Clarkesworld 104

Neil Clarke (HRSG)

Im Schatten der etablierten Magazine wie „Analog“, „Isaac Asimov´s“ oder natürlich dem „Magazine of Fantasy& Science Fiction“ hat sich „Clarkesworld“ mit seiner Mischung aus Nachdrucken von zwei oder drei Geschichten, Original Science Fiction und einigen sekundärwissenschaftlichen Artikeln, Essays oder Interviews inzwischen etabliert. Während in diesem Fall das Essay Andrew Liptaks über den literarischen wie auch den inzwischen erforschten Mars nicht viele neue Informationen anfügt und durch den komprimierten Text ein wenig hektisch erscheint, ist es Ken Liu mit "Another Word: It's Good to Be Lazy and Foolish" , der nicht nur zum Nachdenken anregt, sondern in seiner humorvollen Art seine drei beruflichen Standbeine – Graphikdesign, Schriftstellerei und seine Tätigkeit als Rechtsanwalt – miteinander kombiniert. Ken Liu sieht dabei die Narretei und Faulheit eher als Grundlage, um Themen und Ideen zu finden, über die es sich zu schreiben lohnt. Die in Deutschland unbekannte Cat Rambo spricht über ihre Entwicklung als Autorin von Kurzgeschichten beginnend mit den obligatorischen Schreibkursen bis zur Veröffentlichung ihres ersten Romans. Allerdings bleibt das Interview an der Oberfläche und bietet im Grunde wenig nachhaltige Informationen über die Autorin und ihr Werk.

 Matthew Kressel eröffnet diese Ausgabe mit „The Garden Beyond Her Infinite Skies“. Es ist eine kraftvolle, vor allem stilistisch ausgesprochen intensive wie kompakte Geschichte mit einem eher abstrakten Hintergrund. Auf Aya pflanzen die Gärtner ganze Miniuniversen, die sie entweder hegen und pflegen oder wie Unkraut beseitigen. Als eines dieser Universen an einer Art Krebsgeschwür wächst, muss der Gärtner eine Entscheidung treffen, welche die natürliche Ordnung unterminiert. Kressel spricht wichtige Themen in seiner Allegorie an. Er differenziert zwischen der reinen Krankheit und der ultimativen Lösung, zwischen der Vergänglichkeit und der reinen, aber auch künstlichen Schönheit.  Dem Autoren gelingt es auf der einen Seite, eine fremdartige Kultur nicht nur zu entwickeln, sondern mit einem bizarren, natürlich Gott gleichen Leben zu erfüllen und sie trotzdem mit menschlichen Problemen zu konfrontieren, für die sie ungewöhnliche, aber nicht konstruierte Lösung suchen. Mit sehr guten, doppeldeutigen Dialogen ein Höhepunkt dieser Ausgabe und ein Gedankenmodell, das länger als vielleicht auch vom Autoren beabsichtigt im Gedächtnis bleibt. Andrea M. Pawley setzt einige Aspekte – insbesondere die Frage der Menschlichkeit – in ihrer Geschichte „For the Love of Sylvia City“ konträr um. Die Menschen leben unter den Meeren zwischen einer fremden Rasse von Walwesen. Die Oberfläche der Welt ist durch diverse Kriege verwüstet worden. Die friedliche Koexistenz wird aus den Augen eines Fremden, des letzten Menschen beschrieben, die in diese Unterwasserwelt auswandern durfte.  Sie überwacht die einzige Kommunikationslinie zwischen der Unterwasserstadt Sylvia City und dem Land. Als sie einen Jungen vor dem Ertrinken zu retten sucht, muss sie erkennen, dass ein weiterer Krieg an Land die Existenz ihres Exils bedroht und entsprechende Entscheidungen treffen. Auch wenn das Ende ein wenig pathetisch rührselig ist, wirkt es nicht nur konsequent, sondern zeigt kritisch auf, dass die Menschen als Ganzes nicht reif genug sind und auch niemals reif genug werden. Die Vernichtung nicht nur der eigenen Rasse, sondern vor allem auch der Umwelt, das egoistische Verhalten bilden einen starken Kontrast zu der vielleicht zu idealisiert beschriebenen Unterwasserwelt, die aber fremdartig genug – ein Querverweis auf Kressels Arbeit – ist, um sie als Paradies zu erkennen. Auf der anderen Seite sind es die menschlichen Handlungen wie die Rettung des Jungen unter Opferung der eigenen Gesundheit, die Isolation Sylvia Citys um die Mitbewohner zu retten und schließlich die konsequente Akzeptanz des Außenseiters nicht aufgrund seiner Persönlichkeit, sondern seiner Handlungen, welche aus der vorliegenden kompakt geschriebenen Kurzgeschichte ein mitreißendes, nachdenklich stimmendes, exotisches und doch vertrautes Drama machen. 

 "Ossuary" by Ian Muneshwar ist auch eine Art Schöpfungsgeschichte.  Ein intelligentes Raumschiff, dessen Aufgabe es eigentlich ist, alte Schiffe zu demontieren, entschließt sich, aus den Teilen ein gänzlich neues Raumschiff zusammenzubauen. Die Menschen sehen diese Vermenschlichung inklusiv des Zeugung neuen Schiffslebens skeptisch und schließen die künstliche Intelligenz kurz. Erst die Begegnung mit einer Art Raumschildkröte und der Erschaffung eines Hybrids befreit die künstliche Intelligenz. Sehr kompakt beschrieben wird die Handlung fast ausschließlich durch Beschreibungen voran getrieben. Als Konzept für eine Novelle wird sehr viel Potential „liegen“ gelassen. Aber auch ohne die Nutzung menschlicher dreidimensionaler Charaktere erschafft Ian Muneshwar vor allem in der ersten Hälfte der Geschichte eine zugängliche „Kreatur“, die menschlicher ist als viele der natürlich Geborenen.

 „Clarkesworld“ ist auch immer wieder dafür bekannt, dass sie nicht in Englisch ursprünglich publizierte Geschichten übersetzen. Neben Ken Liu ist es in dieser Ausgabe John Clute, der "Mrs. Griffin Prepares to Commit Suicide Tonight"  von A Que sehr emotional, sehr ansprechend und vielschichtige in Englische übersetzt hat. Viele Ideen verbinden sich auch mit „Ossuary“. Was definiert einen Menschen, was eine Maschine? Wenn am Ende sich der leidende Begleiter als Freund offenbart, wirkt die Pointe vielleicht ein wenig zu kitschig, zu sehr konstruiert, aber angesichts der tragisch dunklen Zwischentöne insbesondere in der ersten, aus Rückblenden bestehenden Hälfte der Geschichte ist es nur folgerichtig, dass Q Que seiner gestraften und vom Leben gezeichneten Protagonisten einen Moment der Hoffnung gönnt. Mrs. Griffin möchte sterben. Ihr Roboter soll ihr dabei helfen, wobei sein Rat in erster Linie daraus besteht, ihr die Unwürdigkeit des Selbstmords in klinisch brutalen Bildern vor Augen zu führen. Sie hat ihren Vater verloren, als dieser ihrer Mutter ein ultimatives Geschenk machen wollte. Ihre Mutter ist zu den Kolonien ausgewandert und hat sie zurück gelassen. Ihre einzige Liebe ist früh an einer Krankheit verstorben. In einer nur rudimentär gezeichneten, aber jegliche Demokratie unterdrückenden sozialistisch orientierten Regierung will man ihr auch ihren mechanischen Begleiter anfänglich nehmen. Mit einer solide gezeichneten Hauptfigur, intensiv aber auch ein wenig emotional vorhersehbar verfassten Rückblenden sowie der zufrieden stellenden aber irgendwie auch passenden Auflösung eine solide, humanistische Science Fiction Geschichte, deren Potential wie auch die Würdigung an das Leben sich dem Leser erst beim Nachdenken und nicht unmittelbar beim Lesen erschließt.  Aus Korea kommt mit "An Evolutionary Myth" by Bo-Young Kim eine Science Fantasy Geschichte. Viele Legenden fließen ineinander, wenn ein Prinz vor dem Zorn des Kaisers fliehen muss, weil es nicht mehr regnet.   Die Furcht lähmt ihn, während sein Vater hingerichtet wird. Mit jeder Etappe seiner Flucht verändert er sich weiter, bis er am Ende ein mächtiger Drache ist. Ohne überzeugende Science Fiction Elemente aber für eine klassische Fantasy bis auf die unfreiwillige Quest zu wenig mystisch/ phantastisch präsentiert sich die kurzweilig zu lesende Story als ideale Mischung aus in erster Linie orientalischen Märchen und einer oberflächlichen ungewöhnlichen Evolutionsgeschichte, die in erster Linie unterhält, aber nicht belehrt. 

 Zu den Nachdrucken nicht nur aus einer 2009er Ausgabe von „Analog“, sondern auch einigen „Best Of“  gehört „Solace“ von James van Pelt. Aus der Vergangenheit wird in die ferne Zukunft der Überlebenskampf eines entschlossenen Mannes übertragen, der eine Mühle in einer unwirtlichen schneebedeckten Landschaft am Leben gehalten hat, während in der Zukunft die immer wieder aufwachende Protagonistin an Bord eines Generationenschiffes die Mission fortführen muss. Die beiden Ebenen/ Dramen überlappen sich weniger als das sie sich gegenseitig inspirieren. Der Mut des jeweiligen Individuums, durch ungewöhnliche Entscheidungen mutig quer zu denken und dadurch unmögliche Herausforderungen zu meistern ist vielleicht der entscheidende Aspekt dieser kurzen, aber lesenswerten Geschichte. “Tyche and the Ants” by Hannu Rajaniemi nimmt eine “Coming of Age” Prämisse in Kombination mit dem “Captain Future” Klischee – die Eltern verstecken ihre Tochter vor eher undefinierten Feinden und lassen sie im Gewahrsam einer künstlichen Intelligenz – zum Anlass, um eine phantasievolle, nicht immer abschließend erläuterte kurzweilige Jugendgeschichte zu erzählen. Die Erde mit ihren mechanischen Ameisen ist der falsche Ort. Nicht selten arbeitet der Finne mit Allegorien, die nicht selbst erklärend sind und versucht die einzelnen Parteien ausschließlich über sprachliche Bilder zu definieren. Mit dem Jade Hasen, den Mondleuten oder Chang dem Magier ist die „gute“ Seite märchenhaft definiert. Da Rajaniemi nicht nachhaltig definiert, ob Tyche ihre Abenteuer wirklich erlebt oder es  sich um einen Teil einer virtuellen Realität bzw. Irrealität handelt, muss der Fokus auf dem exotischen Hintergrund liegen, dessen Spielintensität für jedes Kind verführerisch ist. Negativ ist, dass diese Geschichte seit der Erstveröffentlichung in „Strange Worlds“ öfter in verschiedenen Anthologien nachgedruckt worden ist, so dass man sich manchmal wünscht, die Herausgeber würden nach älteren interessanten und unbekannteren, weniger schnell im Netz zu findenden Perlen suchen.

Das Titelbild von Julie Dillon ist ein Augenfang, auch wenn das eindrucksvolle Gemälde in keinem direkten Zusammenhang mit einer der Geschichten steht. Zusammenfassend wieder eine interessante, mit einem Fokus auf Science Fiction trotzdem vielschichtige Ausgabe dieses bislang immer noch im Hintergrund auf einem erstaunlichen Niveau „vor sich hin“ publizierenden Magazins, das nicht nur um Rückenwind zu erhalten, einen der großen Preise wie HUGO oder LOCUS Award längst verdient hätte.      

 

 

  • Taschenbuch: 130 Seiten
  • Verlag: Clarkesworld Magazine (5. Mai 2015)
  • Sprache: Englisch
  • ISBN-10: 0692441387
  • ISBN-13: 978-0692441381