Der Krieg, den keiner wollte

Der krieg, den keiner wollte, Rezension, Thomas Harbach
Paul Alfred Müller

In seinen utopisch technischen Romanen hat Paul Alfred Müller nicht selten globale Katastrophen fast ausschließlich aus der Perspektive einer Handvoll von Charakteren erzählt. Ihre Aktien und häufiger Reaktionen sollten dem Leser ein Bild des ganzen Geschehens geben. Diese Subjektivität nicht selten unterlegt mit einer nicht immer passenden Liebesgeschichte findet sich konzentriert und durch die Umstände sehr viel effektiver entwickelt im folgenden, ursprünglich als UTOPIA Grossband veröffentlichten Roman „Der Krieg, den keiner wollte“ aus dem Jahr 1961. In seinem Nachwort geht Heinz J. Galle auf die Idee der geschlossenen Gesellschaft, eines isolierten Handlungskreise ein, den Jean Paul Satre schon in den vierziger Jahren auf die Bühne brachte. Im Umkehrschluss ist allerdings Paul Alfred Müllers Werk eine interessante, am Ende leider nicht zu konsequente Extrapolation einer Reihe von Antikriegswerken, beginnend mit „Blumen wachsen im Himmel“ oder „Wir fanden Menschen“, die knappe zehn Jahre früher unter dem direkten Schock des Zweiten Weltkriegs veröffentlicht worden sind. Aber Paul Alfred Müllers Auseinandersetzung mit den einzelnen Schichten einer Gesellschaft in einer Extremsituation hat noch ein anderes, interessantes Vorbild. In den dreißiger Jahren erschienen in relativ kurzer Folge drei Bücher deutschsprachiger Autoren über den Untergang der „Titanic“ – Kellermanns „Das blaue Band“, Robert Prechtls „Titanensturz“ und schließlich von Felinaus „Titanic“ -, in denen angesichts der braunen Bedrohung exemplarisch am Ende der „Titanic“ als Synonym einer ganzen Epoche das Verhalten die unterschiedlichen Schichten untersucht wird. Das Aufeinandertreffen der verschiedenen sozialen Gruppen in einer Extremsituation und vor allem einem isolierten beengten Raum spielt Paul Alfred Müller ebenfalls durch. Neben den Arbeitern – sie halten die Maschinen am Laufen und scheinen eher gewerkschaftlich orientiert – und dem Chef – er besitzt den Bunker und fühlt sich deswegen als Versorger der eingeschlossenen Menschen – findet sich ein Mitglied der Kirche als auch der Politik, der sich als potentiell einziger überlebender amtierender Politiker als Rechtsnachfolger der deutschen Regierung fühlt.

Heinz J. Galle schreibt in seinem Nachwort, die anfängliche Vernichtung Magdeburgs mit einem russischen Staatssekretär in der Staat kann als innere Abrechnung mit dem nationalsozialistischen System verstanden werden, dass es Paul Alfred Müller verboten hat, in der Neuauflage eine deutsche Stadt bedrohen zu lassen. In den sechziger Jahren wird dieser Seitenhieb eher ins Leere führen. Aber einige Ideen sind insbesondere für die sechziger Jahre noch beklemmend real, zumal Paul Alfred Müller nicht das gegenseitige Misstrauen und Wettrüsten als Ausgangspunkt sieht, sondern einen bloßen Zufall – ein Vogel unterbricht einen Leitstrahl -, der schließlich die Vernichtung Mitteleuropas auslöst. Interessant ist weiterhin, dass Paul Alfred Müller nicht von einer globalen Vernichtung der Erde ausgeht, sondern die Idee eines Schutzschildes Deutschlands zwischen den beiden System mit bitterböser Brutalität extrapoliert. Immer wieder haben die Atomwaffengegner darauf hingewiesen, dass insbesondere Deutschland bei einem russisch- amerikanischen Konflikt zu einem Schlachtfeld werden könnte. Als die Atombomben jetzt innerhalb weniger Stunden Deutschland vernichten, befinden sich die angesprochenen „Überlebenden“ -  der Originaltitel des Buches hieß „Die Verworfenen“ – während eines Rundgangs im Bunker. Wie dunkel und nihilistisch der Ton des Romans ist, zeigt die intensive schockierende Beschreibung des langsamen Sterbens der außerhalb des Bunkers befindlichen Menschen. Wenn in einer späteren Szene der „Leichensud“ sogar durch die Dichtungen der Bunkertüren dringt und eine Expedition aufräumen muss, bleibt ein beklemmendes Gefühl zurück. Sich an den angesprochenen Antiutopien mit ihren dunklen Tönen orientierend hat der Unterhaltungsschriftsteller Paul Alfred Müller nicht zuletzt dank seines in diesem Buch passenden exzentrischen, an die Eilnachrichten der Presse erinnernden Stils seine intensivsten Szenen verfasst.

Die isolierte Gruppe braucht einige Zeit, um mit dem Schock fertig zu werden. Rettung wird nicht in absehbarer Zeit erfolgen. Kontakte mit einem anderen Bunker in Frankfurt zeigen, dass aufgrund der Vorsicht des Unternehmens ein Überleben möglich ist. In Frankfurt leben zweitausend Menschen eingeengt in einem Bunker ohne Lebensmittel oder Wasser.

Nach dem dramaturgisch sehr intensiven Auftakt befasst sich Paul Alfred Müller in seiner sozialkritischen Arbeit sehr viel intensiver mit den einzelnen Menschengruppen. Wie angedeutet wäre da das Proletariat, das die Maschinen am Laufen hält. In erster Linie pragmatisch orientiert werden sie sich mehr und mehr ihrer lebenswichtige Rolle bewusst. Zwar verzichtet Paul Alfred Müller gegen Ende des Buches auf die klassische und vielleicht auch klischeehafte Revolution von unten, aber die einzelnen Positionen werden gut herausgearbeitet. Ihnen gegenüber steht natürlich das Kapitel in Form des exzentrischen und polternden Chefs, der nicht nur seiner Sekretärin nachstellt, sondern seine Angestellten oder Arbeiter nach eigenen Gutdünken entlässt oder wieder einstellt. Immer die eigene Persönlichkeit in den Mittelpunkt des Geschehens stellend unterminiert Paul Alfred Müller aber auch die Idee des Selfmademannes, der mit Eigeninitiative und vor allem Mut das Wirtschaftswunder Deutschland angeschoben hat. Eine differenzierte Betrachtung dieser oberen Mittelschicht kann nicht stattfinden, da Paul Alfred Müller Extreme bracht. Mit der Politik und ihrer polemischen Hilflosigkeit rechnet der Autor sehr viel härter ab. Ein Schwätzer vor dem Herrn, weich und hilflos, immer opportunistisch auf den eigenen Ruf und die eigene Macht bedacht entlarvt er die Führung Deutschlands stellvertretend für einige andere Regierungen als Marionetten ihrer eigenen Egos. In der Krise überfordert und sobald das erste Licht am Horizont erscheint zumindest in der Theorie oben auf. Interessant wird es, wenn die Diskussionen sich in den Bereich der Religionen bewegen. Paul Alfred Müller unterscheidet zwischen Naturereignissen – was kann das Meer dafür, wenn sich Schiffe drauf bewegen ? – und göttlichen Herausforderungen. Dabei bleibt er erstaunlich oberflächlich, wobei zumindest die eingeschlossene Nonne als Krankenschwester ihren wichtigen Beitrag dazu leistet, dass die meisten Mitglieder der Gruppe eine Überlebenschance haben. Durch einen eingeschlossenen Professor wird sogar das „Hirn“ vertreten. Er verliert am Ende seinen Verstand, als die Realität und die Theorie nicht mehr zu vereinbaren sind. Das die Jugend eine Zukunft unter Opfern der Alten erhalten kann und muss, stellt Paul Alfred Müller im dunklen, aber nicht mehr so nihilistischen Schlussabschnitt des Romans unter Beweis. Wahrscheinlich wäre es für die sechziger Jahre im Vergleich zu den frühen fünfziger Jahren unerträglich gewesen, die Grundidee bis zum bitteren Ende durchzuziehen und nicht indirekt die Selbstverantwortung der Menschen – Alkohol oder Wasser – wieder an der längeren Leine geleitet in ihre Hände zu legen. Am Ende bietet Paul Alfred Müller in doppelter Hinsicht einen Kompromiss an. Hilfe kommt für Europa nicht von der politischen Ebene der USA, sondern von den entschlossenen Menschen, die kapitalistisch opportunistisch eingestellt die menschliche Komponente nicht gänzlich vernachlässigen. Das schlechte Gewissen insbesondere zweier Figuren wird abschließend entlastet, in dem die anderen Eingeschlossenen unwissend selbst über ihr Schicksal und damit auch ihre Gesundheit entschieden haben. Dreht man diese Prämisse um, muss deutlich herausgestellt werden, dass kaum eine der anderen Figuren ein Überleben verdient hätte. Zu egoistisch, zu wenig solidarisch haben sie sich gezeigt und ihre kleinen Machtspiele haben ihre egozentrischen Charaktere stellvertretend für ihre Klassen nachhaltig entlarvt. Trotzdem versucht Paul Alfred Müller in seiner typischen Art – auch in seinen Katastrophenromanen gibt es kein dunkles Ende,  sondern die Menschheit erhält eine zweite Chance – die Schockwirkung der ersten Seiten zu relativieren und zumindest einen Hoffnungsschimmer anzudeuten.

Ebenfalls interessant ist, dass im Gegensatz zu den in nicht näher bezeichneten Ländern spielenden Romanen wie „Wir fanden Menschen“ oder „Blumen wachsen im Himmel“ oder den amerikanischen Gegenentwürfen wie „On the Beach“ mit ihrer globalen Vernichtung sich Paul Alfred Müller auf Deutschland konzentriert und die gerade vom Unternehmer Polle mehrfach betonte Wichtigkeit des neuen westlichen Deutschlands als Drehscheibe in Europa sadistisch unterminiert. In „Der Krieg, den keiner wollte“ kritisiert Paul Alfred Müller  auch eher die emotionslos entscheidenden Verteidigungssysteme als Vorgriff auf Kubricks Satire „Dr. Seltsam oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben“, denen gegenüber selbst die Politiker wie der amerikanischen Präsident oder der russische Premierminister gegenüber hilflos sind, als die entschlossenen Militärs. Es ist ein interessantes, wieder aktuell werdendes Buch, das in seinen drastischen Beschreibungen der Auswirkungen eines selbst regional begrenzten Atomkrieges nachdenklich stimmt und erschüttert. Die liebevolle Neuauflage von Dieter von Reeken und Heinz Galle beginnend mit dem interessanten Titelbild, der Reproduktion der Originalbilder und dem interessanten Nachwort ist eine wichtige Ergänzung von Paul Alfred Müllers umfangreichen, sich eher auf Serien wie „Jan Mayen“, „Sun Koh“ oder „Kommissar X“ konzentrierenden Unterhaltungswerkes.     

Neuausgabe des erstmals und nur einmal 1961/62 erschienenen Romans
Broschüre, 185 Seiten, 12 Abbildungen, mit einem Nachwort von Heinz J. Galle

Verlag Dieter von Reeken -    ISBN 978-3-940679-99-4