Nirvana

Jean-Luc Istin

Jean- Luc Istins (Text) und Arnaud Bouddirons (Zeichnungen) „Nirvana“ ist insbesondere im zusammengefassten Splitter Doubleband, der die einzelnen Alben „Erste Generation“ und „Zweite Generation“ präsentiert ein interessanter Science Fiction Comic, bei dem die amerikanischen Filmvorlagen deutlich, zum Teil aber auch selbstironisch eingebaut zu erkennen sind, während die klassischen „Heavy Metal“ Elemente insbesondere in den jeweiligen Enden dominieren. Es ist selten, dass ein Comic auf den letzten vier/ fünf Bildseiten noch einmal einen bis dahin nicht erkennbaren Handlungsstrang einbaut und gleichzeitig unter Rückgriff auf Figuren aus dem ersten Buch abschließt.

Am ehesten nähert sich der Leser dieser wilden, aber auch faszinierenden Geschichte von den Vorbildern. Nirvana ist eine neue Modedroge, welche die Genetik des Süchtigen während des Trips auseinanderbaut und dann wieder meistens, aber nicht immer zusammensetzt. Erschreckende Nebenwirkungen sind genetische Schäden, Mutationen und eine zu vererbende Struktur. Nicht ganz klar ist, ob einmaliges Nehmen wie beim Protagonisten Hurley Judd nur Suren hinterlässt oder zu Abhängigkeiten führen kann. Welche Folgen diese Sucht wirklich hat, wird während des furiosen Finales des ersten Bandes auf eine surrealistische Art und Weise gezeigt, die allerdings auch zu Widersprüchlichkeiten hinsichtlich der eigentlichen Suche des Polizisten Hurley Judds führt.

In Anlehnung an „Robocop“ haben die Ordnungskräfte Roboter/ Blaster entwickelt, welche die Suchtkranken aufspüren und töten, denn auf das nehmen von Nirvana steht genauso der Tod wie auf das Vertreiben der Droge. Einige konservative Kräfte warnen vor dieser Art von autorisierten Selbstjustiz durch emotionslose Maschinen, denn leicht könnte man „feindseligen“ gesinnten oder oppositionellen Kräften die Droge verabreichen und damit sie legal ausschalten. Diese Idee wird erst im zweiten Band mit der Kollektivschuld auf eine makabre, aber auch über die „Robocop“ Filme hinausgehende Spitze getrieben. Die Blaster sind – ebenfalls eine interessante Variation – Teufel und Belzebub zugleich.

Hurley Judd ist in erster Linie Polizist geworden, um seine wilde, ihn zum nehmen der Droge Nirvana verführende attraktive Frau wieder zu finden und gleichzeitig soll er die Hintermänner der „Nirvana“ Droge finden. Dabei arbeitet er Undercover. Um die Statur eines Polizisten zu haben, hat eine Art „Q“ ihm die Persönlichkeit eines ehemaligen Boxers genetisch übergestreift, ohne wirklich das Kleingedruckte zu lesen. Das führt zu einigen lustigen Szenen, wobei die Effektivität dieses Szenarios im Verlaufe der Handlung zu sehr in den Hintergrund gedrängt und nicht entsprechend extrapoliert wird. An einer anderen Stelle präsentiert „Q“ quasi als Entschuldigung einen raumtüchtigen Anzug, der natürlich dem amerikanischen „Iron Man“ nachempfunden ist. Zumindest lassen Istin und Bouddiron ihren Protagonisten diesen Vergleich selbstironisch ziehen. Der Anzug kommt wie einige andere Ideen aus dem Nichts. Er ist ohne Frage effektiv, aber wirkt zu konträr zu der ansonsten technokratisch dunklen Handlung. Hinsichtlich des Showdowns für die erste Generation der „Nirvana“ Süchtigen wird ein phantastisches Szenario entwickelt, das entgegen der Strukturen klassischer Drogenfilme verläuft und den Horizont zwar auf das Finale des zweiten Bandes öffnet, aber erstens überstürzt erscheint und zweitens zu viele sehr gute Ideen überhastet abschließt.

In der anschließenden Geschichte „Zweite Generation“ geht es um die Kinder der „Nirvana“ Süchtigen, die wie schon angedeutet im Rahmen der Kollektivschuld von den Blastern gejagt und von Judd in Sicherheit gebracht werden.  Dabei versucht man die Kinder in den Tiefen des Alls zu schützen. Als eine dieser Galeeren auf einer unwirtlichen Welt abstürzt, muss der Kommandant versuchen, die Gruppe in die Nähe des Äquators zu bringen, wo es eine das Überleben sichernde schmale Zone gibt, während die Gruppe von einem Blaster verfolgt wird. Auch im zweiten Teil sind die Vorbilder nicht in Form eines Plagiats, sondern einer Hommage deutlich erkennbar. Die Ideen der Verfolgung durch einen übermächtigen Feind und der abschließende Gegenangriff in einem Gelände, das ihm keinen Vorteil gibt, stammt ohne Frage eher aus „Terminator II“ denn dem ersten Teil. Der unwirtliche Planet könnte inklusive der Bewohner eine Hommage an „Riddik“ sein, die anfänglich niedlichen Angreifer sind entweder „Critters“ entflohen oder wirken wie eine Hommage an „Screamers“ und das Ende mit den zu erweckenden Kräften ist zahllosen Marvel Comics entnommen. Hinzu kommt das „Eintreffen“ / „Wiedererwecken“ von Figuren des ersten Bandes und die Plotwendung auf den letzten Seiten, die unvorbereitet ist.

Die grundlegenden Handlungsmotive insbesondere des ersten, interessanteren und vielschichtigeren Teils sind aus dem Hardboiled entnommen eine spezifische Ermittlungsarbeit inklusiv der Notwendigkeit, mit dem Milieu zu verschmelzen – „Die erste Generation“ und im zweiten Teil eine Mischung aus Quest und Verfolgung. Um diese klar zu erkennende Struktur hat Istin eine Reihe von interessanten Ideen, aber vor allem auch bizarre Charaktere platziert. Während Judd wie von seiner Frau beschrieben ein intellektueller Langweiler ist, der sich wie ein Terrier in eine Aufgabe verbeißen, sie aber nicht bewerten kann, sind es die Hintermänner, welche mit ihren vielschichtigen Aktionen genauso für Überraschungen sorgen wie die Inkarnation des Erzschurken Shamash, dessen Motive einen wichtigen Dreh der Handlung darstellen. Im zweiten Teil liegt der Fokus auf einer der kleinen Gruppe in Extremsituationen, die statt gegeneinander zu agieren natürlich lernen müssen, miteinander zu funktionieren, um schließlich der Gefahr gegenüber zu treten. Die Effektivität dieses zweiten, visuell durch die fremde Welt inklusiv Sandwürmer aus „Dune“ vielschichtigeren Teils wird durch das hektisch, einen dritten Band herausfordernde Ende unterminiert, in dem Istin visuell kraftvoll von Bouddoirons an Busieks „Astro City“ oder Axel Ross Arbeiten erinnernde, aber im Kern eigenständige Bilder unterstützt zu viel versucht und zu wenig nachhaltig präsentieren kann.

Während Istin zu viel Handlung in zu wenig Raum packen möchte und sich dabei hinsichtlich seiner Ausgangsidee verzettelt, ist es Arnaud Bouddiron, der die Aufmerksamkeit des Lesers fesselt. Seine Vorbilder sind klar die amerikanischen Comics mit einer Reihe von erhebenden, beeindruckenden ganzseitigen Bildern, in denen die fließende hektische Bewegung der eigentlichen Handlung zum Stillstand kommt und einen Moment der allerdings falschen Erhabenheit präsentiert. Bouddiron fühlt sich bei den Übersichtszeichnungen genauso wohl wie auf der Charakterebene. Mit nur wenigen Strichen entwickelt er eindrucksvolle, geheimnisvolle Figuren wie den vom Tode erwachten Seher auf den ersten Seiten, den schon angesprochenen über indische Wurzeln verfügenden Anatagonisten Shamash oder Judds wilde Ehefrau, deren Echo länger in der Handlung Nachhalt als es dem eigentlich tragischen wie verbissenen Helden der Geschichte Judd vergönnt ist. Er ist vielleicht das schwächste Element des ganzen Comics und lebt nur als futuristische Inkarnation Tony Starks auf. Einer Schwäche, der er sich bewusst ist.

Als Doppelband ist „Nirvana“ aufgrund der verschiedenen, überflüssigen Verzettelungen – auch ohne die eher klischeehafte Science Fiction Idee gegen Ende der Handlung, die durch die Entwicklung der „Nirvana“ Droge gegen die Vernunft der in diesem Punkt willenlosen Menschen, abgewehrt werden soll – gegen Ende trotzdem eine solide Mischung aus dunkle realistischem Science Fiction Krimi und einer Art europäischen Mutanten/ Superheldengeschichte, in deren Verlauf mit den Akzenten der amerikanischen Vorlagen zu wenig gespielt wird. Das Potential wäre da gewesen. Auf der anderen Seite entschädigen Boouddirons Bildkompositionen für den überambitionierten, aber gut zu verfolgenden Plot Istins, der zu viel versucht und zu wenig wirklich zu Ende bringt. „Nirvana“ ist eine ungewöhnliche, geschickt aus neu zusammengebauten, aber teilweise erkennbaren schon erwähnten Versatzstücken zusammengebaute Geschichte, die immer wieder auf das Fundament exzentrisch aufbauend und eher rückblickend als Vision betrachtet den Blick auf ein Spektrum eröffnet, das in dieser Form weniger zum Nachdenken, denn zum klassischen visuellen Goutieren auf einem zufrieden stellenden Niveau einlädt. Zeichnerisch einer der schönsten Science Fiction Comics der letzten Jahre von Splitter in einer überdurchschnittlichen Form zu einem verführerischen Preisleistungsverhältnis präsentiert.

AutorJean-Luc Istin
ZeichnerArnaud Boudoiron
EinbandHardcover
Seiten120
Band1 von 1
Lieferzeit3-5 Werktage
ISBN978-3-86869-731-5
erscheint am:01.10.2014
Kategorie: