Somniferus

Michael Siefener

Mit „Somniferus“ begann Michael Siefener eine kleine Reihe von phantastischen Geschichten, die in der Wahlheimat das in Köln geborenen Schriftstellers spielen: der Eifel. Schon in „Somniferus“ finden sich einzelne Aspekte, auf welche Michael Siefener in den folgenden Geschichten immer wieder zurückkommen sollte. Eine Schnitzeljagd durch die Eifel; die Suche nach geheimnisvollen Büchern oder Statuen von Göttern – im vorliegenden Band ist beides vorhanden -; ein junger getriebener Protagonist, der eine deutlich ihm intellektuell überlegene Frau kennen- und lieben lernt. Ein dunkles, übernatürliches Ende, das wie bei Lovecraft tiefe Spuren in den Protagonisten, aber keine Beweise für die langen Arme des Gesetzes oder die Öffentlichkeit zurücklässt.

Diese Zusammenfassung könnte den Eindruck hinterlassen, dass Michael Siefeners Geschichten schematisch angelegt worden sind. Das ist richtig und falsch zugleich. Richtig ist, dass sich der Autor in einzelnen Mechanismen des Genres sehr wohl fühlt und sich sicher in ihnen bewegt. Es gibt aber auch einige andere Siefener Romane wie „Der Ballsaal auf der dunklen Seite des Mondes“ oder „Der schwarze Atem Gottes“, in denen der studierte Rechtsanwalt und Übersetzer diese Muster Gunsten anderer, deutlich groteskerer Storys hinter sich gelassen hat. Und selbst wenn sich Michael Siefener im Groben in einem bestimmten Rahmen bei den in der Eifel spielenden Geschichten bewegt, sind sie trotzdem aufgrund seiner dreidimensionalen Protagonisten, der überzeugend lebendigen Beschreibung seiner Heimat und einigen überraschenden Wendungen sehr lesenswert. Schließlich gehört Michael Siefener zu den großen Stilisten der Weird Fiction in deutscher Sprache.

Schriftsteller ziehen Michael Siefener an. Als Übersetzer populärer Romane bekannt ist er aufgrund der grotesken Elemente seiner Geschichten, der Langsamkeit der Erzählung und der über die Atmosphäre stattfindenden Verdichtung seiner Texte niemals ein populärer Autor geworden. Nur eine Veröffentlichung - „Nonnen“ – in einem der großen Verlage. Vielleicht fühlt sich Michael Siefener deswegen zu den Existenzen hingezogen, die Schriftsteller sein wollen, aber die Angst vor der großen Leere des Papiers (inzwischen natürlich des Computerschirms ) haben. Ralf Weiler ist einer dieser zahlreichen Charaktere. Er lebt mehr schlecht als recht in Köln. Die Sozialhilfe überbrückt die Zeit, bis endlich ein Verlag sein Potential erkennt und seine Bücher kauft. Ein Notar namens Harder bittet ihn, zu ihm in sein Büro nach Daun zu reisen. Ralf Weiler ahnt, dass es um seinen Onkel geht, der als biederer Priester seiner Mutter das Leben nach der Trennung von ihrem Mann zur Hölle gemacht hat.

Der Notar Harder eröffnet ihm, dass sein Onkel verschwunden ist. Er hat allerdings Vollmachten hinterlassen, dass Ralf Weiler in dessen Haus in der Eifel leben und über das Sparbuch verfügen kann. Auf dem befindet sich eine höhere Summe, die zum Leben reicht. Sollte die Leiche seines Onkels nicht auftauchen, könnte er das Erbe erst nach dem Ablauf von zehn Jahren antreten.

Ralf Weiler ist es egal. Er zieht vorläufig in das Haus ein und will einige Tage später vom Sparbuch ein wenig Geld abheben. Das Sparbuch ist aber plötzlich leer, der Notar hat das ganze Geld abgehoben. Als Ralf Weiler den Notar konfrontiert, erfährt er, dass das Geld nicht unterschlagen worden ist, sondern sein Onkel hat ihm eine Nachricht hinterlassen. Er muss erst ein besonderes Buch beschaffen, bevor er wieder monetär versorgt wird. Das Buch befindet sich im Besitz eines ebenfalls in der Eifel lebenden Sammlers Adolphis, der sich aber weigert, Ralf Weiler die Ausgabe zu geben. Anscheinend gab es einen Streit zwischen Ralf Weilers Onkel und Adolphi vor dessen Erwerb der „Enchiridion Mythologium“.

Verzweifelt entschließt sich Ralf Weiler, vom Pfad der Tugend abzuweichen. Er ahnt nicht, dass es der Beginn einer Odysee, aber auch einer Verfolgungsjagd durch die Eifel ist, an deren Ende neben einer lebensgefährlichen Situation auch eine Überraschung steht.

Michael Siefener liebt es, mit der Erwartungshaltung seiner Leser zu Lasten der nicht selten geistigen Gesundheit seiner Protagonisten zu spielen. Wenn man Siefeners Werk charakterisieren sollte, dann fallen einige der Eifelkrimis in dessen Gothic- Hitchock Periode. Der Leser weiß, dass Ralf Weiler an einem großen Verbrechen unschuldig ist, obwohl er ein kleines Verbrechen begehen wollte. Der Leser ist aber einige Zeit der einzige Zeuge, dass Weiler unschuldig ist oder besser sein könnte. Manchmal hat es Michael Siefener auch nicht so mit den Realitäten und was für seine Figuren greifbar, überzeugend ist, kann aus der anderen Dimension betrachtet eine Fehlinterpretation, eine verschobene Perspektive sein. Aber Ralf Weiler muss die Polizei überzeugen, dass er kein Verbrecher ist. Es ist schwierig, wenn man aus dem Gefängnis flieht und zusätzlich einen aus Düsseldorf strafversetzten Kommissar im Nacken hat, der endlich seinen großen Fall wittert. Wie bei Alfred Hitchcock ist dann auch noch die einzige Person, die einem helfen kann und muss, ausgerechnet die Tochter des Opfers, das Ralf Weiler ermordet haben soll. Ein gordischer Knoten, der nicht einfach durchschlagen werden kann.

In der ersten Hälfte des Buches konzentriert sich Michael Siefener auf die Interaktion zwischen den einzelnen Figuren. Ralf Weiler ist in seiner eigenen Schnitzeljagd unterwegs, da er ja gerne das Geld des Onkels wieder in den Besitz nehmen möchte. Der Onkel scheint von jenseits des Grabes seinem Enkel Anweisungen zu geben. Jeder kleine Erfolg ist im Grunde nur ein Pyrrhussieg. Im Nacken ist die angesprochene Polizei.

Erst in der Mitte des Buches dreht sich ein wenig der Spieß um. Seine Neugierde ist geweckt und Ralf Weiler beginnt mit der schon anfänglich angesprochenen attraktiven Frau an seiner Seite deutlich aktiver den Spuren zu folgen. Nicht mehr nur, weil es um  das Erbe geht, sondern weil er erstens versucht, auf diese Art sich gegenüber der Polizei reinzuwaschen und zweitens, weil er wissen will, ob er das Opfer eines raffinierten Betrugs geworden ist.

 Der Mord bzw. Polizeiaspekt ist spannungstechnisch wichtig. Die Schnitzeljagd erhält dadurch eine zusätzliche Dynamik inklusive Kirchenasyl, Verfolgungsjagden zu Fuß mit allerdings auch unsportlichen Polizisten und eine Art Rettung in letzter Sekunde durch den von Michael Siefener absichtlich überzogen wie unsympathisch charakterisierten Protagonisten.

Über weite Strecken ist der Roman naturalistisch- realistisch. Es finden  sich keine übernatürlichen Elemente. Hier folgt der Autor H.P. Lovecraft, wobei er sowohl auf den allwissenden Erzähler sowie dessen gerne genommene Rahmenhandlung verzichtet.  Der Plot verläuft ausgesprochen geradlinig und bewegt sich ausschließlich auf Augenhöhe Ralf Weilers. Alle in der Vergangenheit liegenden Informationen erfährt der Leser zusammen mit Weiler und der Tochter des Toten auf Augenhöhe. Manchmal erwartet die beiden die Polizei an Orten, an denen sie sich sicher gefühlt haben. Manchmal ist es nur das große Dunkle, das auf die beiden Flüchtenden einzustürzen droht. Dabei geht Michael Siefener rückblickend auch ausgesprochen fair mit den Lesern um. Die Polizei wirkt in Person des überdrehten Kommissars arrogant wie hilflos, aber seine Recherche und das Folgen der Spuren inklusiv der antiquiert wirkenden Fahndungsblätter ergibt rückblickend erläutert einen Sinn und ist nicht aus der Luft gegriffen.

Das Phantastische schleicht sich aber der Mitte der Geschichte in den Plot ein. Die Suche nach der Statue eines längst vergessenen Gottes wird zwar vom verschwundenen Onkel initiiert, entwickelt aber bald durch den Tod des Sammlers ein Eigenleben. Michael Siefener vermischt hier gekonnt lokale Geschichte mit der Eifel als Hort von zahllosen Fundstücken, Tempeln und schließlich auch Legenden mit den angesprochenen Lovecraft Anspielungen und schließlich auch verrückten Kultmitgliedern, die gar nicht wussten, dass diese Suche im Grunde sinnlos gewesen ist, weil das Ergebnis so nah und gleichzeitig lange Zeit fern gewesen ist. Der Schrecken spielt sich vor allem im Bewusstsein der beiden Verfolgten ab. Es gibt keine Beweise, dass wirklich ein dunkler Schatten ihnen folgt. Es gibt keine Bedrohungen aus dem Jenseits – der Mensch ist wieder einmal an gefährlichsten – und vor allem gibt es rückblickend auch keine Beweise. Da hilft auch der klassische, an ein Klischee erinnernde Epilog nicht. Auf solche kleinen Tricks hat Lovecraft in den meisten seiner Geschichten nicht zurückgegriffen. Vielmehr begann der Amerikaner in der Spätphase seines Werkens die möglichen Schrecken gleich aus der Perspektive eines unzuverlässigen Erzählers zu etablieren und der Leser folgte dem Ich- Erzähler dann nicht nur in den persönlichen Wahnsinn, sondern die etablierte Prämisse wurde nach und nach bewiesen. Zumindest in dem intimen Kreis bestehend aus Leser und Erzähler. In dieser Hinsicht ist Michael Siefener deutlich offener und mehr dem Spannungsgenre verschrieben.

Neben dem hohen Tempo und der ausgesprochen stringenten Handlung vor einem minutiös gezeichneten und dem Autoren sehr gut vertrauten Hintergrund der vielschichtigen Eifelgeschichte und ihrer Geschichten überzeugt nicht zum ersten oder letzten Mal die Zeichnung der Protagonisten. Natürlich wirkt es ein wenig schematisch, wenn Ralf Weiler aus dem wehleidigen, verhinderten Autoren zum Helden wird und damit auch die Frau gewinnt, die lange Zeit das deutlich dynamischere Element in diesem Buch verkörperte. Selbst im Bett geht die Initiative von ihr aus. Dabei hat sie gerade ihren Vater verloren und sollte deutlich misstrauischer sein. Diese Wandlung mit der Implikation eines weiteren Mörders, eines möglichen Selbstmords auf eine ausgesprochen grausame Art und Weise oder doch Ralf Weiler als Einbrecher, der seine Tat zu vertuschen sucht wirkt ein wenig zu simpel angelegt und erfolgt zu pragmatisch. Die Bedrohungen aus dem Jenseits sind eher angedeutet, die Verfolgung durch die Polizei und die Haftbefehle inzwischen für Beide – einmal wegen Mordverdacht, dann wegen Fluchthilfe – dagegen konkret.  In „Das Schattenbuch“ wird Michael Siefener beginnen, noch lebendigere, aber auch mehr exzentrische Frauenfiguren zu erschaffen.  Aber trotz einiger abgeschliffener Ecken und Kanten leben seine Figuren und tragen dazu bei, sich bei „Somniferus“ gut unterhalten zu fühlen.  

Vor allem unterscheidet sich Michael Siefeners Roman durch den teilweise selbstironischen Ton des Erzählers, der mit seinen Andeutungen weitere Herausforderungen und Gefahren prophezeit, aber inzwischen voller Adrenalin ist und die Sache nicht nur wegen des Geldes, sondern auch der Frau an seiner Seite durchziehen möchte. Dieser stilistische Kniff erdet den ganzen Plot und hebt die Geschichte von Arbeiten andere lokaler Horror/ Gruselautoren wie zum Beispiel Jörg Kleudgen positiv ab. „Somniferus“ ist neben „Das Schattenbuch“ ein sehr guter Einstieg in Michael Siefener stellenweise unnötig als exzentrisch oder kompliziert abgestempeltes Werk.  


Somniferus (KBV-Phantastik)

  • Herausgeber ‏ : ‎ KBV
  • Erscheinungstermin ‏ : ‎ 30. September 2003
  • Auflage ‏ : ‎ 1.,
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Seitenzahl der Print-Ausgabe ‏ : ‎ 272 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3937001379
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3937001371
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