carla hat ja seine Rache schon gehabt.

So bleiben nach der Lektüre mehr Fragen als Antworten übrig. Für Ramsey Campbells Werk handelt es sich ohne Frage um ein ungewöhnliches, interessantes, auch herausforderndes Buch, das den Leser erst nach und nach in seinen Bann zieht. Am Ende wird  er ein wenig zu leicht auf die Straße gesetzt. Mit wenigen unbefriedigenden Antworten, aber Charakteren, die durch ihren Reifeprozess zu anderen, nicht  unbedingt besseren Menschen geworden sind. Dem Thema Missbrauch in der eigenen Familie hat Ramsey Campbell aber mit der engen Bindung an Geschlechtsumwandlungen und damit dem Transgender Thema eher einen Bärendienst erwiesen, so dass „Somebody´s Voice“ eher zu den konstruierten und damit auch inhaltlich eher schwächeren neuen Romanen des Briten gehört. Angesichts der thematischen Erwartungshaltung eine kalte Dusche, auch wenn das Buch selbst mit den dreidimensionalen Charakteren und der interessanten verschachtelten Handlungskonzeption zu einem der ambitioniertesten Projekte Campbells seit einigen Jahren gehört und die Abwendung von typischen Lovecraft Szenarien noch einmal konsequent unterstreicht.   



  • Herausgeber ‏ : ‎ Flame Tree Press (22. Juni 2021)
  • Sprache ‏ : ‎ Englisch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 352 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 1787586073
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-1787586079

Somebody's Voice (Fiction Without Frontiers)

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