Die letzten Wächter

Sergej Lukianenko

Nach vier Jahren Pause – in der fiktiven Handlung sind fünfzehn Jahre vergangen und die philosophischen Betrachtungen des Autoren Alter Egos ist der bislang beste Auftakt der ganzen Serie – erscheint mit „Die letzten Wächter“ wahrscheinlich der Abschluss der gegenwärtigen Handlung um die Tag- und die Nachtwache sowie den zwischen den Fronten stehenden  Anton Goredetzki mit seiner Familie. Das auf den ersten Blick rasante, aber konsequente und nur teilweise melancholische Ende des Buches schenkt Goredetzki vielleicht die Ruhe, die er sich nicht nur nach allen Abenteuern, sondern vor allem nach dem Eintauchen in die Vergangenheit der Wachen und vor allem die kurzzeitige Wiederbelebung der sechsten Wache – einer der schönsten Momente des Buches – verdient hat.

Für Außenstehende hat sich Russland ohne Frage verändert. Vielleicht erwartet der Leser zu viel, wenn Lukianenko seine phantastische Welt an die gegenwärtig schwierige Realität anpassen sollte. Es finden sich oberflächliche Hinweise. In den Cafes wird weniger geraucht und vor allem eher Kaffee statt Wodka getrunken. Es gibt einen Hinweis auf die Ukraine, wobei zwischen den Zeilen die Assimilation einzelner Gebiete nicht kritisiert wird. Die melancholische Schwermut der Russen ist schon in den letzten, deutlich weniger überzeugend strukturierten Teilen der „Wächter“ Serie einigen oberflächlichen Witzen gewichen. Im vorliegenden Band konzentriert sich zwischen den verschiedenen Actionszenen und vor allem der Suche nach den Zweieinigen auf ein verbal amüsantes, aber nicht unbedingt tiefgehendes Geplänkel zwischen Goredetzki und seinem dieses Mal offensiver und einfühlsamer auftretenden Vorgesetzten. Das Flair Russland findet im Grunde nicht statt. Die Beschreibungen sind oberflächlich. Wenn die Schurken Goredetzki mittels einer Abbruchkugel aus seinem nicht nur magischen, sondern auch realen Versteck vertreiben, flammt der russische Pragmatismus ein wenig auf. Es gibt keine unheimlichen U- Bahnen mehr, keine Taxifahrer des Grauens und das Aufeinandertreffen von Geschichte und korrupter Gegenwart. „Die letzten Wächter“ wirkt in seinen Russlandbeschreibungen eher weich gespült und hat deutlich an Faszination verloren.

Diese fehlende Kulisse fängt der Autor aber mit einem Plot ein, der ohne Frage im Vergleich zu den letzten, zu geschwätzigen Teilen deutlich kompakter entwickelt worden ist. Mit einem interessanten, den Leser zumindest kurzzeitig auf die falsche Spur lenkenden Showdown baut er eine Basis auf, die er im Epilog durch die „Bestrafung“ und „Opferung“ eines wichtigen Protagonisten mit sadistischem Vergnügen wieder einreißt.  Er stellt die Figur mit dem Leser gleich, wobei aus Fairness angemerkt werden muss, das der Leser über die insgesamt sechs Teile dessen Weg ins Übernatürliche und zu den Wachen aus einer nicht unbedingt gesicherten, aber bürgerlichen Existenz verfolgt hat. Der Epilog dreht diese Entwicklung um, wobei der Protagonisten aufgrund des erlittenen Schocks – besser als neben dem Antagonisten auf dem ruhmreichen russischen Friedhof beerdigt zu werden – ein wenig zu weinerlich, zu dickköpfig und unvernünftig erscheint.  Lukianenko testet dabei im Verlaufe der Handlung auch die väterlichen Grenzen aus. Neben der ersten Liebe und dem ersten Sex werden weitere existentielle Punkte in einer Vater- Tochter Beziehung angerissen, die aus Goredetzki vielleicht nicht einen idealen Vater, aber zumindest einen Ambitionierten machen, der aber im vorliegenden Band unglaublich viel lernt. Schon in den letzten Abenteuern hat Lukianenko mehrfach die Balance zu Gunsten der Tochter ausgereizt und Goredetzki in dieser Hinsicht vielleicht ein wenig übertrieben zu einem naiven Trottel gemacht.   

Das Ausgangsszenario ist dabei vielschichtig entwickelt. Zwei Vampire durchstreifen Moskau und saugen einiges an Blut. So wird ein Mädchen auf dem Weg zu ihrem Freund mit Blut voller Adrenalin überfallen. Die meisten Opfer sind zwar Frauen, aber bei den Vampiren lässt sich ohne Frage als Anspielung auf manche Krimis gedacht kein System hinsichtlich der Opfer erkennen. Durch einen Zufall findet man heraus, dass die Namen der Opfer eine Botschaft an Anton Gorodezki bilden. Anscheinend wollen ihn die Vampire warnen. Während er anfänglich von einer Drohung auskennt, zeigen sich bald die gigantischen Dimensionen. Seit ewigen Zeiten stehen sich ja die Mächte des Lichts und der Finsternis gegenüber. Der vor Jahren geschlossene Waffenstillstand ist brüchig und es ist nur eine Frage von wenigen Tagen, bis durch die gemeinsame Prophezeiung beider Seiten der Krieg wieder ausbricht. Dabei hilft es wenig, das sich die beiden Wachen momentan ausgesprochen gut verstehen. Die Katastrophe soll nur aufgehalten werden können, wenn sich die sechste Wache bildet. Nur hat niemand seit Jahrhunderten von dieser legendären und chronologisch gesehen im Grunde ersten Wache gehört. Es finden sich kaum Spuren. Im Vergleich zu den bisherigen Fugenromanen hat Lukianenko "Die letzten Wächter" eher als doppelte Quest gestaltet. Auf der einen  Seite muss Gorodezki die eigene Familie und vor allem seine Tochter schützen, die aufgrund ihrer einzigartigen Fähigkeiten zu einer neuen Absoluten heranreifen wird. Auf der anderen Seite muss er fast alleine und mit wenig Unterstützung die sechste Wache suchen, wobei der Autor geschickt auf einige Figuren und Strukuren der letzten Bände zurückgreifen kann.  Der Autor legt ausreichend falsche Spuren - die Wahl zu einer Oberhexe scheitert schließlich nicht an den politischen Diskussionen, die an eine Papstwahl erinnern, sondern die fehlende Akzeptanz durch deren Symbol - , um Spannung zu erzeugen und den Leser auch kurzzeitig in die Irre zu führen. Aber rückblickend spielt er erstaunlich fair. Alle Fakten liegen auf dem Tisch, sie können nur nicht vom Protagonisten und damit dem Leser richtig interpretiert werden. Im Vergleich zu den letzten Romanen, in denen Gorodezki in erster Linie ausschließlich reagieren konnte und teilweise von den Ereignissen bis auf das Schlussviertel hin und her getrieben worden ist, obliegt ihm im vorliegenden Band die leider mehrfach ins Leere gehende Initiative.

Zu der gut strukturierten Handlung gehört wie bei einem Zwiebelschalenmodell der Blick in die Vergangenheit der Wachen und das Anbieten von weiteren Informationen hinsichtlich des verheerenden Krieges in der Vergangenheit. Dabei werden immer nur Teile aufgedeckt, so dass eine Veränderung in seinem Universum und eine Anpassung an Variablen weiterhin möglich sind. Vielleicht wird die Neugierde der Leser ein wenig zu sehr in der ersten Hälfte des Buches gekitzelt, während eine Lösung am Ende im letzten Viertel zu opportun präsentiert werden kann, aber der Weg ist zumindest zufriedenstellend und niemals ohne Gegenfragen oder Widersprüche geebnet worden. Natürlich ging es den beiden Wachen vor allem darum, die Menschen von den übernatürlichen Ereignissen und als Bogenschlag den immer wieder aufkommenden Legenden/ Sagen/ Mythen zu isolieren, aber bei der Suche in dem Archiv - eine wunderbare Sequenz mit sich bewegenden Knochen und dem Wunsch, nicht alles im Kerzenschein sehen zu müssen - kommen sehr viele Hinweise auf, welche die bisherige Geschichte der beiden Wachen zumindest zu hinterfragen beginnen. Auch ihre Position im Treiben der Vampire, Hexen oder anderer übernatürlicher Wesen wird relativiert und ihr Einfluss auf ein erträgliches Maß zurückgenommen. Auf der anderen Seiten ist der konsequente Ausbau seines Kosmos und die Idee einer einzigartigen sechsten Wache mit einer selbstlosen Opferung ein Höhepunkt der Serie und zeigt, dass insbesondere dem Autoren nach den ermüdenden letzten "Wächter" Romanen die vierjährige Schöpfungspause gut getan hat.  

Auf der Charakterseite baut Lukianenko wie schon angedeutet neben den Hauptfiguren auch viele bekannte und teilweise beliebte Nebencharaktere sehr konsequent aus. Vom Reifeprozess der Hauptfigur über die Entwicklung seiner Tochter - die anscheinend im Vorborgenen sehr viel weiter gediegen ist als man es einer Vierzehnjährigen zutraut - bis zur Liebe zu seiner Frau. Gorodezki muss dabei zwei interessante Extreme durchleben, die in der immer schneller werdenden Handlung vielleicht sogar untergehen. Dabei "trauert" er um Dinge, die seine Tochter vielleicht nicht mehr erleben kann und wird am Ende mit unangenehmen Wahrheiten konfrontiert, die seinem Leben in den letzten zwanzig Jahren widersprechen. Es ist schade, dass Lukianenko mit dem Erreichen einer neuen emotionalen Ebene zumindest das Drama und Gordodezki anscheinend abgeschlossen hat. Dabei wird augenscheinlich viel Potential verschenkt.   

Zusammenfassend sind „Die letzten Wächter“  ein würdiger Abschluss eines Teilaspektes des „Wächter“ Universums, der Potential für die notwendige Weiterentwicklung der Serie über Gorodezki und seiner Familie hinaus bietet. Deutlich emotionaler, stringenter und vor allem konzentrierter verfasst als die letzten Fugenromane lädt „Die letzten Wächter“ in erster Linie Fans der Serie ein, ein süßsaures Happy End zu feiern, während Neueinsteiger auf die inzwischen mehrfach wieder aufgelegten ersten Teile verwiesen werden.

  

 

  • Broschiert: 464 Seiten
  • Verlag: Heyne Verlag (9. März 2015)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3453314972
  • ISBN-13: 978-3453314979
  • Originaltitel: sestoj dozor
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