Clarkesworld 106

Clarkesworld 106, Rezension, Thomas Harbach
Neil Clarke (Hrsg)

Gleich zu Beginn berichtet der Herausgeber von seinen guten – „Clarkesworld“ ist dort geboren worden – und weniger guten – er hatte einen Herzinfarkt –  Erlebnissen  auf der jährlich stattfindenden „Readerscon“ in den USA. Ein semiprofessioneller Event, bei dem Fans viele Autoren in einer angenehmen persönlichen Atmosphäre begrüßen können. Mit mehr als zehn Jahren Erfahrung als Herausgeber eines der wichtigsten Magazine der zweiten Reihe erweitert „Clarkesworld“ sein Spektrum jetzt um Novellen, die mehr als die bisherigen achttausend Wörter umfassen können.  In der Kolumne „Another Voice“ gibt es ironisch überzeichnet die entsprechenden Ratschläge zum Verhalten auf und um Cons herum.

 Sean J. Millers Satire „ When your Child strays from God“ ist eine Auseinandersetzung mit der bigotten schweigenden Mehrheit, die sich den verbrämten Theorien religiöser Menschen unterworfen haben und damit gleichzeitig ihren Verstand ablegten. Auf der Suche nach ihrem verschwundenen Sohn nutzt die Protagonisten eine neuartige Droge, welche wie ein Spinnennetz den Verstand der die Drogen nehmenden Teilnehmer miteinander verbindet. Auf ihrer Reise lernt sie sich selbst kennen, sieht wie falsch sie ihren Sohn und dessen Traum eingeschätzt hat und muss erkennen, dass sie die Chancen ihres Lebens für die eigene Sicherheit weg geworfen hat. Solide geschrieben mit gut gezeichneten Figuren, aber ohne in die Tiefe gehend unterhält die Geschichte, wobei die Science Fiction Elemente nicht notwendig gewesen wären.  Der Titel weist allerdings darauf hin, das es besser wäre, den falsch interpretierten Wege der Prediger nicht zu folgen.   In einer ähnliche Richtung zielt „Android Whores can´t cry“ von Natalia Theodoridou. Während auf der einen Ebene die politischen Umwälzungen einer futuristischen Gesellschaft impliziert werden, geht es auf der emotional persönlichen Ebene weniger wie sich herausstellt um die Abrechnung mit der Ex- Frau mittels einer perfekten humanoiden Prostituierten, sondern um eine persönliche Beziehung gegenüber der Erzählerin. Zum ambitioniert dargestellt, zu wenig nuanciert und vor allem zu wenig differenziert schleppt sich die Geschichte der Pointe entgegen, bevor das nicht überraschende Ende weniger die Handlung auf den Kopf stellt, sondern in das intellektuelle Serienkillergenre abrutscht.

 Eine der dunkelsten Geschichten dieser Ausgabe ist „Further North“ aus der Feder Kay Chronisters. Zwei Geschwister aus der Türkei leben in der Zone des ewigen Eises, weil sie der Meinung sind, dass die Schwester eine Seuche in sich trägt, welche die Ziegenzucht in der Heimat umgebracht hat. Als die Wahrheit ans Licht kommt, zeigt sich, dass die Entfremdung von der Familie größer ist als insbesondere der Erzähler gedacht hat. Die phantastischen Elemente sind spärlich eingesetzt und dienen eher pragmatisch dazu, das komplizierte, emotional ansprechende Beziehungsgeflecht zwischen den verschiedenen Generationen zu beleuchten.

 Die zwei Nachdrucke stammen aus den Federn von Adam Roberts und Keith Brooke. Insbesondere Keith Brooke hat einige Ideen aus seiner 2006 veröffentlichten längeren Kurzgeschichte "The Accord" zu einem gleichnamigen Roman ausgebaut.  Aus unterschiedlichen  Perspektiven beginnend mit einer klassischen, aber vielleicht auch klischeehaften Liebesgeschichte beschreibt Brooke die Möglichkeiten und vielleicht auch die Gefahren, sich in einer virtuellen Realität als eine Art "Gott" präsentieren zu wollen. Dabei könnte der erste, am besten geschriebene Teil der Kurzgeschichte auch auf einer fremden Welt spielen, die trotz der faszinierenden Umgebung und der Möglichkeiten der modernen Raumfahrt auf eine interstellare Seefahrerromantik mit Kneipen und Liebe auf den ersten Blick setzt. Erst später werden aus "The Matrix" bekannte Bilder genauso eingesetzt wie eine Hommage an Tidhars "An Occupation by Angels" oder andere tiefreligiöse Geschichten, die aber im Umkehrschluss am Ende in diese mechanische und damit auch emotional distanzierte Zukunft eingepasst werden. Neben dem melancholischen, am Rande desm Kitsches absichtlich entlanglaufenden Stils sind es die kraftvollen, aber nicht immer in sich originellen sprachlichen Bilder, welche den ganzen Text aus der Masse ähnlicher Spätcyberpunkgeschichten heraushebt. Adam Roberts „Hair“ ist eine Satire über die unheilige Allianz von Kapital und Religion. Im Joseph Conrad Stil ist es eine Geschichte vom Verrat – obwohl die Grundlage einer Freundschaft fehlt – und die Suche nach einer neuen, eher breit angelegten Religion mit offensichtlich Cyberpunk Anarchie und der Möglichkeit, über den „dummen“ Geist die Welt zu beherrschen, während die Konglomerate mit ihren alten, in diesem Fall überholten Mitteln versuchen, das Unheil zu stoppen und gleichzeitig die eigenen Pfründe zu sichern. Solide geschrieben mit einigen eher oberflächlichen Spitzen leidet die vom Titel her verwirrende Story unter den eindimensionalen, absolut pragmatisch charakterisierten Figuren und einem Handlungsbogen, der zu kurzfristig entworfen worden ist und deswegen das globale Bild nicht gänzlich zufrieden stellend einfängt.

 Zu den sekundärliterarischen Arbeiten gehört neben dem inzwischen zu einem festen Bestandteil gewordenen Interviews mit verschiedenen Autoren auch ein wissenschaftlicher Artikel. Dieses Mal wird auf den Planeten mit den unterschiedlichsten Oberflächen – nicht umsonst Feuer und Eis genannt – eingegangen. Routiniert und ohne belehrenden Unterton geschrieben. Es werden zwei Interviews angeboten, wobei der chinesische Autor Pan Haitian mit seiner Geschichte „Hunger Tower“ gleichzeitig auch sein Debüt im englischsprachigen Raum gibt. Haitian spricht über die Arbeit an verschiedenen SF und Fantasy Magazinen in China, über die Entwicklung des Genres in seinem Land und die Tatsache, dass chinesische Literatur unabhängig von seiner Umgebung immer chinesisch bleiben wird. Sehr viel umfangreicher und interessanter ist das lange Gespräch mit Kim Stanley Robinson, in dem er nicht nur auf seinen bislang nicht auf deutsch veröffentlichten Generationenraumschiff Roman eingeht, sondern sehr viel intensiver auf seine Vorgehensweise beim Konzipieren der Romane, auf den literarischen Einfluss von Virginia Woolf oder seine Arbeitsweise im Allgemeinen schaut. Neben den gut durchdachten und vor allem von Hintergrundwissen gefragten Fragen sind es die langen, ausführlichen und tiefe Einblick gebenden Antworten des Autoren, die aus diesem Gespräch nicht nur einen der Höhepunkte dieser Ausgabe, sondern der „Clarkesworld“ Reihe machen.    

 

http://clarkesworldmagazine.com/

  • Taschenbuch: 148 Seiten
  • Verlag: Clarkesworld Magazine (1. Juli 2015)
  • Sprache: Englisch
  • ISBN-10: 069248051X
  • ISBN-13: 978-0692480519