Herr der Unterstadt

Daniel Polansky

Daniel Polansky hat vor seiner Karriere als Schriftsteller Philosophie studiert. Die Ergebnisse seines Studiums sind allerdings nicht in den ersten Band einer Reihe um den Detektiv wider Willen, Ich- Erzähler und selbst ernannten “Herrn” der Unterwelt Simeon Dubois. Der Begriff “Herr” ist absichtlich eher ironisch in Anführungszeichen gesetzt worden. Denn Dubois ist ein ehemaliger Spezialagent und Polizist, inzwischen Drogendealer und Sammler von Waisen. Als Figur erinnert er weniger an andere Fantasy- Charaktere wie Lord Darcy oder die gebrochen Antihelden eines Patrick Rothfuss oder Michael Moorcocks, sondern erstaunlicherweise an den Rechtsanwalt Burke aus Andrew Vacchs Romanen. Seinen Feinden gegenüber unerbittlich, kapitalistisch opportunistisch, mit einer kleinen Gruppe von Bekannten und weniger Freunden, aber mit einem weichen Herz den hilflosen Kindern gegenüber. Wie Burke verfügt Simeon Dubois über eine Vergangenheit. Im Gegensatz zu Andrew Vacchs Arbeiten verbindet Daniel Polansky einige Aspekte aus Dubois Vergangenheit mit dem laufenden Fall. Vor Jahren im Krieg hat er an einem Spezialkommando teilgenommen, das eine überirdische, eher Lovecrafts Geschichten entsprungene Kreatur heraufbeschworen hat, um die im Grunde besiegten Feinde endgültig zu vernichten. Seit dem Krieg ist er auch Drogenabhängig und verdient sein Taschengeld als Dealer. Die Schrecken eines jeden Krieges von der glorifizierten Einberufung bzw. freiwilligen Meldung, die in erster Linie seine Mitmenschen überrascht und schockiert hat, bis zur grausamen Abschlachten auf den Kriegsfelder zeichnet Polanksy in kurzer Rückblenden nach. Sie sollen seine Hauptprotagonisten zu einem klassischen Antihelden machen und charakterlich abrunden. Vielleicht wirkt es ein wenig zu aufgesetzt und als teilweise falsche Spur, wenn die Ereignisse eines Sonderkommandos ihren Schatten in die Gegenwart werfen, sie werden aber effektiv in die laufende Handlung der Gegenwart eingebunden und opportunistisch genutzt, anstatt das sie Dubois gänzliches Handeln beeinflussen. Viele dieser Szenen werden ohne phantastischen Kontext dem Leser aus der Zeit insbesondere vor dem Ersten Weltkrieg vertraut vorkommen. Polansky versucht in Rigus möglichst viel Historisches zu nutzen, um den ganzen Roman zugänglicher und “realistischer” erscheinen zu lassen, bevor er an wichtigen Stellen auf die Magie als Fluch und Segen überschwenkt, die aktiv positiv kaum eine Rolle in dem ganzen Buch spielt.

Als ein elfjähriges Mädchen verschwunden und kurze Zeit später Simeon Dubois verstümmelt aufgefunden worden ist, gerät das brüchige Gleichgewicht der Unterwelt durcheinander. Simeon Dubois fühlt sich in seiner Ehre verletzt. In seinem Revier konnte er ein junges Mädchen nicht schützen. Aus den Rückblickend kann der Leser entnehmen, dass er ansonsten immer wieder Waisenkinder von den Straßen gesammelt und dem wichtigsten guten Magier der Stadt zugeführt hat, wo die Kinder zumindest ein zu Hause und später eigenständige Existenzen bekommen. Erst am Ende des Romans wird der Leser die andere Seite dieser mildtätigen Seite des Helden tragisch kennen lernen. Zu den von ihm aufgesammelten Kindern gehört die damals fast gleichaltrige Claire, die in die Fußstapfen des immer älter werdenden Magiers treten soll. Simeon Dubois verbindet eine platonisch vergötternde Liebe mit der jungen Frau, die über Jahre zu einer Freundschaft gegenseitigen Respekts geworden ist. Auf der emotionalen Ebene bewegt sich Daniel Polansky noch ein wenig unsicher. Es wäre für den ganzen Roman entscheidend gewesen, die Beziehung zwischen Claire und Simeon Dubois noch weiter zu extrapolieren, um den Fall des Antihelden in der Tradition des Film Noirs noch effektiver zu gestalten. Da Simeon Dubois als Ich- Erzähler auftritt, verliert der ganze Spannungsbogen rückblickend an Effektivität, der Leser weiß, dass Simeon Dubois im Grunde gegen alle Wahrscheinlichkeiten das Abenteuer überleben wird,.

Dubois wird nicht nur durch seine Ermittlungen herausgefordert, er nimmt sich einen Helfer. Ein junger Dieb versucht sich in sein Vertrauen zu schleichen. Dubois bewegt sich in der Beziehung zum jungen, talentierten und wie sich am Ende herausstellt auch mit einem magischen Element ausgestatten Mann auf unsicherem Boden. Zum einen sieht er die Stärken und teilweise auch Schwächen, die ihn vor Jahren ausgezeichnet haben. Zum anderen muss er ihm beibringen, dass das Leben außerhalb der Gosse noch gefährlicher als in den engen Straßen der Unterstadt ist. Manche zynische Bemerkung wirkt belehrend, aber Daniel Polansky versucht seinem wichtigsten Protagonisten eine Philosophie zu geben, die markant ist und einzigartig sein soll. Im letzten Viertel der Handlung bleibt Polansky nur die Option offen, mit der Entführung des Jungen die Spannungsschraube ein wenig klischeehaft anzudrehen. Der Helfer soll Dubois eine menschlichere Seite geben, die im Gesamtzusammenhang des Romans nicht nötig ist. Vor allem können weder Hauptfigur noch Autor mit dieser eher klischeehaft gezeichneten Figur zu wenig anfangen, während andere Nebenfiguren noch unterentwickelt erscheinen.

Die Stadt Rigus mit seinen unterschiedlichen Vierteln und damit verbunden natürlich auch verschiedenen Klassen bildet einen wichtigen, dreidimensional, aber gegen die meisten Klischees des Fantasy- Genres gezeichneten Hintergrund dieser Geschichte. Das Rigus eine Art Juwel der dreizehn Lande sein soll, wird nicht herausgearbeitet. Der Leser erfährt weder über das ganze Land noch über die anderen Länder außerhalb der Kriegsberichtserstattung etwas. Wahrscheinlich wird Daniel Polansky in seinen nächsten Abenteuern seine Welt weiterentwickeln, für den vorliegenden Fall reichen die Informationen aus. Dubois Ermittlungen reichen in die höchsten Kreise, in denen mehr Schein als Sein vorherrscht. Polansky nutzt den Kriminalfall, um den kompromisslosen Dubois gegen manche Wand rennen zu lassen. Der Autor legt als Orientierungslauf durch die Stadt eine Menge falscher Spuren. So interessant diese Odyssee auch sein mag, der finale Bogenschlag im Grunde zurück zu den Wurzeln überrascht nicht nur den unabsichtlich in die Irre geführten Ermittler, sondern vor allem den Leser. Es ist trotz der logischen Begründung das schwächste Element des Buches, das aber wie schon angedeutet in der Tradition des Film Noir steht. Am Ende muss sich Dubois wie Sam Spade in “Die Spur des Falken” fühlen.

Polansky hat nicht nur hinsichtlich der zusammengefasst interessanten, aber nicht gänzlich befriedigenden Konstruktion seines Plots auf die amerikanischen Krimis der dreißiger und vierziger Jahren zurückgegriffen, die er in eine phantastische, aber doch zugängliche Fantasywelt versetzt hat. Es irritiert, dass die Figuren Zigaretten rauchen. Auch einige andere Anachronismen reißen den Leser zeitweilig aus Polanskys Schöpfung. Dagegen wirkt die Magie auf den ersten Blick unterentwickelt, ist aber zusammengefasst allgegenwärtig. Dabei reicht das Spektrum von der geheimen Kriegsmission über den Schutzzauber bis zum Aberglauben. Polansky nutzt dabei diese Idee opportunistisch. Sie ist elementar in den Kriminalfall eingebunden, wird aber im Alltagsgeschehen zu selten benutzt. Wenn am Tatort Seher auftauchen, werden ihre “Kräfte” zu schnell und zu nachhaltig abgelenkt. Sonst wäre der Kriminalfall umgehend beendet. Zumindest präsentiert der Autor für die die Ermittlung hemmenden Antielement eine überzeugende Erklärung.

“Herr der Unterstadt” ist überwiegend wegen seiner eher aus einem anderen Genre bekannten zynischen Helden mit einem Herz aus einem ganz kleinen Klumpen Gold ein ungewöhnlicher, unterhaltsamer Fantasy- Roman. Polankys bemüht sich, seinen Ich- Erzähler hart und menschlich zu gleich zu beschreiben. Wenn er davon spricht, dass er zum ersten Mal seit drei Jahren einen Menschen töten musste oder das er trotz unterschiedlichster “beruflicher” Auffassen einen Mann akzeptieren kann, dann wirken diese Argumente überzeugend und machen die Figur dreidimensionaler, seine Handlungen angesichts eines extremen Falls nachvollziehbarer und das Geschehen trotz mancher plottechnischen Konstruktion plastischer. Da sich der Leser ausschließlich auf Augenhöhe des Ich- Erzählers bewegt, muss sich der Kriminalfall von alleine tragen. Das ist insbesondere im hektischen Schlussabschnitt mit der Suche nach dem verschwundenen Jungen, der natürlich nicht das Schicksal der anderen Kinder teilen wird, nicht immer der Fall. Der Leser kann Dubois Schlussfolgerungen nicht immer nachvollziehen, auch wenn er im Gegensatz zu anderen Figuren sich nicht an Aberglauben, alte Überlieferungen und schließlich die Angst vor etwas Neuem hängt. Der Hintergrund der Geschichte ist nicht uninteressant und wenn der letzte Vorhang fällt, hat man zumindest das Gefühl, das die Motive des kleinen Täterkreises nicht entschuldbar, aber zumindest nachvollziehbar sind. In dieser Hinsicht ist “Herr der Unterstadt” nicht nur ein überzeugender Debütroman, sondern mehr als die Transformation eines dunklen Film Noir Krimis in eine realistisch archaische denn phantastische Fantay Welt

  • Taschenbuch: 432 Seiten
  • Verlag: Piper Taschenbuch (15. Januar 2013)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 349226901X
  • ISBN-13: 978-3492269018
  • Originaltitel: Low Town
Kategorie: