Mit Ihrer Studie "Cyberpunk Woman, Feminism and Science Fiction" setzt sich Carlen Lavigne mit einem Thema auseinandersetzt, das genretechnisch mehrfach für tot erklärt und doch allgegenwärtig ist. Die Anfang der achtziger Jahre veröffentlichten "Cyberpunk" Romane eine Bruce Sterlings oder eines William Gibsons hauchten dem nach "Star Wars" intellektuell darbenden Genre neuen nihilistischen Lebensmut ein. Sie verzichten die "No Future" Stimmung der Punkgeneration, um als Gegenentwurf die multinationalen, global operierenden Konzernen zu etablieren. Zu einer Zeit, als der Kalte Krieg in sich zusammenbrach und Japan - heute unglaublich - der kapitalistische Schrecken der amerikanischen Großkonzerne war. Wenige Jahre später brach diese Bewegung zusammen. Für Lavigne bedeutete es eher, das eine neue in erster Linie weibliche Generation von Autorinnen unter Führung Pat Cadigans das Ruder in die Hand nahm und dem technologisch inzwischen allgegenwärtigen Internet zumindest vordergründig menschliche Züge verlieh. In ihrem Vorwort geht die Autorin darauf ein, dass sich ihre Studie mit dieser zweiten Autorengeneration auseinandersetzt. Hinsichtlich ihrer Argumentationskette agiert die Autorin chronologisch und etabliert in den Auftaktkapiteln die Merkmale des Cyberpunks. Bevor auf diese Details eingegangen werden soll, stellt sich für den Leser im Gegensatz zur argumentativ etwas einseitig agierenden Autorin eine gänzlich andere Frage. Warum müssen Frauen insbesondere im Science Fiction Genre beim Cyberpunk plötzlich in der ersten Reihe mitschreiben, wenn sie es in der bisher siebzig Jahre umfassenden Geschichte nicht getan haben? Diese These wirkt provokativ, aber betrachtet ein aufmerksamer Leser die von Carlen Lavigne teilweise subjektiv ignorierten Fakten, so haben die weiblichen Science Fiction Autorinnen immer die zweite, qualitativ nicht schlechtere Welle dominiert. Ausnahme wäre natürlich Mary Shelley und ihr einzigartiger "Frankenstein" Roman, auf dem wichtige Teile des Science Fiction Genres basieren. C.L. Moore schrieb in den dreißiger Jahren farbenprächtige Space Operas, als die Männer ihre Kriegsphantasien in den Pulps abgearbeitet haben. Die New Wave wurde von Autoren wie Brian W. Aldiss oder Philip K. Dick und natürlich Michael Moorcock als Herausgeber des "New Worlds" Magazins eingeleitet. Alles Männer und doch mit den Autoren des Golden Age nicht vergleichbar. In den siebziger Jahren übernahmen Autorinnen wie Joan Russ, natürlich James Tiptree jr. als Pseudonymzwittermodell oder Vonda McInytre die Aspekte der provokanten Neuausrichtung des Genres und schrieben emotionale, zutiefst menschliche Geschichten vor futuristischen und teilweise sehr viel phantasievolleren Hintergründen. Aber den ersten Brückenschlag haben die Männer übernommen. Die Texte weiblicher Autorinnen sind ohne Frage qualitativ mindestens gleichwertig, stilistisch im Durchschnitt den Arbeiten der Männer überlegen und geben den aufgeworfenen Themen neue Facetten - sie waren aber niemals wirklich die Bahnbrecher. Genau wie bei den Männern etablierte Autoren den Weg bereiten mussten, bevor die jungen Wilden durch die Lücken im Magazinsystem stoßen und ihre überlegenen und modernen Texte veröffentlichen konnten. In diesem Punkt zielt die Argumentation der Autorin ins Nichts.
Auch ein weiterer Punkt stößt anfänglich negativ auf. Das Frauenbild in den ersten natürlich nur von Männern geschriebenen Cyberpunk Romanen. Lavigne vergleicht die Hacker dieser Generation mit den anderen Heldenbildern des Genres. Dabei vergisst sie, dass Autoren wie Sterling und Gibson im Grunde ihre männlichen Helden entrealisiert haben. Sie lebten nur noch in den virtuellen Welten des Internets, wo sie sich im Gegensatz zu den hart arbeitenden Frauen mit ihrer sexuell anziehenden Lederkleidung sowie ihren dunklen Sonnenbrillen in einer irrationalen Sicherheit befunden haben. Zu Beginn eines jeden Cyberpunkromans dieser ersten Welle sind die männlichen Helden im Grunde lebensuntüchtig. Nicht selten wird impliziert, dass sie noch jungfräulich sind. Erst die Begegnung mit den dominanten Überfrauen - siehe Gibsons Molly im "Neuromancer" - lassen sie auch in der Realität über sich hinauswachsen, so dass sie im virtuellen Chaos zu Helden werden. Die ersten Cyberpunk Autoren haben nicht selten ironisch eine Generation der Schreibtischhelden erzeugt. Der Reduktion des männlichen Egos oder Testoterons stand die Geburt der Überfrau gegenüber. Erst die folgende Generation der weiblichen Cyberpunk Autorinnen wie Pat Cadigan und Pierce hat dieses Ungleichgewicht zu Gunsten der Frau - auch wenn der Hang zu einem idealisierten Sexsymbol in vielen Romanen Gibsons oder Sterlings überdeutlich zu erkennen ist - relativiert und ein ausgleichendes Element geschaffen. Lavigne muss zugeben, das der technologisch politisch paranoide Hintergrund der Cyberpunk Bewegung von den Männern erschaffen, initiiert und schließlich mit einer Wandlung des sozialen Klimas auch wieder relativiert worden ist. Auf dem nicht immer fruchtbaren Boden der ersten Generation haben die im Mittelpunkt dieser Studie stehenden Schriftstellerinnen eine Brücke gebaut, die einen gänzlich Untergang des "Cyberpunk" Subgenres trotz der sprunghaften Umsetzung ihrer futuristischen Ideen in der Realität verhindert haben. Aus der zweiten Generation der "Cyberpunk" Autorinnen ist der Ball zu den barocken Space Operas eines M. John Harrison oder Reynolds weitergespielt worden, die mit den "übermenschlichen" und nicht selten entrückten künstlichen Intelligenz den Cyberpunk fürs 21. Jahrhundert weiter gesponnen haben.
In den Kapiteln "Contribution and Critque: Women and Cyberpunk" sowie "Alienating Worlds: Globalization and Community" überprüft die Autorin die einzelnen Beiträge einiger ausgewählter Autorinnen auf ihre "Cyberpunk" Inhalte, wobei sie sich an den markanten Eckpunkten Corporations, Crime, Computers und Corporeality orientiert. Später fügt sie mit Cyborgs noch eine fragwürdige Variante hinzu, da die Cyborg Idee nicht mit dem Cyberpunk an sich in einer engen Verbindung steht. Die Entmaterialisierung des Intellekts in ein endlos erscheinendes virtuelles Netz ist die Basis, auf welcher dieses Subgenre seine Geschichten aufgebaut hat. Wie in "Matrix" lassen sich Virtualität und Realität nicht mehr unterscheiden. Der in erster Linie wirtschaftliche Krieg der Zukunft findet nicht mehr auf der Erde, sondern im Internet statt. Die Cyborgs sind dagegen eine Weiterentwicklung der Roboteridee, der Traum des Menschen, eine körperliche "Unsterblichkeit" zu erlangen. Der Versuch, diese beiden erst später zusammengeflossenen Subgenres frühzeitig zu verbinden, relativiert einige andere überdenkenswerte Thesen. Der Leser hat das unbestimmte Gefühl, als wollte die Autorin verzweifelt ihren Geschlechtsgenossinnen unnötig eine eigenständige Berechtigung im von Männern dominierten, aber qualitativ nicht zufriedenstellend beherrschten "Cyberpunk" Genre zuschustern. Bis dahin hat sie gut nachvollziehbar die verschiedenen Aspekte dieses nihilistischen Subgenres herausgearbeitet und die Entstehung eher zufriedenstellend als umfassend in einen historischen sozialen wie politischen Kontext eingebettet. Leser der ersten Stunde werden sich an einige der hier angesprochenen, damals revolutionär und so modern erscheinenden Bücher erinnern. Die bitterböse Ironie ist, das die Plots dieser Romane eher verschiedenen Pulpgeschichten entnommen worden sind, während die technologischen Aspekte Einzug in das heutige Alltagsleben genommen haben.
Ins argumentative Abseits manövriert sich die Autorin, wenn sie das unmittelbare Cyberpunkgenre verlässt und typisch “weibliche” Themen - nicht abschätzig gemeint - als Stärken der zweiten Autorinnengeneration herauszuarbeiten sucht. Der Reigen beginnt mit dem grünen Daumen verschiedener Schriftstellerinnen, welche die technologischen Exzesse der Gründergeneration relativieren und teilweise eine Postdoomsdaygesellschaft mit virtuellem Hintergrund beschreiben. Das Gegenargument insbesondere der männlichen Vertreter könnte sein, das die trost- und seelenlose Städte des Cyberpunks auch eine Kritik am hemmungslosen Kapitalismus inklusiv der Zerstörung lebenswürdiger Umstände und damit impliziert auch der Natur sind. Während sich die Frauen auf die direkten Auswirkungen auf die Natur als Umfeld der großen Städte konzentrieren, wären in diesem Fall die männlichen Kollegen einen Schritt weiter. Bei den Beispielen fällt auf, das Carlen Lavigne mehrmals sehr positiv ausgerechnet Bruce Sterlings Roman der zweiten Generation “Heavy weather” als exemplarisches Beispiel heraushebt. Natürlich werden auch ausreichend Texte weiblicher Autorinnen zitiert, aber bei vielen der Arbeiten fehlt der direkte Bezug zum Cyberpunk und der Übergang der modernen Science Fiction des 21. Jahrhunderts ist deutlicher zu erkennen.
Wenn wichtige Themen wie Sexualität, Familie und “Kinder” - absichtlich in Anführungsstriche gesetzt- angesprochen werden, fühlt sich die Autorin nur bedingt auf literarisch vertrautem Gebiet. Zum einen sind es nicht nur die Frauen, welche schräge Themen - Homosexualität und sexuelle Perversität - in ihren Arbeiten angesprochen haben. Hier sei nur auf Delany verwiesen, dessen “Dhalgreen” die städtischen Moloche des Cyberpunks vorwegnimmt. Oder Piers Anthony, der mit seinen überdrehten sexuellen Satiren die erzkonservativen Kritiker wie Leser provoziert und verspottet hat. Natürlich gehen die für viele Leser unbekannten, aber entdeckenswerten Texte den Schritt weiter, den man von einer modernen Grenzgängerliteratur erwartet. Aber Kloning in verschiedenen Variationen ist ein untergeordneter Aspekt des Cyberpunks, aber ein wichtiger Faktor der Science Fiction. Auf den klassischen Gebieten Mutterschaft und Kindererziehung punkten die von Lavigne vorgestellten Autoren durch eine Verzerrung der sozialen Verhältnisse, eine perspektivische Extrapolation gegenwärtiger Exzesse, die über die nicht selten von Kindheitstraumata gezeichneten Versionen ihrer männlichen Kollegen ohne Frage hinausgehen. Aber wie die Männer in ihren Werken die Internetjockeys zu Helden und die Frauen zu wehrhaften Huren gemacht haben, verwandeln die Frauen die Väter in Kinderschänder - auch wenn es sich um “Klons” oder virtuelle Traumphantasien handelt - oder huldigen die Ödipuskomplex. Die Charakterisierung dieser Protagonisten ist genauso einseitig wie in den Cyberpunkromanen William Gibsons oder Bruce Sterlings. Nur aus der Perspektive der Frau geschrieben und deswegen zumindest in der vorliegenden Studie ein wenig diskussionswürdiger.
Zwischen diesen beiden Extremen steht das religiöse Element, das sich spätestens seit “2001” und Carpenters “Dark Star” durch die moderne Science Fiction als künstliche Gottersatzintelligenz zieht. Carlen Lavigne spricht verschiedene Extreme an. Dabei muss sie allerdings zugegeben, das Atheismus keine Männerdomäne ist und nicht selten die Frauen das Gottesbild durch dystopische Familien ersetzen. Eine abschließende Antwort kann und will die Autorin aus der distanzierten Position einer wissenschaftlichen Arbeit zum Wohle des gesamten Textes nicht geben. Der Verzicht auf eine strengere Trennung von weiblicher Science Fiction männlicher Autoren - hier wird immer wieder auf Bruce Sterling bzw. den eher geschlechteslosen Carter verwiesen - oder fehlender männlicher Science Fiction weiblicher Autorinnen - Tiptree ist als Vorreiterin des Cyberpunks ausgeschlossen - lässt ihre Argumentationskette breiter und weniger feministisch erscheinen. Das gibt dieser lesenswerten Auseinandersetzung mit dem Cyberpunk an erster Stelle im Allgemeinen und erst im Folgenden aus einer feministischen Perspektive die notwendige intellektuelle Tiefe.
Am Ende steht die Auseinandersetzung mit den Lesern und den Autoren. Der Brückenschlag zwischen Produzenten und Konsumenten mag interessant sein, Lavigne muss sich allerdings überdurchschnittlich einschränken, um den sich im Grunde Ende der achtziger Jahre aufgelösten Cyberpunk in ein literarisch globaleres Umfeld zu überführen. Wo hört diese unter anderem von Vernor Vinges „True Names“ mit geprägte Bewegung des nihilistischen Großkapitalismus auf und wo beginnt ein neues Subgenres der Science Fiction? Greifen SF Leser zum Cyberpunk, weil Science Fiction auf den Romanen steht oder erweitern die Computerfreaks ihr sekundärliterarisches Käuferverhalten mit diesen dunklen, von dominanten Frauen modernen Märchen? Die Autorin bemüht sich, einen roten Faden zu finden, verliert sich allerdings in zu vielen Spekulationen, zumal insbesondere die weibliche Käuferschicht weniger nach dem Genre, sondern nach Autorenfrauen und interessanten Themen fahndet.
Wie schon angesprochen ist die vorliegende Studie weniger eine reine Auseinandersetzung mit dem fehlenden Feminismus im Cyberpunk und noch weniger eine kritische Betrachtung der zweiten Autorinnengeneration, sondern der Versuch, einen Teilaspekt utopischer Literatur, der interessanterweise entstanden ist, als das Genre sich nach „Star Wars“ mit rasanter Geschwindigkeit wieder dem Kindheitsstadium näherte, intensiver zu beleuchten und zuerst die Stärken, aber auch signifikanten Schwächen des Cyberpunks herauszuarbeiten. Während diese Romane in technologischer Hinsicht den Zeitgeist getroffen und wichtige Prozesse um den Computer und das Internet vorausgesetzt haben, versagten sie in politischer Hinsicht. Dieser Kontrast wird zu wenig herausgearbeitet. Hinzu kommt, das sich die Autorin trotz ausreichender Hinweise auf weniger bekannte Werke auf Autorinnen wie Pierce konzentriert, deren wenige utopische, vor Jahren im Argumentverlag auch in Deutschland veröffentlichte Bücher anscheinend alle in diesem sekundärliterarischen Werk angesprochene Facetten mehr oder minder abhandeln. Durch diese Konzentration des Fokus wirken einige Argumente zu stark konstruiert und andere sehr empfehlenswerte Bücher in erster Linie von männlichen Kollegen auf wenige Punkte reduziert. Carlen Lavigne verfügt allerdings über einen angenehm zu lesenden Stil, der von zahlreichen sehr plakativ ausgewählten Beispielen untermalt dem Leser einen Eindruck, für manche sogar eine Reise in die eigene literarische Vergangenheit schenkt, was der Cyberpunk nostalgisch verklärt, literarisch niemals so aggressiv wie erhofft oder erwünscht geworden ist. Punk´s not dead, er wurde einfach vom Kapitalismus überrollt. In dieser Hinsicht sollte der Leser Carlan Lavignes Studie als Einstieg in dieses heute eher verklärte Subgenre sehen, in dem es neben Sterling oder Gibson, Cadigan oder Pierce noch weitere Autoren und vor allem Autorinnen (wieder-) zu entdecken gibt.
Carlen Lavigne: "Cyberpunk Women, Feminism and Science Fiction"
Sachbuch, Softcover, 212 Seiten
McFarlands 2013
ISBN 9-7807-8646-6535