Getting Off

Lawrence Block

Getting Off - umgangssprachlich für Davonkommen oder auch einen Orgasmus haben - ist vielleicht einer der kuriosesten Romane der "Hard Case Crime" Reihe. Es bleibt offen, ob der nicht selten vertretene Lawrence Block verschiedene in unterschiedlichen Noir Magazinen veröffentlichte Kurzgeschichten bzw. zynisch pointierte erotische Episoden extra für diese Reihe zu einem Roman verbunden oder ob das fertige Manuskript unter dem Pseudonym Jill Emerson keinen Verleger gefunden hat. Als Jill Emerson hat Lawrence Block bislang sieben Romane mit einfühlsam lesbischen Inhalt oder zärtliche Erotik geschrieben. Unabhängig von der Erotik, die niemals trotz aller Anspielungen in den Hardcore Bereich überdriftet, ist "Getting Off" aber auch ein amoralischer Serienkrimi, in dem kaum ein Charakter wirklich als gut oder auf der richtigen Seite von Moral und Ordnung steht. Es ist ein Buch, in das sich der Leser nicht zuletzt dank der Rückblendenstruktur und der gänzlich amoralischen Hauptfigur hereinarbeiten muss. Was anfänglich teilweise wie eine aus Episoden bestehende kontinuierliche Wiederholung besteht, fügt sich gegen Ende mit längeren Abschnitten zu einem nicht immer gänzlich befriedigenden, aber zynisch unterhaltsamen Werk zusammen. Dabei verzichtet der Autor trotz der zahlreichen, sehr unterschiedlichen und vielschichtig angelegten Morde auf brutale Exzesse. Nicht selten ist das Sterben, dem kleinen Tod folgend, beiläufig erwähnt, unterkühlt und wie ein Hauch im Wind. Das befremdet anfänglich, fasziniert aber immer mehr.

In Hinblick auf die Motivation der weiblichen Hauptfigur mit vielen Namen und noch mehr Identitäten macht es sich Lawrence Block zu einfach. Aus Rückblenden erfährt der Leser, dass sie schon früh Sex mit ihrem Vater hatte, der sich in ihr Vertrauen schlich. Sex und keine sexuelle Gewalt, keine Vergewaltigung. Kurz vor der Volljährigkeit hat sie auch mit anderen Männern geschlafen. Als ihr Vater sie wegen ihrer körperlichen Reife abzulehnen begann, brachte sie erst mit ihrer Mutter die schweigende Mitwisserin um, dann ihren Vater. Sie stellt alles als Mord und Selbstmord dar. In Freiheit beginnt sie aufgrund ihrer erotischen Anziehung mit Männern zu schlafen und diese mit unterschiedlichen Mitteln - dabei reicht das Spektrum vom Eispickel aus "Basic Instinct erstaunlicherweise und auf das Alter dieser Passagen hindeutend ohne den entsprechenden Hinweis über Messer bis zu raffinierten Giften - nach der Liebesnacht zu töten. Sie raubt sie aus und verlässt umgehend die Stadt, um das gleiche Muster wieder durchzuführen. Block beschreibt diese Szenen unvollständig, wie verzerrte Erinnerungen. Eines Tages wacht seine Protagonistin auf und bildet sich ein, ihr Werk nicht vollendet zu haben. Mit fünf Männern hat sie aus unterschiedlichen Gründen geschlafen, sie aber nicht umgebracht. Während der Protagonist in Nick Hornys "High Fidelity" seine verflossenen Freundinnen besucht, um ihre Meinung über seinen Charakter zu erfahren, macht sie sich auf, diese fünf Männer zu ermorden. Ihre Suche ist der rote Faden, der den Mittelabschnitt des Buches zufriedenstellend zusammenhält. Dabei entlarvt Block Teile des amerikanischen Alptraums. Eines der Opfer ist im Krieg schwer verletzt worden und bietet sie im Grunde um seinen Tod. Ein anderer ist Mitglied einer Gruppe von Sexsüchtigen, die sich vergleichbar den Anonymen Alkoholikern in einem zwölf Punkte umfassenden Programm heilen. Da er nicht mehr mit ihr schlafen will, ermordet sie ihn unter der Prämisse, dass einmal Sex vor vielen Jahren ausreichend gewesen ist. Ein Dritter ist Mormone, was anscheinend wegen ihrer "Scheinheiligkeit" genug Grund ist, um ihn zu töten. Der letzte Mann ist ebenfalls ein Massenmörder, dessen Frau homosexuelle Frauen in Bars aufreißt, nach Hause bringt, mit ihnen schläft, bevor ihr Mann sie vergewaltigt und ermordet. Block baut in dieser Sequenz zwar ausreichend Spannung in der Tradition Alfred Hitchcocks und seiner in den vierziger Jahren entstandenen Filme wie "Suspicion" auf, verschiebt aber den Fokus zu sehr, so dass der Leser angesichts des restlichen Umfangs nicht glaubt, dass seiner Massenmörderin mit einem ambivalenten Sendungsbewusstsein wirklich etwas passieren kann. Viel interessanter ist das Schicksal eines Mannes, der angeblich seine Freundin mit Tabletten gefügig gemacht und sie dadurch getötet hat. Der tödlichen Cocktail stammt nicht von ihm. Wie die namenlose Protagonistin greift er vorher zu K.O. Tropfen und hat sie auch an seiner späteren "Mörderin" ausprobiert, die sich mit einem Giftcocktail in einer der Wodkaflaschen gerächt und die Falsche getötet hat. Es ist erstaunlich, wie viel Geduld sie aufbringt, um diesen Mann auch zu töten.

Wahre Liebe findet sie nur bei einer Frau. Ihrer Zimmergenossin Rita, die Block anfänglich als in sich gekehrte vielleicht ein mit Minderwertigkeitskomplexen belastete Frau zeichnet, bevor sie auch in der Erkenntnis der Taten ihrer Mitbewohnerin sexuell mehrfach angerecht wird. Moralisch erscheint es eher mit dem Holzhammer präsentiert, dass nur unabhängige Frauen miteinander leben und sich lieben können. Es ist ein zynisches Ende, dass Rita und ihre neue Liebe im offenen, aber nachvollziehbaren Ende diese Liebestodliste beenden.

"Getting Off" weißt eine Reihe von Stärken, aber auch einige Schwächen aus. Block verzichtet auf jeglichen Polizeieinsatz. Das lässt wie auch der rudimentäre und zögerliche Einsatz neuer Medien den Roman älter erscheinen als er vielleicht ist. Bedenkt man, dass es sich um eine Serienkillerin handelt und das alle Männer bis auf drei unmittelbar vor ihrem Tod Sex haben, dass sie ohne Frage an allen Orten Spuren hinterlassen hat und eine Datenbank zumindest den Hinweis auf übereinstimmende Fingerabdrücke an mehreren Tatorten selbst ohne Hinweis auf die Identität zeigen sollte, dann wirkt das komplette Fehlen von ermittelnden und vielleicht auch ihrer Spur befindlichen Beamten unwahrscheinlich und unglaubwürdig. Zusätzlich werden moderne Informationsmittel wie Handy oder Internet eher funktionell eingesetzt. Sie erscheinen an einigen Stellen eher nachträglich eingesetzt, um den Roman in die Gegenwart zu bringen. Block selbst hat die meisten seiner Bücher unter dem Jill Emerson vor über vierzig Jahren veröffentlicht, so dass dieses aus der Zeit fallennachvollziehbar wäre. Auf der anderen Seite funktioniert dieser Roman ohne die Post 9/11 Paranoia so gut; ihre Reisen durch die USA sind nicht von moderner Hektik geprägt, dass dieses „Alter“ die Geschichte erstaunlich gut unterlegt. Nur als Krimi wird der Leser manchmal aufgrund der fehlenden ordnenden Elemente einfach vor den Kopf gestoßen.  

 Natürlich konzentriert sich Block auf seine Frau auf einer Mission, die Woolrichs "The Bride wore Black" genauso entstammen könnte wie Tarantinos "Kill Bill" oder noch effektiver aufgrund des Missbrauchsmotivs "Lady Vengeance". Aber diesem dunklen Krimi fehlt ein ausgleichendes Element. Das optisch sehr gelungene Titelbild weißt vielleicht auf das Schlussbild hin, manipuliert den Zuschauer genauso wie die Kombination aus Jill Emersons Pseudonym wie Lawrence Blocks Namen über dem Cover. Diese Unausgeglichenheit zwischen Erwartung und Handlung zieht sich durch den ganzen Roman. Block bemüht sich, die Motive seiner Killerin offen zu legen. Sie sind wie erwartet verzerrt, vielleicht auch verrückt und vor allem pervertiert. Dabei kratzt Block auch nur an der Oberfläche, kann aber seine Figur sympathisch zeichnen, da sie nicht selten die moralischen Schwächen ihrer Mitmenschen entlarvt. Ein Vergewaltiger, ein Mörder, ein scheinheiliger Mormone, ein schmieriger Kneipenbesitzer. Sie alle könnten es verdienen, wegen ihres unmoralischen Lebenswandels zu sterben. Es sind die naiven Unschuldigen - wenige, aber sie sind vorhanden -, die als Kollateralschaden auf der Strecke bleiben. Die Liebesgeschichte mit Rita wird erotisch ansprechend mit einem David Hamilton Weichzeichner beginnend mit verbalem Sex über Selbstbefriedigung bis schließlich zu einer echten Liebe gezeichnet. Dabei vergisst der Leser ihre anderen Taten. Vielleicht sind die einzelnen Protagonisten funktionell sparsam gezeichnet, aber die meisten Auftritte dauern nur wenige Seiten und werden brutal beendet. Block will dem Leser keine Identifikationsmöglichkeit geben. Auch die Erzählperspektiven sind nicht klassisch aufgebaut, sondern vielleicht auch der Struktur der einzelnen Geschichten folgend von subjektiver Ich- Erzählerperspektive bis zur neutralen dritten Person, die aber schnell wieder aufgelöst wird.           

Der Untertitel lautet ein Roman voller „Sex und Gewalt“. Das trifft den Kern des Plots. Im Vergleich zu seinen ambitioniert gestalteten, ebenfalls in der Reihe veröffentlichten „Grifter“ Romanen oder seinem Politthriller „Kill Castro!“, sowie seinen Detektivserien ist „Getting Off“ wahrscheinlich auch absichtlich wie ein trashiger Pulp Roman gestaltet worden, der mit einer amoralischen Serienkillerin – eine typische Femme Fatale, unglaublich sexuell aufgeschlossen und nicht immer emotional unterkühlt, sondern einfach hinsichtlich ihrer Mission verschroben -  ideal und gegen alle vordergründigen Klischees agierend idealtypisch und provokant zugleich besetzt ist. Lawrence Blocks lakonisch selbstironischer Stil wird zwar anfänglich vermisst, die weich gezeichneten erotischen Szenen relativieren aber diese Ansicht. Vielleicht wäre es effektiver gewesen, wenn die Herausgeber der „Hard Case Crime“ Reihe die Identität des Autors nicht so vordergründig dargestellt hätten. Ein Hinweis im Impressum hätte ausgereicht. Trotzdem ist „Getting Off“ eine lesenswerte, ohne Frage an einigen Stellen auch anregende, ungewöhnliche Serienkillergeschichte mit der attraktivsten und entschlossen ihre Liste abarbeitenden Frau des Genres.    

September 2011
ISBN: 978-08576-82871
Cover art by Gregory Manchess

Hardcover, 334 Seiten

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