Mr. Mercedes

Stephen King

Stephen Kings neuer Roman ist über weite Strecken ein abgrundtiefer moderner Thriller in klassischem Gewand ohne phantastische Elemente, der nicht umsonst James M. Cain gewidmet ist.  Dabei ist das Grundgerüst des Romans erstaunlich simpel, vielleicht sogar zu einfach gestaltet. Ein  Massenmörder provoziert den in den Ruhestand getretenen örtlichen Detektiv und will irgendwie „gefangen“ werden. Der Detektiv ordnet seine inhaltlose Existenz, macht sich auf die Suche nach dem Täter und kann den Fall endgültig zu den Akten legen.

Die Auftaktszene ist brillant und zeigt eindrucksvoll ergreifend, warum Stephen King aus dem Nichts heraus glaubwürdige Figuren erschaffen und einen Moment später nicht zum letzten Mal in diesem Roman auch zerstören kann.  Die USA in der Rezession. Auf einer Jobbörse werden tausend Jobs versprochen. Die ersten Interessenten strömen in der Nacht auf das abgeschieden gelegene Messegelände.  Ein Junggeselle, eine junge Frau mit ihrer Tochter. Sie kommen ins Gespräch, er bietet ihr seinen Schlafsack an. In die Menschenmenge rast ein Mercedes S 600 – Stephen King benennt es zwei Tonnen deutscher Ingenieurskunst – mit einem eine Clownsmaske tragenden Fahrer. Einen Augenblick später sind die Mutter und ihr Kind tot, der Mann schwer verletzt. Wie sechs andere Menschen.  Später findet man den Wagen, auf dem Beifahrersitzt die Clownsmaske, auf dem Lenkrad einen grinsenden Smiley.

Ein schockierender Auftakt, ein sinnloses Verbrechen, das King in seinem pragmatisch packenden Schreibstil durch die intensive Auseinandersetzung mit persönlichen Schicksalen so eindringlich beschreibt. Leider kann der weitere Plot nicht immer an diese Dynamik anknüpfen. Detective Bill Hodges ist seit einigen Monaten im Ruhestand. King beschreibt ihn fast absichtlich als typisches Klischee. Übergewichtet, vielleicht auch ein Alkoholiker, Suizidgefährdet und mit seinem Leben außerhalb der Arbeit nicht zufrieden. Eines Tages bekommt er einen Brief vom Mercedeskiller, in dem dieser ihn verhöhnt. Erste Nachfragen vorsichtig als allgemeines Interesse getarnt zeigen, dass es keine heiße Spur gibt. Die Dame, welcher der Mercedes gestohlen worden ist, hat inzwischen anscheinend aufgrund ihrer Schuldgefühle Selbstmord begangen. Hodges beginnt über einen Chatroom eine eher oberflächliche Kommunikation mit dem Täter, der nicht nur Aufmerksamkeit will. Immer mehr schält sich für Hodges heraus, dass neben dem Zerstören einzelner Menschen die Chance besteht, dass er einen weiteren, vielleicht sogar größeren Anschlag plant, um endlich seinen unbedeutenden Namen in den Geschichtsbüchern wieder zu finden.

Auch wenn es in erster Linie um das Duell zweier Geister geht, von denen der eine durch den Fall und die daraus resultierenden Ermittlungen in mehrfacher Hinsicht wieder jung wird, eine neue Liebe kennenlernt und mit seiner Umwelt in Kontakt tritt, während der andere endgültig den letzten Schritt in den Wahnsinn vollzieht, lebt „Mr. Mercedes“ weniger von der wie schon angesprochen grundlegenden Handlungen, sondern den Fehlern, die Kings Figuren begehen.  Vielleicht ist es die größte Schwäche des Romans, dem Täter von Beginn an ein Gesicht zu geben. Einen klassischen Spannungsaufbau unterminiert King mit dieser Vorgehensweise und rückt seinen ansonsten interessanten, vielschichtigen Thriller zu schnell an das Psychopathengenre im Allgemeinen und leider auch an „Psycho“ als Paranoiaroman heran.  Sein Täter hat als Kind seinen Bruder ermordet, teilweise ein ungesundes Verhältnis zu seiner Alkoholkranken Mutter gehabt. Er hat zwei einfache Jobs, von denen der eine ihm viele Türen öffnet, während der andere sehr viel subversiver eingesetzt werden sollte. Er hat nicht nur die Unschuldigen auf dem Parkplatz getötet, er plant viel mehr. Seine Motive sind vielleicht ein wenig zu engstirnig umgrenzt und wirken insbesondere angesichts der Flut ähnlicher Romane zu sehr aufgesetzt. 

Hodges ist anfänglich eine bemitleidenswerte Figur. Er hat sein Leben für seinen Job gelebt, seine Ehe ist gescheitert und jetzt fühlt er nur noch die große Leere. Die Jagd nach dem Killer mit seinem jungen Freund – einem farbigen Computergenie, das auch gärtnern kann – oder der Verwandten seiner kurzzeitigen Geliebten wird für ihn zu einer Art Herzschrittmacher, der ihn nicht nur am Leben hält, sondern wieder jung macht. Da er nicht mehr als Staatsbeamter handeln muss, kann er sich über die eingrenzenden Regeln hinweg setzen. Als Ermittler/ Schnüffler beschreibt ihn Stephen King ausgesprochen gut. Der Leser kann seine Gedanken nachvollziehen. Hier liegen die Stärken und die Schwächen des Buches zugleich. Die Stärke ist, dass der Leser auf Augenhöhe dem Ermittler folgt und King keine Informationen versteckt.  Im langen Showdown zeigt sich diese Vorgehensweise sehr effektiv. Die Schwäche ist, dass Hodges im Grunde auch nicht berechenbar ist. In der zweiten Hälfte des Romans setzt er aus den vorhandenen Hinweisen und wenigen Spuren ein Täterprofil zusammen, das seine kleine Gruppe schließlich zum Mörder führt. In der ersten Hälfte des Buches provoziert er den Psychopathen so sehr, m ihn aus seinem Versteck zu locken, dass Hodges im Grunde für mindestens einen, ihn persönlich sehr stark treffenden Tod direkt mit verantwortlich ist. Vielleicht auch für den geplanten Anschlag am Ende des Romans, denn der Täter hat sich anfänglich noch abwartend, lauernd verhalten. Wäre Hodges bei seiner Taktik geblieben, aus den vorhandenen, aber  teilweise falsch interpretierten Spuren ein Profil zu erstellen, dann hätte er auch den Täter fangen können. Es wäre vielleicht kein so effektiver Roman heraus gekommen, aber sehr viel Leid wäre erspart worden. Bedenkt der Leser zusätzlich, welch ein Wrack der Detektiv mit seinen Selbstmordgedanken zu Beginn der Geschichte gewesen ist, verdrängt er insbesondere im relevanten Mittelteil zu schnell und zu nachhaltig sein schlechtes Gewissen und schiebt die „Verantwortung“ mehr und mehr dem Täter zu, obwohl er erstens wusste, dass er beobachtet wird und zweitens alle Sicherheitshinweise in den Wind geschrieben worden ist.  Diese Wandlung zum Oberflächlichen, nicht dem Klischee entsprechenden „Macho“ im Westentaschenformat und Rentneralter wird von Stephen King zu wenig überzeugend beschrieben. Der Knackpunkt des Romans hätte ein zweiter Tod sein können, vielleicht sogar müssen, aber der Autor versäumt es unverständlich, diese Tragik in den Mittelpunkt des Geschehens zu rücken. Das auf den letzten einhundert Seiten die Puzzlestücke zu schnell zusammenfallen und sich plötzlich die Fähigkeiten von Hodges kleinem Team vor allem im Vergleich zu den Arbeiten der Polizei – hier baut Stephen King auf Überarbeitung und ablenkende Veranstaltungen – zu effektiv ergänzen, sei nur am Rande erwähnt.

Vielleicht ist „Mr. Mercedes“ einer der schwächeren King Romane der letzten Jahre. Was der Autor aber kann, ist Nebenfiguren zu charakterisieren. Das beginnt beim Auftaktkapitel vor Beginn der der Jobmesse mit Kings zynischem Blick auf die immer weiter die Schwächeren ausgliedernden amerikanischen Gesellschaft und endet leider zu früh mit dem Tod von Hodges neuer Freundin, die durch Erben zwar reich, aber nicht glücklich geworden ist. Mit seiner Routine erschafft der Autor dreidimensionale Menschen mit all ihren Schwächen, aber auch Stärken. Ihre Handlungen sind überzeugend, die Dialoge fein geschliffen und pointiert geschrieben. Selbst die Liebesszene zwischen Hodges und seiner knapp zwanzig Jahre jüngeren, aber nicht unreifen Freundin ist mit so vielen Emotionen und einer ansprechenden Natürlichkeit geschrieben worden.  Diese Abschnitte gehören nicht nur zu den besten Passagen des Buches, sondern unterstreichen den Reifeprozess des Autoren, den King seit seinem Unfall und anschließend der Veröffentlichung „Duma Keys“ auf der charakterlich emotionalen Ebene durchlaufen hat. King hat schon immer Menschen und ihre Schicksale beschreiben können, aber in den letzten Jahren hat er seinen Figuren eine erdrückende Natürlichkeit gegeben. Schockierend am Roman ist, dass diese Menschen von einem Augenblick zum nächsten aus dem Leben gerissen werden. In diesem Fall durch Gewalt, aber wie kaum ein anderer Autor der Gegenwart zeigt King auf, wie vergänglich das Leben im Allgemeinen sein kann. Diese überdurchschnittlichen, emotionalen Szenen entschädigen für die über weite Strecke sehr stereotype, zu klischeehafte, aber trotzdem in einem rasanten, überdurchschnittlichen Tempo erzählte Handlung.    

Die größte Schwäche ist allerdings der Antagonist. Zu sehr entspricht er verschiedenen Klischees. Seine Augen erscheinen kalt, menschliche Gefühle kennt er kaum. Er hat eine „Beziehung“ zu seiner Mutter, lebt weltfremd und isoliert, ein Einzelgänger mit kriminellen Hintergrund und Minderwertigkeitskomplexen. Zu sehr beschreibt King ihn als den klassischen Psychopathen, zu dem er seit seiner Jugend in ärmeren Verhältnissen aufgrund der Alkoholsucht seiner Mutter geworden ist. Der Leser kann und soll kein Mitleid mit ihm haben. Damit nimmt der Autor auf der anderen Seite allerdings auch seiner Geschichte eine wichtige Balance. Warum nicht einen normalen „Jungen“ beschreiben, welcher der Faszination des Grenzüberschreitens mehr und mehr unterliegt? Muss es ein paranoider „Irrer“ aus der Nachbarschaft sein, der schließlich mehr und mehr an Norman Bates auf den Selbstmordtrip in den Himmel erinnert? Das wirkt aufgesetzt und eher spannungsmindernd, zumal der Leser keinen Moment an einen nachhaltigen Erfolg glaubt. Je länger sich diese zweite, zu stark konstruierte Handlungsebene hinzieht, desto ambivalenter und auch austauschbarer erscheint der ganze Roman.     

 Wie schon angedeutet, ist „Mr. Mercedes“  ein Stephen King Roman ohne übernatürliche Elemente. Selbst bei seinem Frühwerk „Blaze“, das erst Jahrzehnte nach dem ersten Entwurf als Teil einer Spendenaktion veröffentlich worden ist, geht King im Gegensatz zu seinen Novellen einen Kompromiss ein, in dem er dem tragischen, vom Leben gezeichneten Protagonisten wider Willen eine latent übernatürliche Fähigkeit zugesteht, in dem er mit seinem anderen „Ich“ wie bei „The Dark Half“ sprechen kann. Das andere „Ich“ übernimmt dann das Verbrechen. „Mr. Mercedes“ ist der Konflikt zweier sehr unterschiedlicher Männer mit verschiedenen Hintergründen, von denen der Held am liebsten aus dem Leben verschwinden und der Schurke seine fünf Minuten des Ruhms erlangen möchte. Ganz befriedigen kann der rote Handlungsfaden nicht zuletzt wegen der Fehler, die beide Seiten über Unvorsichtigkeit hinaus machen müssen, um den Fall zu lösen, leider nicht.  Obwohl dieser Konflikt im Mittelpunkt der Handlung steht, lebt der Roman in erster Linie von der authentischen Beschreibung einer mittleren Großstadt im mittleren Westen der USA, die zwischen Rezession und Hoffnung auf eine bessere Zukunft hin und her pendelt.   Neben den Insiderjokes unter anderem auf „ES“ finden sich aber auch seltsame, irgendwie falsch klingende Passagen wie die Hinweise auf den bösen Lebensstreich, welcher den Attentätern des 11. Septembers mit dem Versprechen eines Paradieses voller Jungfrauen gespielt worden ist. Als ob Stephen King Kritiker im Vorwege abwehren wollte, die ihn wegen seines potentiell an Serien wie „24“ erinnernden Plot auf Mittelstandsniveau angreifen könnten.      

Originaltitel: Mr. Mercedes
Originalverlag: Scribner
Aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 592 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-453-26941-5

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