Sherlock Holmes- Crime Alleys

Sylvain Cordurié, Alessandro Nespolino

Im Gegensatz zu den nicht selten cineastischen Antrieben, berühmten fiktiven Figuren wie Batman – Christopher Nolan hat ihm in der Trilogie alle Traumata ausgetrieben – oder James Bond – „Skyfall“ greift auf Ian Flemings Vorlagen zurück und enthüllt dem Kinopublikum einen kleinen Blick in die Jugend des britischen Geheimagenten – eine Vergangneheit zu geben und damit Lücken in ihren Biographien zu schließen, haben sich Autor Sylvain Cordurié und sein Zeichner Alessandro Nespolino nicht auf den potentiell ersten Fall, sondern die erste Konfrontation mit Henry Moriarty und seinem Sohn James im vorliegenden aus zwei ursprünglich getrennt veröffentlichten Alben bestehenden Fall konzentriert. Es ist nicht entgegen der immer wieder werbetechnisch verwandten Schlagworte der Ausgangspunkt der Karriere des größten deduzierenden Detektivs, aber ein Wendepunkt. Der Moment, an dem das Lösen von Fällen und die Unterstützung der Polizei durch den Verlust eines Freundes persönlich geworden ist.

Durch eine im Hintergrund agierende, fremdartige Figur wird diese neue Sherlock Holmes Serie konsequent in das bestehende teilweise phantastische Universum Corduries bisheriger Geschichten „Sherlock Holmes und die Vampire von London“ sowie dem ebenfalls im Splitter Verlag veröffentlichten Band „Sherlock Holmes und das Necronomicon“ eingebunden. Zu den phantastischen Elementen gehört die wahrscheinlich nicht von Moriarty gemachte, aber kommerziell ausgenutzte Erfindung eines Talenttausches, die in Anlehnung an einige Horrorgeschichten und den Steampunk aus dieser ansonsten viktorianisch dunklen Story markant, vielleicht sogar ein wenig übertrieben herausragt. Alle anderen phantastischen Elemente haben Cordurie und Nespolino ganz bewusst im Vergleich zu den oben erwähnten Alben in den Hintergrund gedrängt und deswegen könnte der Plot als bizarre, vielleicht auch übertriebene Kriminalgeschichte mit einem Schwerpunkt auf Entführungen nicht reicher, aber ausgesprochen talentierter „Primus Inter Pares“ Menschen mehr überzeugen. 

Es ist wie schon angesprochen nicht der Anfang der Karriere des Sherlock Holmes, sondern die Entstehung seines zukünftigen Erzfeindes Professor Moriarty, der bislang unter der Knute und dem sehr langen erdrückenden Schatten seines Vaters gestanden hat, dem eigentlichen anscheinend mit Billigung der Krone hinsichtlich der Säuberung der Straßen König des Verbrechens in der britischen Hauptstadt.

Betrachtet der Leser aber aufmerksam den Sherlock Holmes des Jahres 1876 – die Geschichte spielt im Mai – so sind seine deduzierenden Fähigkeiten wie einige Beispiele zeigen schon zufrieden stellend ausgeprägt. Gleich zu Beginn zeigt er in einer Kneipe seinen Freunden seine Beobachtungsgabe, später wird er sie wieder einsetzen, um einen Verfolger rechtzeitig, aber letzt endlich auch fruchtlos zu erkennen. Viel interessanter und kritisch zu hinterfragen ist die Tatsache, dass Sherlock Holmes diese Fähigkeiten wie in „Vampire von London“ und „Das Necronomicon“ nicht einsetzen muss, um erstens den Fall zu lösen oder zweitens aus diesen Puzzlestücken wie bei Doyle im Nachhinein eine weitergehende Möglichkeit zu eruieren. Viel mehr stolpert er von einer Situation in die Nächste und erweist sich eher als viktorianischer Indiana Jones oder Luke Skywalker, denn als der bekannte Detektiv. Auch muss er wie in „Das Necronomicon“ aus einer unmöglichen Situation gerettet werden und reagiert in einer weiteren Schlüsselszene trotz seiner Beobachtungsgabe nicht rechtzeitig, um zumindest der Polizei die Möglichkeit zu geben, den „Fall“ zu lösen. Am Ende erweist sich der Handlungsbogen auch eher als Episode, ein Schlüsselaspekt in Moriartys gigantischem, aber sich immer wieder auf wenige Personen beschränkendem Reich. Theoretisch ist am Ende seine Macht gebrochen, sein „Reich“  zerstört, weil der Vater Henry wie im Grunde Holmes in einem Moment der arroganten Unaufmerksamkeit einen Vertrauten unterschätzt. Das eigentliche Finale erfolgt unabhängig von Sherlock Holmes während einer persönlichen Zurechtweisung. Es wirkt so abrupt, dass der Leser den Fall und gleichzeitig den potentiellen Aufstieg eines neuen Königs der Verbrechens eher als Zurückführung der Handlung in den bekannten Kanon ansehen sollte denn als konsequente Auflösung der Sherlock Holmes gegenüber gestellten Herausforderungen. Es ist schade, dass insbesondere Cordurie hier viel Potential verschenkt. Natürlich kann er an keiner Stelle entweder Sherlock Holmes oder Moriarty zum Sieger küren, da eine derartig frühe Auflösung der Konfrontation dem Kanon widersprechen würde. Aber es ist interessant, dass weniger James Moriarty denn sein Vater Henry die einzigartigen Fähigkeiten Sherlock Holmes erkennt und nutzen, aber auf keinen Fall zerstören will. Diese einem Gentlemen entsprechende Bewunderung geht durch James eigenmächtiges und sich durch den Plot ziehendes „dummes“, aggressives und arrogantes Verhalten unter. Erst rückblickend erkennt der aufmerksame Leser, dass Cordurie irgendwann zu sehr in Richtung eines viktorianischen Actionabenteuers abgebogen und die Grundlagen der Sherlock Holmes Geschichte verlassen hat. Unabhängig von dem herausragenden phantastischen Element und einhergehend das in einer verlassenen Fabrik ungtergebrachte Laboratorium, das in seiner an Frankensteins Reich erinnernden kargen Ausstattung nicht richtig durchdacht und endgültig extrapoliert erscheint, sind es die handelnden Figuren, die weniger mit Ecken und Kanten charakterisiert, sondern pragmatisch in die allerdings wieder wunderschön gezeichnete und über viele authentisch verfügende Szenerie Alessandro Nespolinos förmlich gesetzt und leider nicht immer nachhaltig eingebaut worden sind.

 Allen voran natürlich Sherlock Holmes. Der Leser erfährt, dass er der Polizei geholfen hat, einen gefährlichen Massenmörder nicht nur zu überführen, anscheinend hat ihn der heißblütige Sherlock Holmes auf eigene Faust gestellt und schließlich getötet. Den Ruhm überlässt er anderen. Auch führt er Scottland Yard trotz seiner distanzierten Freundschaft zu einem der eher mechanisch gezeichneten Inspektoren seit Jahren mit Briefen voller Anagramme an der Nase herum und will ihnen beweisen, dass er klüger ist als die Polizei und seine neuartigen, in allen Comicfällen niemals aktiv genutzten Fähigkeiten den klassischen Ermittlungsmethoden in allerdings alle „normalen“ Regeln sprengenden Fällen überlegen sind. Vollkommen aus dem Kanon ragt eine Szene, in der Holmes gestattet, Rache an einem im Grunde Unschuldigen zu nehmen, dessen einziges Verbrechen ist, sich illegal Sherlock Holmes Fähigkeiten „kaufen“ zu wollen. Hier hätte Holmes angesichts seiner Präsenz vielleicht ein positiveres Ende erwirken können und auf jeden Fall hinsichtlich der Kontinuität der fiktiven Figur auch erreichen müssen. Der Leser lernt einen jungen Holmes kennen, der Musik, alte Bücher und seine wenigen Freunde schätzt. Es ist sein Zimmergenosse, der entführt wird. Ein bekannter Violinespieler, vielleicht der beste seiner Kunst. Sherlock Holmes wagt nicht, mit ihm zu konkurrieren. Der deduzierenden Fähigkeiten, seine überlegene Beobachtungsgabe setzt er mehrmals im Verlaufe der Handlung, aber nicht des Plots ein, ohne hinsichtlich seines potentiellen Gegenspielers und dessen Schachfiguren voran zu kommen. Er ist an der eigentlichen Auflösung der Entführungsserie nur indirekt beteiligt und scheitert grandios vor den Augen der Polizisten, als es darum geht, den Kronzeugen zu schützen. Als Figur schenkt Cordurie diesem Holmes eher widerwillig bekannte und markante Züge. Ohne Sherlock Holmes oder Moriarty hätte sich die Geschichte auch ähnlich oder gleich abspielen können. Dieser Sherlock Holmes drückt wie bei den Vampiren von London oder der Suche nach den Necronomicon dem Plot leider nicht seinen Stempel auf. Vielmehr werden einige relevante und ohne den Namen Sherlock Holmes sogar sehr spannende Szenen förmlich entschärft.

Wie schon angedeutet geht es im vorliegenden Doppelalbum weniger um die Entstehung des berühmtesten Detektivs, sondern seines Erzrivalen. Und hier liegt die größte Schwäche des Albums, denn es ist der Vater Henry, der alle Züge des Napoleons in sich trägt. Er hat mit Raffinesse und wahrscheinlich indirekter königlicher Unterstützung sein Imperium aufgebaut. Er ist rücksichtslos, geht aber intelligent vor. Er hat Respekt von Sherlock Holmes Fähigkeiten, will ihn im Notfall allerdings töten und nicht nutzen. Er neigt zu cholerischen Anfällen, wenn seine Anweisungen nicht befolgt werden und nutzt die Mitglieder seiner Organisation rücksichtslos aus. Sein Sohn James dagegen ist der typische Zögling, dessen Hang zu sadistischer Übertreibung den vorläufigen Fall des Moriarty Imperiums auslöst. Der sich nicht an Anweisungen hält und vor allem in die eigene Tasche wirtschaftet. James trägt alle Züge, die der Leser nicht mit dem zumindest in den verschiedenen Geschichten im Vergleich zu Sherlock Holmes deutlich älteren Moriarty in Verbindung bringt. Daher wirken die Versuche, eine Verbindung zwischen Holmes und Moriarty entstehen zu lassen, eher bemüht.

Es sind die Nebenfiguren wie der Gangster mit einer vielleicht fragwürdigen Moral – er will seinen von James Moriarty ermordeten Bruder rächen – oder dessen älterer Helfer; die attraktive wie eiskalte Mörderin und schließlich der Violinespieler und Zimmergenosse Ron Jantscher, welche die Handlung beleben und dem viktorianischen Hintergrund im Gegensatz zu den teilweise zu mechanisch charakterisierten Hauptfiguren mehr Tiefe geben.

 Zusammengefasst will Sylvain Cordurie wie in seinen schon mehrfach angesprochen Sherlock Holmes Abenteuern mit dieser neuen, früher angesiedelten Nebenserie dem Kanon neue Impulse geben. Im zweiten Doppelabenteuer trifft Sherlock Holmes sogar auf einen Zeitreisenden. Das große Problem insbesondere der vorliegenden Geschichte „Crime Alleys“ ist, dass der Autor keinen echten Griff auf die bekannte Figur erhält und Sherlock Holmes eher als differenziert agierenden jungen ungestümen Privatdetektiv zeichnet als den deduzierenden Ermittler, der mit Logik und weniger dem zu oft mit dem Titelbild beginnend Revolver in der Hand die Fälle löst. Mit dieser Oberflächlichkeit wird trotz oder vielleicht auch gerade wegen der auf den ersten Blick absurden Idee einer Talentübertragung – die unfreiwilligen Spender werden getötet, so dass der Leser nicht weiß, ob die Fähigkeiten einfach kopiert oder gänzlich transferiert werden – sehr viel Potential verschenkt. Auf der anderen Seite laden die überdurchschnittlichen Zeichnungen  Alessandro Nespolinos hinsichtlich ihrer Vielschichtigkeit, ihrer Mischung aus vor allem Hintergrunddetails und durch die Nutzung kleiner Panel Dynamik trotz der teilweise ausdruckslosen Portraitierung der einzelnen Figuren zum Verweilen in dem in dieser Hinsicht ohne Frage lebendigen viktorianischen London ein.

AutorSylvain Cordurié
ZeichnerAlessandro Nespolino
EinbandHardcover
Seiten96
Band1 von 1
Lieferzeit3-5 Werktage
ISBN978-3-95839-133-8
erscheint am:01.04.2015
Kategorie: