Weihnachtskrimis

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Mit den „Klassischen Erzählungen aus England“ legt der Anaconda Verlag insgesamt sechs an oder um Weihnachten spielende Kriminalerzählungen überwiegend aus dem 19. Jahrhundert britischer Autoren vor. Vertreten sind Namen wie Sir Arthur Conan Doyle natürlich mit einer Sherlock Holmes Geschichte, aber auch Robert Louis Stevenson oder auch Edgar Wallace. Schade ist, dass dem handlichen kleinen Hardcover keine Autorenvorstellung beigefügt worden ist. Bei den unbekannteren Autoren und Autorinnen dieser Sammlung lohnt es sich, online zu gehen und mehr über die Schriftsteller selbst oder ihre Figuren zu erfahren.

 Mit der übernatürlich angehauchten und im übertragenen Sinne dem Geist der Weihnacht verfallenen Geschichte „Markheim“ aus der Feder Robert Louis Stevenson wird die kleine Anthologie eröffnet. Markheim ist ein Spieler, der Börse verfallen. Immer wieder hat er wertvolle Gegenstände seines Onkels verkauft oder verpfändet. Am Heiligen Abend wendet er sich an den Makler dieser wertvollen Utensilien und gibt vor, ein Geschenk für eine zukünftige Verlobte kaufen zu wollen. Mit einem Spiegel – in diesem könnte Markheim sein eigenes schlechtes Gewissen erkennen, aber die übernatürlichen Elemente der Geschichte treten erst deutlich später auf – provoziert ihn der ältere Mann und reizt Markheim. Aus Wut und Affekt schlägt er den Wucherer nieder und tötet ihn. Er beschließt, nicht nur die wertvollen Gegenstände zu stehlen, sondern auch den Safe im ersten Stock auszurauben. Irgendwann spürt er, dass er nicht mehr alleine in dem Haus ist. Sein Begleiter will ihm helfen, das perfekte Verbrechen zu begehen und beginnt Markheims im Grunde dunkle Seele zu belasten.

 Robert Louis Stevenson baut konsequent eine dunkle morbide Atmosphäre auf. Phasenweise erinnert die charakterliche Entwicklung seines Protagonisten an Stevensons bekannteste Schöpfungen Jekyll & Hyde, mit dem seltsamen Begleiter als der eigentliche Hyde, der subversiv aber effektiv Markheim manipuliert. Das Ende kommt aus dem Nichts heraus und der Leser wird gezwungen, zwischen den Zeilen zu lesen, um dieser Entwicklung zu folgen. Aber es ist auch in sich logisch, da Markheim nicht nur mehr und mehr mit den eigenen inneren Dämonen konfrontiert wird, sondern anscheinend in dem geheimnisvollen Begleiter sein eigenes noch dunkleres Ich sieht, dem er schließlich zu entkommen sucht. Eine spannende, intensive Geschichte mit einem Verbrechen am Heiligen Abend, aber keiner klassischen Detektivstruktur. 

 Catherine Louisa Pirkins ist eine von zwei Frauen dieser Sammlung. Mit der bezaubernden Loveday Brookes ermittelt eine der ersten britischen Detektivinnen im Fall „Der schwarze Koffer auf der Türschwelle“. Zwar braucht die Quereinsteigerin Lovedy Brooks noch einen männlichen Chef, um ihre Fähigkeiten zu präsentieren, aber dieser hat schnell erkannt, dass die junge aparte Frau ihm geistig überlegen ist. Viele von Loceday Brooks Fällen sind in England inzwischen in Sammelbänden zusammengefasst worden. Der vorliegende Fall zeigt, dass sie Sherlock Holmes hinsichtlich ihrer Kombinationsgabe in nichts nachsteht. Am Heiligabend wird der Safe einer Adligen aufgebrochen und eine ironische Nachricht hinterlassen. Das Haus war voller Gäste und trotzdem gelang der Coup. Anscheinend gab es Hilfe von innen. Kurze Zeit später entdeckt Loveday Brookes einen Artikel, in dem von einem schwarzen Koffer die Rede ist, welche neben einigen Schriften mit einer ironisch formulierten „Botschaft“ auf der besagten Türschwelle abgestellt worden ist. Rückblickend muss selbst der Täter zugeben, dass Übermut selten gut tut. Ohne diesen Koffer und der entsprechenden Nachricht hätte er vielleicht nicht nur einen perfekten Einbruch vollbracht, sondern auch ein unschuldiges französisches Dienstmädchen ins Gefängnis gebracht. Lovedy Brookes ermittelt ohne persönliche Kenntnis des Täters. Ihre Schlussfolgerungen basieren nicht nur auf Beobachtungen, in diesem Fall auch im Laufe ihrer bisherigen Berufe gemachten Erfahrungen und einem Schuss Allgemeinwissen, über das der damalige Leser genauso wenig verfügt wie es heute der Fall ist. Im Angesichts des noch spöttisch lächelnden Täters fügt sie die einzelnen Mosaiksteine zusammen und präsentiert ihren natürlich wasserdichten Fall. Die Geschichte wendet sich wie Chestertons Pater Brown Storys oder Doyles Sherlock Holmes vor allem an ein intellektuelles Publikum und verzichtet gänzlich auf Action. 

 Zu den bekanntesten britischen Ermittlern gehören natürlich Father Brown und Sherlock Holmes. In den beiden hier gesammelten Fällen geht es um den Diebstahl von wertvollen Edelsteinen, wobei der Diebstahl in beiden Geschichten in der Mitte (Sherlock Holmes) und am Ende (Father Brown) eine Kuriositätenkette steht. In „Die Geschichte des blauen Karfunkels“ (Sir Arthur Conan Doyle) werden Sherlock Holmes ein Hut und eine Gans gebracht. Der Hut scheint einem Mann zu gehören, der früher zu bessere Mittelschicht gehört hat. Im Kropf der Gans wird beim Zubereiten ein wertvolles Garfunkel gefunden, das nur wenige Tage vorher in einem Hotel gestohlen worden ist. Sherlock Holmes und Doktor Watson folgen der Spur der Gans und können so über Umwege den Täter ermitteln. Die Geschichte beginnt humorig, geht dann über zu einer Schnitzeljagd mit der Frage, ob die Gänse aus der Stadt oder vom Land stammen und endet mit christlicher Vergebung. Es mag nicht die stärkste Sherlock Holmes Geschichte sein, aber beginnend mit den Beobachtungen am ehemals lebenden Objekt – der Gans – und dem Hut des kurzzeitigen Besitzer kann Sherlock Holmes seine intellektuelle Überlegenheit ausspielen, auch wenn der mittlere Abschnitt der Geschichte in erster Linie klassische Fußarbeit ist.

 Deutlich bizarrer ist Gilbert Keith Chestertons „Die flüchtigen Sterne“. Während einer Weihnachtsfeier mit Father Brown als Gast entgleitet das Geschehen in einem bizarren Improvisationstheater, an dessen Ende dem Gastgeber drei wertvolle Steine gestohlen worden sind. Father Brown ist geistesgegenwärtig genug, um dem Dieb in die Nacht zu folgen und in sein Gewissen zu reden. Er rollt die Ereignisse dieser Nacht noch einmal auf und ermöglicht es so dem Leser, dem wilden Treiben mit einer Vielzahl teilweise überdreht bis narzisstisch agierender Charaktere gut zu folgen. Dabei lenkt das seltsame Mienenspiel deutlich von der weihnachtlichen Stimmung, aber auch dem eigentlichen Geschehen ab, so dass im Gegensatz zu einigen anderen hier gesammelten Geschichten kein einheitlicher und vor allem stringenter Spannungsbogen aufgebaut werden kann. Positiv spielt Gilbert Keith Chesterton aber auch geschickt mit den Erwartungen der Leser und deklassiert dieses Weihnachtsfest zu einer absurden Farce für die gelangweilte britische Oberschicht.     

 In zwei der Geschichte zeigen die Täter ehrliche Reue. Da müssen die beiden letzten Autoren der Sammlung Edgar Wallace und Marjorie Bowen ordentlich gegenhalten. Bei Edgar Wallace kommt zumindest für eine Teiltat als entschuldigendes Element der lange und nicht unbedingt geradlinige Arm des Gesetzes hinzu.

 In „Die Chopham- Affäre“ möchte ein lateinamerikanischer Casanova mit angeblich spanischen Pass seine weiblichen Opfer weiter melken. Sein Pech ist es, dass eine junge frisch verheiratete Dame über Weihnachten zu ihren Verwandten in die USA gereist ist, der Ehemann aber den Brief aufmacht.

 Edgar Wallace teilt die Geschichte förmlich auf. Im ersten Abschnitt erzählt er von dem rücksichtslosen Erpresser und seinen Opfern; dem Plan, dieses Mal persönlich ausgerechnet über Weihnachten in London Geld einzutreiben und dem Moment, als sich die Tür zum heimlichen Treffpunkt öffnet.

 Anschließend gibt es einen auf den ersten Blick harten Schnitt. Zwei Opfer werden in einem Wagen gefunden. Beide Männer sind erschossen worden. Die Polizei steht vor einem Rätsel. Nur der Leser erfährt als Mitverschwörer die eigentlichen Zusammenhänge. Dabei fügt Edgar Wallace mit dem Mann zur falschen Zeit am falschen Ort aber dem „richtigen“ Mann gegenüber noch eine weitere zynische Komponente mit hinzu. Einige britische Geschichten machen den Leser nicht zum Mittäter, aber zum einzigen Mitwisser, so dass diese Idee nicht wirklich überraschend kommt. Aber Edgar Wallace beendet die Geschichte anschließend sogar auf einer romantischen Note, die viel besser zu Weihnachten passt.

 Auch Marjorie Bowens „Der chinesische Apfel“ beinhaltet ein Verbrechen, das aber abseits der Haupthandlung stattfindet und doch ausstrahlt. Um ihre privaten Angelegenheiten mit einem vermieteten Elternhaus über Weihnachten abzuwickeln, reist Isabelle Crosland aus Italien nach England. Aus mehreren über die Handlung verstreuten Hinweisen wird deutlich, dass sie erstens mit ihren Eltern eine eher schwere Kindheit hatte und zweitens auch die Ehe mit ihrem früh verstorbenen Mann nicht glücklich ist. Ein Zimmermädchen aus der Nachbarstadt soll Isabelle Crosland über die Feiertage ein wenig zur Hand gehen. Von einem örtlichen Polizisten erfahren die beiden Frauen, dass eine ältere Dame im Haus an der Ecke wohnend auf eine brutale Art und Weise erschlagen worden ist.

 Die Geschichte besticht durch die beklemmende Atmosphäre des verlassenen Hauses, in dem der ausgezogene Mieter im Grunde fast alles so gelassen hat wie zu den Zeiten Iseballe Crosland. Auch die Beziehung zum Zimmermädchen Lucy wirkt ein wenig schwierig, da sie anscheinend erstens nicht mit nach Italien möchte und zweitens trotz ihrer schlechten Bezahlung ein wenig Geld zur Seite gelegt hat. Die einzelnen Versatzstücke fallen erst auf den letzten beiden Seiten durch einen zufälligen Blick in ein bislang nicht betretenes Zimmer zusammen.

 Die Zeichnung der beiden so unterschiedlichen Frauen, die aber ein ähnliches Schicksal miteinander verbindet, macht den Reiz dieser ruhigen, stimmungsvollen und lange Zeit im Grunde nicht weihnachtlichen Geschichte aus. Weihnachten sorgt eher für eine erdrückende Stimmung in dem unterkühlten Haus. Am Ende erklärt die Autorin auch die Bedeutung des seltsamen Kurzgeschichtentitels, der eher zu einer Sherlock Holmes Geschichte als dieser Art von morbiden zwischenmenschlichen Drama passt.

 Hinter dem schlichten Titelbild und dem auf den ersten Blick einfachen Titel verstecken sich sechs sehr unterschiedliche an Weihnachten spielende Kriminalgeschichten, wobei die klassischen Strukturen mit Tat, Detektiv/ Polizist und schließlich Aufklärung des oder der Verbrechen schon mit der ersten Geschichten aufgehoben worden sind. Alleine Sherlock Holmes und Father Brown dienen als ordnendes Element. Drei andere Kurzgeschichten überzeugen durch ihre bitterbösen, fast anarchistisch zu nennenden Ideen und provozieren den Leser positiv mehr als das sie ihn klassisch unterhalten. Nebenbei lernt jemand, der sich mit der frühen britischen Kriminalliteratur befasst, dank R.L. Stevenson, Arthur Conan Doyle, G.K. Chesterton neben Edgar Wallace fünf meisterliche Autorin kennen, die heute noch bekannt sind. Deutlich überraschender erweisen sich die beiden Frauen Catherine Louisa Pirkis und Marjorie Brown als mindestens ebenbürtig. Ein äußerlich unscheinbares kleines Bändchen, das aber überdurchschnittlich geschriebene und intelligent konzipierte Unterhaltung an den langen Winterabenden verspricht.       

Weihnachtskrimis. Klassische Erzählungen aus England: Cosy Crime zur Adventszeit: unterhaltsam, gemütlich, aber nicht zu b...

  • Herausgeber ‏ : ‎ Anaconda Verlag
  • Erscheinungstermin ‏ : ‎ 18. September 2024
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Seitenzahl der Print-Ausgabe ‏ : ‎ 192 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3730614436
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3730614433
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