Tod auf dem Rhein

Stefan Winges

Mit "Tod auf dem Rhein" legt Stefan Winges nach "Der vierte König" seinen zweiten Roman um den britischen Ermittler Sherlock Holmes und im vorliegenden Fall wichtigstem Faktotum Doktor Watson vor. Auch wenn es nicht unbedingt notwendig ist, den ersten Band gelesen zu haben, greift Stefan Winges im Grunde ohne Not auf zu viele Aspekte des ersten Buches zurück. Noch stärker als bei "Der vierte König" handelt es sich weniger um einen klassischen Deduktionskrimi, sondern eher eine bunte Mischung aus zahllosen Aspekten der Abenteuerliteratur. Hier ragen die "Indiana Jones" Filme - statt Henry Jones Senior gib es dieses Mal den Hund Indiana - genauso heraus wie mehrere Hommageszenen an Filme wie "Land der tausend Abenteuer" oder die frühen Mumienfilme. Der politische Aspekt erinnert an John Buchans Geheimagententhriller und das Finale über dem Rhein an Filme wie "Zeppelin". So fühlt sich der Leser in dieser über weite Strecken interessant geschriebenen James Bond Geschichte des viktorianischen Zeitalters - Aufstände, Attentate und schließlich ein brennendes Finale über dem Rhein - nicht unwohl, er vermisst aber die typischen Element eines Sherlock Holmes Romans. Im Kern muss der Meisterdetektiv als Beauftragter des britischen Geheimdienstes in einer schwierigen Mission kein Rätsel lösen, keinen Menschen mit seinen genauen Beobachtungen verblüffen, sondern ausschließlich auf die Ereignisse reagieren. In dieser Hinsicht überzeugte "Der vierte König" insbesondere zu Beginn deutlich mehr, bevor Stefan Winges den Plot auf ein okkultes und nicht mehr unbedingt originelles Niveau herabsenkte.
Die Geschichte beginnt in Ägypten. Henry Jones und seine inzwischen angetraute Gattin ehemalige Lyzia Bylandt arbeitet an verschiedenen Ausgrabungen. Es kommt immer wieder zu teilweise spektakulären Unfällen. Anscheinend wollen Grabräuber ein besonderes seltenes Amulett und die entsprechenden Schriften von Jones Kollegen stehlen. Lyzia bittet Sherlock Holmes um die Hilfe. Dieser ist allerdings seit mehreren Wochen verschwunden und die Bittbriefe stapeln sich in der Baker Street 221B. Da Watson inzwischen nicht mehr dort wohnt und eine eigene Praxis betreibt, sind sie ihm erst bei einem der seltenen Besuche aufgefallen. Watson entschließt sich, nach Ägypten zu reisen und seinen neuen Freunden, die er während der Ermittlungen zum "vierten König" in Köln kennengelernt hat, alleine beizustehen. Er ahnt natürlich im Vergleich zum lange Zeit eher "unsichtbaren" Holmes nicht, dass es um mehr als Grabräuberei geht. Viel mehr scheinen die deutsche Geheimdienste mittels einer Pharaonenwiedererweckung und mystischem Aberglauben einen Aufstand in Ägypten als Kriegsvorbereitung auf den Ersten Weltkrieg anzetteln zu wollen, dessen Ziel die Zerstörung der wichtigsten Wasserstraße der Welt ist. Aber wie Stefan Winges über ambitioniert herausarbeitet, ist das leider nicht alles. Vielmehr wird diese Idee auf den letzten, hektisch erscheinenden Seiten wieder relativiert und eine persönliche wie unglaubwürdige Rachegeschichte mit einer doppelten, aber nicht zufriedenstellenden Wendung reduziert.

Der Roman spielt kaum in London. Im ersten Drittel findet ein wichtiger Teil des Geschehens in Ägypten statt. Danach geht es unter anderem mit dem Orient- Express als interessante Hommage an Agatha Christie schließlich zurück nach Köln. Das die Szenen im ehrwürdigen Orient- Express wie eine Mischung aus Karl May, Michael Crichtons „Der große Eisenbahnraub“ und schließlich dem ebenfalls verfilmten „Nevada Express“ wirken, ist eine der schwächen des vorliegenden Buches. Alles funktioniert, alles läuft rasant ab und doch ist viel zu wenig originell. Stefan Winges verschenkt unglaublich viel Potential. Warum der Schluss des Buches in der Nähe von Köln spielen soll und muss, wird zu wenig herausgearbeitet. Immerhin geht es um einen Aufstand in Ägypten, der von subversiven deutschen Militärkräften perfide, aber auch intelligent vorbereitet worden ist. Das dieser Plan auf Anweisung des Kaisers wegen eines Hinweises des ambivalenten Max von Oppenheims gestoppt wird, ist
Eine „Deus Ex Machina“ Lösung, da Holmes mit seinen wenigen Getreuen auf hohem Niveau anders gescheitert wäre. Vielleicht wollte der Autor das
Klischee der ausschließlich kriegstreibenden Deutschen im letzten Moment durch Initiative aus den eigenen Reihen aufgrund von Holmes natürlich richtigen Hinweisen relativieren. Akzeptiert man selbst die Idee, dass die Handlung schließlich nach Köln zurückverlegt werden muss, weil hier die letzte Geheimwaffe – ein manövrierfähiger effektiv steuerbarer Zeppelin –
Gestestet wird und der Autor seinem Roman obligatorisches, aber auch überzeugendes Lokalkolorit hinzufügen wollte, dann ist der Showdown ohne Frage packend. Auch wenn niemand wirklich glaubt, dass Holmes ums Leben kommen könnte. Aber er ist ein wenig zu viel und beinhaltet für einen Sherlock Holmes Roman zu viel Action. Das Szenario hätte besser zu „Indiana Jones“ gepasst, wobei hier vieles an den ersten bzw. dritten Teil der populären Filmserie erinnert. Das ist grundsätzlich nicht schlecht, aber das unpassende Etikett auf dem Buch stört doch.
Hin zu kommen die teilweise doch sehr einfach gestrickten Figuren. Sherlock Holmes hat - wie schon angesprochen - mehr Action als Dialogszenen. Das ist grundsätzlich nicht schlecht, wirkt aber im vorliegenden Buch zu eindimensional. Zumal Holmes Deduktion im Grunde sich auf Belehrungen beschränkt. Um den Fall zu lösen, braucht er nicht nur mehrfach Hilfe, die einzelnen Aspekte der Lösung wirken stark konstruiert. Schon sein Einsatz auf Betreiben seines Bruders Mycroft vor Eintreffen der Briefe wirft Fragen auf. Der erste motorbetriebene Flug auf das geheime Versuchsgelände ist eher eine auffällige Verzweifelungstat. Und die Rettungsaktion mittels Abbremsfallschirm ist cineastisch interessant, technisch aber eher fragwürdig, da die Idee eines Fallschirms zu diesem Zeitpunkt im Vergleich zur frühen Luftfahrt in erster Linie in Ballons noch nicht weit entwickelt worden ist. Das man Holmes nicht nur mehrmals wichtige Utensilien stiehlt, sondern das er in einem Buch von Edgar Allen Poe gleich eine wichtige Geheimschrift entziffern kann, nachdem man ihn mehrmals auf diesen übertrieben auffälligen Hinweis gestoßen, enttäuscht.
Aber nicht nur Holmes ist zu verzerrt gezeichnet. Watson als Helfer in der Not, der über seine Fähigkeiten hinaus unter Einsatz seines Lebens zu retten sucht, ist dagegen warmherzig und nicht als Stichwortgeber oder Tölpel skizziert worden. Unterstützung finden sie bei den Jones, von denen insbesondere Lyzia keinem Vergleich zu der entschlossenen, aber auch religiösen Frau des ersten Buch standhält. Zumindest bleibt dem Leser bis auf diverse Entführungsversuche bzw. leider Entführungen des sehr jungen Jones Ausflüge in das Jugendbuch erspart. Unter der Schwächen, mechanisch Attribute des Thrillers aufzuwärmen und mittels Entführungen Zeit und Seiten zu gewinnen, litt allerdings auch schon der erste Band. Historisch relevante Protagonisten wie Max von Oppenheim hätten dreidimensionaler ausgearbeitet werden können, zumal insbesondere von Oppenheim ohne Probleme Sherlock Holmes im ganzen Roman hätte ersetzen können. Er spielt als deutsche Variation des „Lawrence von Arabien“, der sich später im benachbarten Gebiet aufhalten sollte, eine interessante Rolle. Ganz bewusst legt Stefan Winges um seinen Charakter herum eine Reihe von falschen Spuren. Man wünscht diesem Protagonisten ein wenig mehr Leben, ein paar Ecken und Kanten mehr, damit er auf Augenhöhe des Sherlock „Indiana Jones“ Holmes agieren kann. Das Duell zwischen ihm und seinem Widersacher sowie willigem Helfershelfer aus dem deutschen Adel gehört ohne Frage zu den spannenden Szenen des Romans, wobei auch wieder gegen Ende ein unnötig komplizierter Bogen geschlagen wird, anstatt geradlinig ein zum Greifen nahes Ziel anzugehen. Die größte Überraschung soll ohne Frage die Mumie sein. Sie entpuppt sich als Figur aus dem ersten Buch, die ihm Grunde selbst durch die Wunder der Medizin nicht lebensfähig bzw. bei auch bösartigem Verstand sein dürfte. Viel schlimmer ist, dass Stefan Winges dann doch noch eine Pointe im Köcher halten wollte und sich nicht verkneifen kann, den Bogen zu Holmes Erzfeind Moriarty und seinen Verwandten zu schlagen. Nichts gegen Ideen, aber hier verprellt er mehr treue Leser als das er wirklich einen überraschenden Aha Effekt erzeugt. Der Tarnname „Vader“ und die Hinweise auf ein Keuchen sowie einen überdimensionalen Mantel lassen Sherlock Holmes Fans in imaginären Gräbern routieren. Insiderwitze sind nicht schlecht, sie sollten aber dem Publikum angemessen sein.
Zusammengefasst ist „Tod auf dem Rhein“ eine oberflächlich unterhaltsam lesenswerte Mischung aus verschiedenen anderen Werken, die gut durchgerührt ungewürzt dem Leser mit zumindest dem Namen nach vertrauten Charakteren lauwarm serviert wird. Der Ideenreichtum des „vierten Königs“ wird nur an wenigen Stellen hintergründig erreicht. Der Leser hat das unbestimmte Gefühl, als wollte Stefan Winges seinen Anhängern zu viel bieten und hat sich irgendwo zwischen politischem Plot und Verfolgungsjagden verloren. Wer Kölner Sherlock Holmes Geschichten lesen möchte, der sollte „Der vierte König“ lesen und diese Quasifortsetzung eher meiden.

Stefan Winges: "Tod auf dem Rhein"
Roman, Softcover, 400 Seiten
Emons 2004

ISBN 9-7838-9705-3182

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