Das Gleismeer

China Mieville

China Mievilles „Das Gleismeer“ ist nach „Die Narbe“ die zweite Arbeit des Briten, die sich sehr stark auf eine fast surrealistische Art und Weise mit Herman Melvilles „Moby Dick“ auseinandersetzt.  Nur wird nicht ein riesiger weißer Wal gejagt, sondern gigantische Maulwürfe auf einer Erde, die wahrscheinlich sogar mehrere Schichten übereinander von einem Schienennetz überzogen ist.  Wie sehr sich Mieville aber nicht nur mit diesem Klassiker der Literatur identifiziert hat, zeigt eine Szene, in welcher die Kapitäne mit ihren Narben in einer der obligatorisch finsteren Kneipen angeben, die sie bei der Jagd auf Maulwürfe erlitten haben.  Ohne es negativ herauszustellen, greift aber der Autor auf zahlreiche Klischees des Jugendbuches – ein Waise, der plötzlich im Mittelpunkt des Geschehens steht; mit einer Fledermaus ein tierischer Freund, der ihm mehrmals hilft und schließlich am Ende der Reise eine skurrile Entdeckung – zurück, um seine Geschichte zu erzählen.   

Seiner Vorlage fast sklavisch folgend präsentiert Chrina Mieville stilistisch einen modernen Mieville, der sich aus einer Reihe von Exkursen in diese einzigartige und bizarre Welt sowie einer Rahmenhandlung zusammensetzt, die sehr eng an „Moby Dick“ angelehnt ist. Wie Melville seine Geschichte rückblickend mit den berühmten Worten „Nennt mich Ismael“ anfängt, beschreibt Mieville seinen jugendlichen Helden blutüberströmt mitten bei der Arbeit. Das Ausschlachten von Maulwürfen, die von Zügen aus gejagt werden. Im Gegensatz zu Melville ist sich der Brite des ironischen Untertons bewusst und kokettiert förmlich mit der Erwartungshaltung der Leser. Die von Schienen – eine Rechnung wird am Ende präsentiert – durchzogene Welt lebt förmlich von der Bewegung. Sie verbindet die einzelnen Siedlungen, wobei die Bahnhöfe fast zu Häfen werden. Es gibt Legenden um verschwundene Züge und sagenhafte Funde von Artefakten, welche den Ursprung dieser Welt besser erklären könnten.  Auch wenn Mieville im Verlaufe der geradlinigen Handlung dem Leser etwas vom Hintergrund dieser Welt erläutert, spielt das im Grunde keine Rolle. Auch wenn er es zu verschleiern sucht, sind die Vorlagen zu stark erkennbar. Sham Yes a Soorap ist ein jugendlicher Waise, der auf dem besonderen Maulwurfsfänger MEDES anheuert. Eigentlich als Helfer für den Arzt angeworben wird er mehr und mehr in das Geschehen einbezogen. Soorap als Ismael, die Kapitänin Naphi als Ahab. Auf der Jagd nach dem Elfenbeinfarbenden Maulwurf Mocker Jack hat sie inzwischen einen Arm verloren. Es fällt stellenweise schwer, bei diesen Passagen ernst zu bleiben.  Zu sehr lehnt sich der Autor ohne Not an die Vorlage an und versucht mit der ohne Frage eindrucksvollen Schilderung einer solchen Maulwurfsjagd und dem Mut der Harpuniere insbesondere junge Leser wahrscheinlich unbewusst an die schöpferische Kraft des Originals herauszuführen.  Dabei darf man Mieville kein Plagiat unterstellen. Er verdreht das unbekannte Szenario einer Schienengesellschaft, führt die Maulwürfe als furchterregende gigantische Bestien ein und orientiert sich an den Geschichten, die schon Charles Dickens geschrieben hat.  Das Szenario setzt sich aus einer Reihe von Zufälligkeiten zusammen. Hinzu kommen unterschiedliche Charaktere, die mehr als einmal im richtigen Moment an der richtigen Stelle sind, ohne das es der Text nachhaltig und vor allem zufriedenstellend vorbereitet. Sham wäre das typische, aber auch klischeehafte Beispiel. Er träumt davon, nicht als Zugbegleiter sein Geld zu verdienen, sondern zu den legendären Schatzsuchern zu gehören, die ins Unbekannte wie die große Leere vordringen und dort nach in erster Linie außerirdischen Artefakten suchen zu dürfen, die anscheinend ebenfalls impliziert Fremde beim Besuch der Erde – es wird niemals expliziert gesagt, dass die Geschichte wirklich auf der Erde spielt – in der Tradition von Strugatzkis „Picknick am Wegesrand“ zurück gelassen haben. Es ist ein Zufall, dass erstens ausgerechnet die Medes einem verunglückten Zug begegnet und zweitens Sham als einziger schlank und wendig genug ist, um in der Wrack einzudringen und dem auf der Rückfahrt befindlichen, vor Jahren verstorbenen Kommandanten des Zuges ein zwei Fotos abzunehmen, die einmal zwei Kinder zeigen und zweitens eine Landschaft, die nur durch einen einzigen Schienenstrang geteilt ist. Den Rest der Beute gibt er seine Kapitänin, wobei er ahnt, dass sie gemeinsam auf eine Suche gehen werden, deren Ziele nicht unterschiedlicher sein könnten.  Im nächsten Hafen kommt er den Kindern auf die Spur und wird wegen seines Wissens von Piraten entführt, die von ihm den Zugang zu einem legendären Schatz sich erhoffen. Nach „Moby Dick“ schwenkt die Handlung nach dem ersten sehr zufriedenstellenden Drittel mit dem Fund der Fotos in das Reich von Robert Louis Stevensons eher unbekannteren Werken mit der Entführung, der Expedition ins Nichts und schließlich der Auflösung der einzelnen Handlungsstrenge um.  Am Ende führt der Autor in einer zu stark Konstruktion die insgesamt drei Handlungsbögen – die Jagd nach dem Maulwurf, die Suche der Kinder nach den Funden ihrer verstorbenen Eltern und schließlich Shams Entführung durch die Piraten – natürlich zusammen, um einen gänzlich anderen Blick auf diese bizarre Welt zu präsentieren.

Vielleicht erkennt der Leser an der Konzeption von „Railsea“ am ehesten, dass China Mieville ein jugendlicheres Publikum unabhängig von den teilweise interessanten Skizzen im Text verteilt ansprechen wollte. Seine ersten Romane zeichneten sich durch eine deutlich ruhigere, ambivalentere Plotentwicklung aus, die harmonisch mit dem Hintergrund ablief. Die Balance wirkt im vorliegenden Buch zu unharmonisch. Anstatt sich mit der Weiterentwicklung und Vertiefung seiner Welt aufzuhalten und damit die Atmosphäre dreidimensionaler, effektiver und vielleicht auch angesichts der bekannten Vorlagen griffiger zu entwickeln, springt der Autor förmlich von einem Ereignis zum Nächsten, ohne die entsprechenden Höhepunkte zu setzen oder auch nur das notwendige Tempo zu variieren.  Damit spricht er die Generation von Lesern an, die in erster Linie diese Art des „Erzählens“ aus dem Kino mit den rasanten Abläufen, dem Setzen von Höhepunkten in regelmäßigen Abständen und einer rein visuellen Ebene als Mittler zu Leser kennen. Sie werden das Buch nicht nur befriedigt, sondern fast atemlos zuschlagen.  Wie Jack London sich in die Weiten des amerikanischen Kontinents verliebt hat und diese unerwiderte Liebe förmlich in seine Bücher quetsche, so lebt der kleine Junge Mieville seinen  feuchten Eisenbahntraum aus und präsentiert eine Version von „Lukas, der Lokführer“ voller Blut, Schweiß und Tränen.  Aber ein Autor wird ja nicht nur an der Idee eines Buches gemessen, es wird in sein Gesamtwerk eingebaut und hier wirkt „Das Gleismeer“ wie eine seltsam klingende, aus einer verzerrten Perspektive erzählte Zusammenfassung seines kompletten Werkes, die laut und unrein klingt, deren Ton aber nicht zum Herzen durchdringt und deswegen eher kurzzeitig gehört zu schnell wieder verhallt. Züge hat der Autor insbesondere in „Der eiserne Rat“ schon vergöttert. Der verfilmte „Snowpiercer“ hat eine Variation des Lebens auf den Schienen präsentiert und eine nur aus Schienen bestehende Welt könnte vor allem im Kino sein Publikum erschlagen, wirkt in der hier beschriebenen Form teilweise bieder und antiseptisch. Die Hinweise nicht nur auf Melville „Moby Dick“, sondern vor allem auf den deutlich besser konzipierten „Die Narbe“ sind überdeutlich,  während die Spiele mit der Sprache und die Umkehr der Erwartungen sowohl aus „Stadt der Fremden“ wie auch dem ersten Buch „Perdido Street Station“ stammen könnten. Und Monster gibt es in jedem seiner Bücher, wobei er nicht selten die irdische Flora und Fauna hinsichtlich seiner Verfremdungszwecke zu Rate gezogen hat. Hier sind die Vorbilder absichtlich überdeutlich zu erkennen und geben dem an sich friedlichen, unter seinem schlechten Ruf leidenden Maulwurf eher einen schweren Rucksack mit auf den Weg. Wie in den Vorbildern sind die Menschen als Jäger von jeder Schuld freigesprochen und der Daseinszweck der Tiere ist, sich möglichst widerstandslos schlachten zu lassen.

Zusammen mit China Mieville als übergeordneten, aber auch arrogant in die Handlung eingreifenden, sie wie einen Film verändernden Erzähler präsentiert sich „Das Gleismeer“ als eine intelligente Zusammenfassung seines ganzen Werkes ohne Frage vor einem bizarren, auch interessanten, aber nicht aus sich selbst heraus lebenden Hintergrunds, das an einer über weite Strecken zu seichten, zu wenig nachhaltig konzipierten Story genauso leidet wie unter der Tatsache, dass der Autor zu viel in zu wenig Roman haben wollte. Ein umfangreicheres, intelligenter und vielleicht auch ambivalenter, statt hektisch ambitioniert gestalteter Plot hätten dem Roman gut getan, so dass ohne Frage „Das Gleismeer“ seine zahlreichen Anhänger auf einem hohen China Mieville Niveau ansprechen wird. Alleine es fehlt der Schritt nach draußen, der Handlung und Hintergrund wie in seinen ersten Arbeiten zufriedenstellender kombiniert und vor allem die hinsichtlich des hohen Tempos offenen Fragen auch beantwortet, anstatt sie rücksichtslos über Bord der Züge zu werfen und abseits der Strecke verhungern zu lassen.          

 

Originaltitel: Railsea
Originalverlag: Del Rey
Aus dem Englischen von Eva Bauche-Eppers

Deutsche Erstausgabe

Heyne Verlag, Paperback, Broschur, 400 Seiten, 13,5 x 20,6 cm

ISBN: 978-3-453-31540-2