Um die indische Kaiserkrone

Robert Kraft

Robert Kraft zweiter Kolportageromane "Um die indische Kaiserkrone" erschien 1895. Auch wenn der Untertitel "Erlebnisse eines Deutschen im Land der Wunder" eher an die Geschichten Karl Mays erinnert, legt der Autor sein Panorama sehr viel breiter als der Sachse an. Deutsche spielen auch eine Rolle, aber nicht umsonst beginnt Robert Kraft seine Geschichte in London und lässt sie auch dort nach knapp viertausend Seiten verteilt je nach Auflage auf vier oder fünf Bände enden. Mit dem Aufstand der Inder 1857 gegen die britischen Besatzungstruppen beschäftigten sich vor Robert Kraft schon zwei andere, heute noch bekanntere Autoren. Sir John Retcliffe verfasste acht Jahre nach dem Ereignisse "Nena Sahib oder die Empörung in Indien" und Jules Verne bearbeitete die Thematik in seinem Buch "Der Stahlelefant". In Vernes Buch geht es allerdings um eine klassische Rachegeschichte. Oberst Munro macht die Reise durch Indien an Bord des stählernen Elefanten, den der englische Ingenieur Bank für den indischen Maharadscha bauen ließ, nur mit, um sich an dem indischen Aufrührer zu rächen, der seine Frau getötet hat. Robert Kraft geht einen Schritt weiter, in dem er seine von Mythen durchdrungene Familiengeschichte viele Jahre vorher ansiedelte und die weit verzweigten Protagonisten auf der Suche nach einem Verräter, dessen Ruf geläutert werden muss, nach Indien schickte.

Wie in seinen anderen Werken hat Robert Kraft immer verschiedene Genres miteinander verbunden. Das wird in dem dynamischen und stimmungstechnisch verzaubernden Auftakt überdeutlich. Ein indischer Magier hält sich in London auf. Er wird gegen eine horrende Summe zu einer privaten abendlichen Vorführung in gehobener Gesellschaft eingeladen. Als letzten Trick zaubert er die Tochter der Gastgeber weg und hinterlässt einen fast gleichaltrigen indischen Jungen. Danach verschwindet der Zauberer und wird anscheinend einige Tage später aufgefunden. Im Gefängnis verschluckt er seine Zunge und begeht auf diese Art und Weise Selbstmord. Es gibt auch Hinweise, dass jemand anders für diesen Abend seine Identität übernommen und der Austausch der Kinder von langer Hand vorbereitet worden ist.  Die Ehefrau des Gastgebers verliert ihren Verstand und beginnt das Kind als das eigene anzusehen. Der Vater wird durch eine mysteriöse Botschaft verwirrt. In siebzehn Jahren soll er seine Tochter wiedersehen und der ihm anvertraute Knabe seinen Namen nennen können. Als der Ehemann/ Vater wenige Wochen später nach Indien mit Geheimbotschaften geschickt wird, scheint sich das Schicksal endgültig gegen ihn zu verschwören. Der britische Offizier verschwindet spurlos und die Botschaften könnten in die Hände der immer stärker rebellierenden indischen Kräfte gefallen sein. In diesen Botschaften bestätigen die britischen Oberbefehlshaber einen Truppenabbau in Indien.

Mit einer für den Kolportageroman so typischen wie auch klischeehaften Begegnung schließt der erste Band, in dem über sechshundert Seiten das Szenario aufgebaut wird, das den Leser durch die folgenden drei Abschnitte der Handlung begleiten soll. Siebzehn Jahre sind seit den beschriebenen Ereignissen vergangen. Die Ehefrau ist langsam wieder zu Verstand gekommen und beschließt den um sie werbenden Vertrauten der Familie zu heiraten, als am Tag der Hochzeit der ebenfalls verschwundene Diener ausgezerrt in die Zeremonie Platz und von seinem Schicksal berichtet. Zusammen mit seinem Herren ist er nicht ums Leben gekommen. Er wurde von den Thags gefangen genommen. Als sie sich weigerten, von ihren Befehlen zu berichten, hat der Anführer der Rebellen Nena Sahib befohlen, die beiden in den Höhlen der Thags verrotten zu lassen. Sie sollen alle niederen Arbeiten übernehmen und schließlich dort sterben. Dem Diener gelingt die Flucht. Die Hochzeitspläne sind geplatzt und in dieser Nacht offenbart auch der Knabe seine Identität. Da ihr Ehemann nicht zum Verräter geworden ist, sucht eine kleine Gruppe von Reisenden,  zu denen neben der engsten Familie auch der deutsche Lehrer und Übersetzer von Reichenfels gehört, nach dem Verschwundenen in Indien, um ihn aus der Hand der Thags zu befreien. Im gleichen Augenblick beginnt Nena Sahib angestachelt von einem britischen Intriganten und Erzschurken des ganzen Buches seinen Aufstand gegen die britischen Besatzungstruppen. Als sich herausstellt, dass in der kleinen Gruppe der zukünftige Kaiser von Indien - eine fiktive Idee, die Robert Kraft alten deutschen Sagen folgend ein wenig zu übertrieben in die Handlung eingebaut hat, mitreist, ist das Leben der Europäer gefährdet.

Wie schon angesprochen spielt die Geschichte vor einem historischen Hintergrund. Nana Sahib fließt als Figur in mehrere Personen der Geschichte ein. Nena Sahib galt als Sohn eines Brahmanen und Adoptivsohns des letzten Peshwa der Marathen. Die Idee des Adoptivsohns mit einer geheimnisvollen Vergangenheit wird dem indischen Findelkind zugeschoben und leitet die ganze Geschichte ein. Dadurch erfährt der Leser mehr über den exotischen Hintergrund dieser ansonsten eher unscheinbar und eindimensional funktionell gezeichneten Figur. Nena Sahib schickt nach Einstellung der Pensionszahlungen der britisch Ostindischen Kompanie Botschafter nach Großbritannien, um seinen Fall zu erläutern. Die Klage wurde abgewiesen. In Robert Krafts Geschichte ist der indische Einfluss im aristokratischen wie arroganten Großbritannien greifbar. Indien ist sozial und gesellschaftlich schick. Im Gegensatz zu Krafts Epos, das in Nena Sahib einen Ränkeschmied sieht, der seit einer halben Generation die Befreiung Indiens und die Etablierung einer neuen Ordnung unter seiner egomanischen Herrschaft plante, übernahm Nena Sahib während des Sepoy Aufstandes eher zufällig das Kommando.

Nach dem Sieg gegen die überforderten britischen Truppen ließ Sahib alle Europäer - insbesondere Frauen und Kinder - töten. Diese Exzesse erspart Robert Kraft seinen Lesern und ersetzt diese historischen Grausamkeiten durch die Geschichte eines europäischen Verräters, der Nena Sahib hinter den Kulissen geschickt durch das Fälschen wichtiger Dokumente unterstützt. In weiten Abschnitten des Romans handelt es sich bei dieser Figur um eine charismatische wie britische Persönlichkeit, deren Ziele und Motive eher ambivalent von Kraft dargestellt worden sind. Es wird nicht eindeutig klar, ob seine Interessen über das Ausleben sadistischer Neigungen hinaus eher in einer zukünftig wieder verstärkten militärischen Präsenz und damit der Sicherung seiner persönlichen Handelsinteressen gelegen haben. Wie einige andere Kolportageromane Robert Krafts leidet "Um die indische Kaiserkrone" unter der Notwendigkeit, den Stoff auf der einen Seite bildhaft in abgeschlossenen Episoden zu präsentieren, auf der anderen Seite aus kommerziellen Gründen die Leser möglichst lange auch über die ursprünglich veranlagte Heftanzahl hinaus bei der Stange zu halten. Im vorliegenden Band zeigen sich diese konzeptionellen Schwächen in einem zu ausführlichen, sich in exotischen Details angereichert um eine für die damalige Zeit explizierte sexuelle Gewalt - die Thags führen regelmäßig Orgien teilweise mit Menschenopfern durch - verlierenden Mittelteil, der das Tempo insbesondere des ersten die Protagonisten zusammenführenden Teils nicht mehr erreicht.  

Im Vergleich zu Krafts späteren Romanen, in denen er sich sehr viel ambivalenter und neutraler mit dem Buddhismus – siehe „Sonnenkinder“ – auseinandersetzte, erscheinen einige Passagen des vorliegenden Buches dem Zeitgeist gemäß rassistisch. So wird eine jüdische Familie von allen Seiten diffamiert und unterdrückt. Die schöne Tochter ist Freiwild und die Abschiebung/ Tötung des Vaters in Indien wirkt wie ein Vorgriff auf die Schrecken, die noch kommen sollten. Auch die Inder sind eitel, verschlagen, hinterhältig und bringen nicht das rechte Verständnis für die britischen Unterdrücker auf, die ihre Herrschaft mit rabiaten Mitteln und eitler Arroganz durchzusetzen suchen. Einzig der Vorzeigedeutsche aus ärmsten, aber stolzen Verhältnissen kommend, sein potentieller Erbe zu Gunsten seiner vom eigenen Vater nicht geliebten Ehefrau ausschlagend wirkt in diesem von zahllosen Figuren dominierten Roman wie ein intellektueller und eher passiver Held. Um ihn herum gibt es mit dem heroischen, sich selbst opfernden und für einen Briten aus der Sicht eines deutschen, aber international aufgewachsenen Schriftstellers eine Überfigur, die im ersten Band abwesend über allem schwebt, im Mittelteil lange gesucht wird und schließlich aktiv in die Kämpfe eingreifen kann. Die Frauenfiguren sind entweder Heilige oder Hure. Die Heiligen sind die Ehefrauen und jungfräulich schmachtenden jungen Mädchen, die auf den Irrwegen der Liebe insbesondere dieses Romans schließlich am Ende ihr Glück finden. Die Huren sind in erster Linie Inderinnen. Entweder nehmen sie freiwillig oder gezwungen an den Orgien der Thags teil oder sie verführen die teilweise unbedarften europäischen Männer. Sie strahlen eine für die damalige Zeit provokante offensive Erotik aus. Insbesondere im Vergleich zu den Originalfassungen der ersten Kolportageromane eines Karl Mays ist Krafts Epos deutlich erotischer und spricht die Sinne seiner Leser intensiver an.            

Zusätzlich macht es Robert Kraft Spaß, mehrmals Figuren sterben zu lassen – entweder erfährt es der Leser wie beim in Indien verschollenen britischen Offizier nur indirekt oder er ist auf Augenhöhe wie bei der Hinrichtung des Deutschen dabei, ohne das er alle wichtigen Fakten erkennen kann -, um sie im relevanten, aber auch ein wenig überstürzt niedergeschriebenen Schlußviertel wieder auferstehen zu lassen. Selbst bei 3800 Seiten Umfang wirkt das mehrfache Zurückgreifen auf bekannte und selbst im 19. Jahrhundert eher klischeehafte literarische Tricks eher wie ein Eingeständnis, unter starkem Termindruck möglichst Spannendes zu produzieren. Trotzdem verfügt „Um die indische Kaiserkrone“ über eine Reihe von dramatischen und auch dramaturgisch sehr gut geschriebenen Szenen. Das beginnt bei der ersten Aufführung, reicht über die an Phantastik erinnernden sehr unterschiedlichen Vorhersagen insbesondere verschiedener Frauen über die Traumsequenzen schließlich zu den Schlachtenszenen, in denen Kraft ohne ins grausame Detail zu gehen die Brutalität dieses Befreiungskampfes und dessen schreckliche Auswirkungen in einfache Worte fasst.    

Ohne Frage ist „Um die indische Krone“ durch die Länge des Textes und die Mischung aus gehobener Erzählung sowie Slang Dialogen, das variable aber nicht selten zu gedehnte Tempo und den Zeithorizont von über siebzehn Jahren, der durch eine Zwischenüberschrift überbrückt wird, eine gewöhnungsbedürftige Lektüre. Der Leser muss nicht nur Geduld aufbringen, sondern sich stärker als in den Texten eines Karl Mays, eines Jules Vernes oder eines H.G. Wells in die Welt des Kolportageromans mit seinen teilweise mehr als hundert Einzelheften hineindenken, die eine einzige Geschichte und nicht wie die Heftromane viele Geschichten in einem Handlungsstrang erzählen. Da werden Informationen mittels persönlicher Berichte oder sprunghaften Rückblenden nachgereicht. In anderen Kapiteln neue Figuren eingeführt, deren Bedeutung der Leser für die Handlung erst hunderte von Seiten im positiven Fall erkennen kann. Aber auch mancher roter Faden verschwindet im handlungstechnischen Dschungel auf Nimmerwiedersehen und fällt bei der schriftstellerischen Fließbandarbeit einfach unter den Tisch. Im Vergleich zu Krafts deutlich phantastischerem und teilweise sehr viel kürzerem Spätwerk wird „Um die indische Kaiserkrone“ in erster Linie Leser ansprechen, welche den „Nena Sahib“ Konflikt aus einer heute eher unbekannten literarischen Warte verfolgen möchten. Es ist ein historischer Roman mit eher implizierten phantastischen Elementen, die in erster Linie im Aberglauben der Europäer begründet sind, vom Autoren aber sehr gut mit fundierten Hintergrundwissen der indischen Kultur geschickt relativiert werden.     

 

  • Format: Kindle Edition
  • Dateigröße: 3377 KB
  • Verlag: Jazzybee Verlag (13. Dezember 2012)
  • ca. 3800 Seiten
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