Clarkesworld 105

Neil Clarke (HRSG)

In seinem Vorwort "Editor's Desk: Once Again Down the Rabbit Hole" geht Herausgeber Neil Clarke auf Statisken ein. Überdurchschnittlich viele Frauen als Autoren, weil deren Themen besser zu seinem Magazin passen. Jüngere Leser als bei anderen Magazinen, eine andere Einkommensverteilung und die Lesegewohnheiten sind überall gleich. So interessant diese Informationen auch sein mögen, viel wichtiger ist, dass „Clarkesworld“ seine Kunden findet und trotz aller künstlerischen Aspekte seiner Linie treu bleibt. Neil Clarke argumentiert allerdings auch aus einer verzerrten Perspektive, da der Leser anfänglich den Eindruck hat, als interessieren ihn diese Daten nicht wirklich. Als kämen sie von außen.   


E. Catherine Tobler eröffnet mit "Somewhere I Have Never Traveled (Third Sound Remix)" die Ausgabe.
Es ist ohne Frage eine surrealistische, lyrische, aber auch an Lems “Solaris” erinnernde Geschichte. In einem typischen futuristischen Arbeitermilieu – sie hat 12 Jahre im Orbit des Jupiters auf einer Station gearbeitet, die flüssiges Helium abbaut  - spielend beschreibt die Autorin die mögliche, aber nicht expliziert herausgearbeitete Begegnung mit einer außerirdischen Intelligenz, die wie eine Sirene aus dem Helium nach der Protagonistin ruft. Vasquez leidet unter Traumvisionen, welche ihre Kollegen als Überarbeitung abtun. Stilistisch ansprechend geschrieben verweigert die Autorin abschließende Antworten und überlässt es ihren Lesern, die Fragen selbst zu stellen. Diese umgekehrte Herangehensweise an den Plot ermöglicht es, die teilweise sehr kompakt vorgetragenen Facetten der Handlung besser zu erfassen. Auch wenn die verführerischen Beschreibungen des ewigen Nebels über dem Jupiter einen starken, lyrischen Kontrast zur harten Arbeit bei der Heliumförderung bilden, ist die ganze Geschichte trotz oder vielleicht auch unabhängig von einigen bekannten Ideen lesenswert. Wie unterschiedlich First Contact Geschichten sein können, zeigt „This Wanderer, in the Dark of the Year" von Kris Millering ist eine sehr dunkle, sehr brutale Geschichte über einen Kriegsreporter, der von einem Deutschen in Ungarn auf einem weiteren Auftrag entführt wird. In Ungarn ist anscheinend ein Raumschiff mit einer außerirdischen Lebensform abgestürzt. Bevor die Behörden das Schiff weiter untersuchen können, werden die Wissenschaftler ermordet und die fremde Kreatur entführt. Als Allegorie versucht die Autorin zu zeigen, wie anpassungsfähig meistens im Leid die Menschen wirklich sind. Als Kriegsreporterin gilt das im besonderen Maße für die Protagonisten, wobei die Entführung in diesem Fall von zu langer Hand geplant wäre. Bei den Zwischenschnitten auf das „friedliche“ Leben zwischen den Einsätzen wird deutlich, dass Audra kein normales Leben mehr hat. Der Leser verfolgt das Ende ihrer Beziehung zu ihrer Freundin – ob die lesbische Affinität hinsichtlich der Verschmelzung mit dem Fremden hilfreich ist, wird nicht weiter diskutiert – genauso wie die aufkommende, erste von Schmerzen begleitete Annäherung an das Fremde.   Das Ende wirkt zu fragmentarisch. Es werden auch keine Antworten angeboten, sondern der Weg des einfachsten Widerstands in Richtung weitere Gewalt gewählt. Zwei Kreaturen, die von unterschiedlichen Kriegen gebrandmarkt, in einer teilweise auch emotional interessant geschriebenen Liebesgeschichte zueinander finden und eine neue Beziehung miteinander eingehen könnten. Atmosphärisch sehr dunkle und teilweise unangenehm brutal wird das Leid der unschuldigen Opfer dieser Kriege genauso beschrieben wie die dunklen Machenschaften opportunistischer Geschäftsleute. Auch die Kontaktaufnahme selbst ist ausgesprochen originell beschrieben. Nur ein waidwunder Mensch kann anscheinend mit dieser Kreatur kommunizieren. Ein Höhepunkt dieser Ausgabe.      

 Die dritte First Contact Geschichte dieser Nummer ist "Forestspirit, Forestspirit" aus der Feder Bogi Takács. Eine ökologisch belehrender den Leser zum aktiven Handeln animierender Plot um einen Jungen, der im Wald auf einen künstlich erzeugten Gestaltwandler trifft, dessen Bestimmung das Führen von Partisanenkriegen ist. In dieser Hinsicht kann die Kreatur mit Kris Millerings Schöpfung verglichen werden.  Aus seinem Wald heraus beobachtet der Gestaltwandler Gabi die Menschen, die im Wald Pilze sammeln. Ein Junge begegnet ihm und berichtet ihm von der bevorstehenden Vernichtung des Waldes durch die Computerprogramme der menschlichen Siedlungen. Im Kampf gegen die Vernichtung der Natur erkennen sie nicht nur Gemeinsamkeiten, sie kommen sich natürlich näher. Viele Aspekte dieser Geschichte sind ungewöhnlich. So sind die Gegner keine kapitalistischen Opportunisten und obwohl es sich bei der fremden Intelligenz um das Geschöpf des Krieges handelt, ist Gewalt von Beginn an ausgeschlossen. Sie versuchen den Computerprogrammen beizubringen, was Tiere und was Pflanzen sind. Ihre Bestimmung und vor allem auch, dass die Tiere über eine gewisse Grundintelligenz verfügen. Jedes Klischee umschiffend präsentiert der Autor mit ungarischen Wurzeln eine interessante Variation, wie man einen überlegenen Gegner überzeugen und nicht ausschalten kann. Auf den ersten Blick wirkt die Auflösung allerdings auch pragmatisch, aber Takacs unterstellt einer künstlichen Intelligenz eine deutlich weniger von Emotionen denn Logik gesteuerte Lernfähigkeit, welche der nicht kindlich kitschige beschriebene Junge und die interessante fremdartige und doch zugänglich beschriebene Kreatur ausnutzen können.  
"Asymptotic" von Andy Dudak ist eine eher herausfordernde Geschichte. Nhuane ist ein Offizer in einer Art Schuldeneintreiberbüro, das Menschen für Verletzungen der Raumzeit bestraft. Durch seine Rassenzugehörigkeit zu den Fey ist Nuhane ein perfektes Wesen für lange Raumflüge. Interessant ist, dass er selbst immer wieder wie ein Süchtiger die Raumzeit verletzt, also das Verbrechen begeht, für das er andere bestrafen will. Als er einen großen Haifisch zu jagen beginnt, zerfällt seine bisherige Welt. Die große Schwierigkeit aufgrund der sprunghaften Erzählstruktur ist, mit der Hauptfigur warm zu werden. Die unterschiedlichen Aspekte – die Weite des Alls, die klaustrophobische Angst des Protagonisten – werden sehr gut, wenn auch weder geradlinig noch immer auf den ersten Blick erkennbar im Rahmen einer nicht stringenten Erzählung ausgebreitet. Bevor der Leser wirklich mit den Figuren warm geworden ist, dringen die seltsamen, zum Ende dominierenden und teilweise zu stark ablenkenden Ideen überambitioniert und nicht immer konsequent zu Ende gedacht in den Handlungsbogen ein und versuchen die schon schwierige Situation noch zu komplizieren. Nur sporadisch wird die Vergangenheit der Feys auch in Hinblick auf die eigenen Säuberungen angerissen. Alleine dieser Aspekt hätte eine eigene Kurzgeschichte verdient, so dass sehr viel zu oft in der Luft hängen bleibt.
Die Länge einer Novelle hätte dem Plot gutgetan.   

Neben vier neuen Geschichten präsentiert jede Ausgabe von “Clarkesworld” zwei Nachdrucke, die es mit Novellenlängen in sich haben. Aus dem Jahr 1994 stammt Terry Bissons „The Hole in the Hole“, während Caitlin R. Kiernans „Riding the White Bull“ acht Jahre jünger ist und aus dem „Argosy“ Magazin stammt. Bei Bisson muss der Leser wissen, dass einer der Protagonisten Wilson Wu in mehreren der früheren Arbeiten des Amerikaners  auftaucht. Wie es sich für Terry Bissons so wundervoll bizarre Geschichten gehört, entwickelt sich aus einer Alltagsituation heraus eine phantastische Reise, an deren Ende die Protagonisten nicht unbedingt weiser, aber um Erfahrungen reicher sind. Die Jagd nach seltenen Volvo Ersatzteilen führt von einem aus Stephen King Country stammenden Schrottplatz direkt auf den Mond, wo die beiden Protagonisten ein sehr seltenes Fahrzeug bergen und für eine Millionen Dollar auf der Erde verkaufen wollen. Wie viele Wu Geschichten verzichtet Bisson auf umständliche Erklärungen und verblüfft/ verwirrt den Leser in dieser warmherzig geschriebenen Novelle mit absurden mathematischen Formeln, bei denen jede Veränderung eine gigantische Abweichung bedeuten könnte. Vom schwer verhandelnden, kapitalistischen Schrottplatzhändler über den naiven Freund – ein Rechtsanwalt, der momentan seine eigene Scheidung bearbeitet  - bis zum opportunistischen, stets optimistischen Wu sind es die dreidimensionalen Figuren, die vor der wie eingangs erwähnt fast surrealistisch erscheinenden Idee so überzeugend agieren.

In den Bereich des phantastischen Hardboiled reicht „Riding the White Bull“, in dem ein psychisch begabter Detektiv ein wirklich fremdartiges Alien jagt, das wiederum mehr über die Vergangenheit des Jägers weiß als es vielleicht gut ist. In der kompakt geschriebenen kürzeren Novelle zeichnet Caitlin R. Kiernan die Protagonisten trotz aller Fremdartigkeit zugänglich und dreidimensional menschlich nach. Kieran präsentiert ein befriedigendes, aber nicht unbedingt überraschendes Ende.  Die beiden nachgedruckten Geschichten stammen auch aus “Year´s Best” Anthologien, so dass der eine oder andere Leser sie schon in verschiedenen Inkarnationen gelesen haben könnte. Aufgrund der verflossenen Zeit sind sie aber die Wiederveröffentlichung wert. 

Bei den Artikeln ragt  "Another Word: The Vaguely Picaresque Adventure of a New Writer"  von John Chu heraus. Er berichtet über seine Erfahrungen mit einer persönlichen Zweitübersetzung aus dem Chinesischen eines Romans, den Ken Liu in den Westen gebracht hat. Um sich selbst zu testen und ein Gefühl für die Sprache zu erhalten hat John Chu dieses umfangreiche Unternehmen erfolgreich gestaltet. Es folgten weitere Aufträge. Trotz des interessanten Inhalts fehlt das Fazit, denn wie zu Beginn scheint der Text nur aus Anekdoten und Erinnerungen zu bestehen.  Vor allem ist der Inhalt in der heutigen Gesellschaft zu optimistisch. Mach das, was Dir Freude bereitet gut und Du wirst auf jeden Fall die Früchte ernten. John Chu hatte das richtige Händchen, an den richtigen Orten mit den entscheidenden Menschen sprechen zu können – auf einer Reihe von sehr unterschiedlichen Cons -, so dass sich sein Traum vom professionellen Autor und Übersetzer erfüllte. 

Exzentrischer ist aber ohne Frage “ The Day-Glo Dystopia of Poly Styrene: Punk Prophet and Science Fiction Priestess”, in dem e s um die Science Fiction Elemente und vor allem Querverweise im Werk der früh verstorbenen Sängerin Poly Styrene und ihrer Band „X- Ray Spex“ geht. Der Autor greift in das dunkle Zeitalter der Disco zurück, analysiert ein wenig für eine junge Lesergeneration – siehe die Einführung dieser Ausgabe – befremdlich nicht nur die Musikrichtung, sondern hebt die einzelnen Querverweise auf erstaunlich bekannte Science Fiction Werke souverän heraus. Ein sehr unbekanntes Thema souverän bearbeitet, auch wenn im Vergleich zu den Erlebnissen einen Hobbyübersetzers die persönliche Komponente ein wenig verloren gegangen ist und eine emotionale Beziehung zu der heute eher nur Fans bekannten Sängerin nicht aufgebaut werden kann.

Das Interview mit Robert Charles Wilson besticht durch den Informationsfluss auf beiden Seiten. Die Fragen sind gut auf den Autoren und seine Themen abgestimmt, auch wenn immer wieder bei aus Sicht des Interviewers unbefriedigenden Antworten belehrend erscheinende Nachfragen kommen. Da viele von seinen ungewöhnlichen Romanen in den letzten Jahren vor allem im Heyne Verlag veröffentlicht worden sind, ist dieses Interview insbesondere auch für deutsche Leser sehr interessant.  

Mit einem auffälligen Titelbild versehen präsentiert diese Nummer von „Clarkesworld“ im Vergleich zu den letzten Ausgaben sehr viel mehr bodenständige Texte, die dem Genre bekannte thematische Ideen auf eine sehr unterhaltsame, aber vor allem experimentelle und innovative Art und Weise erstaunlich frisch erzählen.  

 

 

  • Taschenbuch: 132 Seiten
  • Verlag: Clarkesworld Magazine (5. Juni 2015)
  • Sprache: Englisch
  • ISBN-10: 0692461469
  • ISBN-13: 978-0692461464