Clarkesworld 108 - September 2015

Neil Clarkes, Clarkesworld 108, Rezension, Thomas Harbach
Neil Clarke (Hrsg)

In seinem Vorwort geht der Herausgeber auf die Bedeutungslosigkeit von Kurzgeschichten Rezensionen ein. Alleine der Amazon Seite gesteht er eine Bedeutung hinsichtlich der Vermarktung der Kurzgeschichte zu. Das stärkt auf der einen Seite den Einfluss der Herausgebers der „Year´s Best“ Anthologien, die alleine über die Positionierung der einzelnen Texte hinsichtlich des HUGO oder NEBULA Awards , auf der anderen Seite schlägt der Herausgeber einem Teil seiner Leserschaft auch ins Gesicht, denn die Rezension ist auch ein Teil ihrer Meinungsäußerung, die persönlich gefärbt trotzdem aufgrund der gebrachten Argumente auch erstaunlich objektiv sein kann. Mit „On Sunshine and Shadows“ wird ein anderes Thema angerissen. In Florida im Schatten des Weltprogramms aufwachsen und doch sozial die Schattenseite der amerikanischen Gesellschaft kennen zu lernen, in denen die SF Literatur im wahrsten Sinne des Wortes eine Fluchtmöglichkeit darstellte. Humorvoll, pointiert, autobiographisch geschrieben wird der Kreis dann um die kleine Zahl von Kurzgeschichten und Romanen erweitert, in denen Florida nicht nur aus der persönlichen Sicht der Autoren im futuristisch sozialen Mittelpunkt steht.  Zu den beiden Nachdrucken gehört Tom Purdoms längere Kurzgeschichte „Canary Land“, in der es um das Schicksal eines asiatischen Musikers geht, der auf den Mond ausgewandert ist.

Anfänglich hält er sich mit der Untersuchung von genetisch gezüchteten Tieren in isolierten Habitaten über Wasser. Tom Purdon unterteilt seine Geschichte im Grunde in zweit Hälften, die ehr spärlich miteinander verbunden sind. Während der erste Teil der Geschichte ein typisches Spannungsszenario präsentiert, unterstreicht der deutlich eleganter angelegte zweite Teil die Suche nach der eigenen Bestimmung selbst in einer fremden Umgebung. Sympathische, dreidimensionale, aber weder exzentrische noch auffällige Figuren unterstreichen dieses Auswandererdrama, das ohne Probleme auch auf der Erde in der Gegenwart oder Vergangenheit spielen könnte. Es sind die leisen Töne, die „Canary Land“ zu einer lesenswerten Geschichte machen.  

Una McCormacks „Sea Change“ beinhaltet eine Reihe von brisanten Themen, die ohne Frage den Rahmen nicht nur einer Kurzgeschichte, sondern leider aufgrund des zu offenen Ende die Fähigkeiten des Autoren sprengen. Zu offen, zu frustrierend jegliche Antwort negierend beschreibt er die wachsenden „Qualen“ einer Oberschicht in einer Gesellschaft, die ihre natürlichen Resourcen aufgebraucht hat. Die handelnden Protagonisten sind insbesondere im Vergleich zu einigen anderen Texten dieser Sammlung eindimensional und allerhöchstens pragmatisch agierend beschrieben worden, während der Plot sich dahin schleppt. Auch wenn der Text in einer von Dozois „Year´s Best“ Sammlung 2007 nachgedruckt worden ist, lassen die beiden Nachdrucke in dieser „Clarkesworld“ Ausgabe zu viele Wünsche offen, als das sie letzt endlich überzeugen können.

 Die Originaltexte sind deutlich stärker und gleichen diese Schwäche über weite Strecken der vorliegenden Ausgabe sehr gut aus. Robert Reed beweist zum wiederholten Male, dass er persönliche emotionale Erlebnisse mit pseudowissenschaftlichen Ideen ausgezeichnet kombinieren kann. „Cremulator“ ist lange Zeit eine typische Liebesgeschichte vom schwärmenden Teenager und der schönen Lehrerin, die früh und tragisch ums Leben gekommen ist. Das phantastische Element sind verbrannte menschliche Reste und Zähne, die immer wieder aus einem seltsame gefärbten Himmel auf die Erde regnen. Erst im Verlaufe der Geschichte nicht unbedingt durch die kontinuierliche Ich- Erzählerperspektive begünstigt wird von Robert Reed der Hintergrund fast sadistisch erweitert, die Subjektivität verändert und eine mögliche Pointe präsentiert, die allerdings kritisch gesprochen insbesondere in den letzten Jahren unter anderem von Robert J. Sawyer bis Stephen Baxter in der Länge von Romanen nachhaltiger untersucht worden sind. Alleine die anfängliche melancholische Stimmung bestehend aus Jugenderinnerungen und den nur bedingt unschuldigen siebziger Jahren zieht den Leser in den Bann.   

 „Loving Grace“ aus der Feder Erica L. Satifkas greift eine interessante Idee der gegenwärtigen zweiten industriellen Revolution auf. Statt auf demokratischen Wegen weiter fort zu wandeln und sich zu entwickeln, entsteht eine neue Art der Diktatur, in welcher insbesondere die Ex- Ehefrauen sich in das gegenwärtige Leben der Männer nicht nur einmischen, sondern mit einem Federstrich Leben vernichten können. Ein dunkler Unterton mit sehr gut gezeichneten Protagonisten in Kombination mit einer geschickten Extrapolation klar ersichtlicher gegenwärtiger negative Tendenzen der nicht mehr sozialen Marktwirtschaft

 Bao Shuns „Preserve her Memory“ ist nicht nur ein weiteres Beispiel für die interessanten chinesischen Science Fiction Geschichten, die in erster Linie mit Versatzstücken des Genres hervorragend operieren, sondern fügt der Idee der kompletten Erinnerungsaufzeichnung eine bittersüße, rückblickend originelle Komponente hinzu. Eine attraktive und berühmte Schauspielerin begeht anscheinend Selbstmord. Als ihre Erinnerungen analysiert werden, scheint auch die Idee eines Mordes in Frage zu kommen. Nur ist die Polizei weniger auf der Suche nach einem Täter, sondern verstrickt sich in einem komplizierten, komplexen und doch zynischen Racheplan. Alleine der Hintergrund mit dem interessanten Regisseur und der unsicheren, aber reichen Schauspielerin wird vielen Fans des Hongkong Kinos aus den neunziger Jahren sehr bekannt vorkamen. Hinzu kommen einige zusätzliche futuristische Ideen, die einem Philip K. Dick zur Ehre geraten, so dass die ganze Geschichte ausgesprochen kurzweilig zu lesen ist. Auch „The Occidental Bride“ von Benjanum Sriduangkaew verfügt über einige eher im Hintergrund sich abspielende Ereignisse, die für eine Novelle, wenn nicht sogar einen Roman ausreichen. Die Welt – wahrscheinlich mit dem Zentrum in Europa – hat sich verändert. Die Protagonistin wird gezwungen, einen Architekten dieser wahrscheinlich biologischen Katastrophe zu heiraten, um als Undercover Agent nach den anderen Tätern zu suchen. Auch wenn der grundlegende kriminalistische Aspekte teilweise sehr bemüht wirkt und die Vorgehensweise der Protagonisten nicht immer nachvollziehbar ist, versucht der Autor eine Gesellschaft zu etablieren, in welcher es vor allem gleichgeschlechtliche Ehen gibt, auch wenn dieser Hintergrund nicht überzeugend erläutert oder auch nur etabliert worden ist. Vor allem wirken die erste drei/ vier kurzen Absätze zu bemüht, zu sehr konstruiert, um verzweifelt Stimmung zu erzeugen, das sich der ganze Plot davon im Grunde nicht mehr erholt. Egal wie sehr „The Occidental Bride“ über einige aus europäischer Sicht diskussionswürdige Hintergründe verfügt, es wird zu viel Potential angesichts des positiv durchaus vorhandenen sehr interessanten Stoffes verschenkt. „The Algebra of Events“ aus der Feder Elizabeth Bournes nimmt die alte Idee der Invasion durch Aliens auf und verzerrt die Perspektive. Es ist nicht die erste Geschichte, die aus Sicht der Fremden und möglichen Missverständnissen in den Tiefen des Alls erzählt worden ist. Aber es ist eine der wenigen nicht nur inhaltlichen herausfordernden Storys, sondern die absichtliche Veränderung von Klischees und daraus resultierend eine Manipulation der Erwartungshaltung der Leser, wobei teilweise Elizabeth Bourne zu bemüht vorgeht, um falsche unnötige Wege zu legen. Am Ende wirkt die Auflösung ein wenig belehrend, auch wenn der Pfeil nur in diese eine Richtung fliegen konnte. Stilistisch ansprechend bis überambitioniert ist es eine der wenigen, in den Tiefen des Alls spielenden Geschichten in „Clarkesworld“.  

 Im wissenschaftlichen Bereich geht es um die nächste Stufe der „DNA“ Sequenzen, aus denen sich viele bisher unbekannte Informationen hinsichtlich des Erbgutes ablesen lassen. Das Interview mit Seth Dickinson ist eine zwiespältige Angelegenheit. Der Autor einer noch im „Werden“ begriffenen Fantasy- Trilogie sowie einigen Kurzgeschichten und einem SF- Roman antwortet auf die leider teilweise zu stereotypen Fragen nicht nur ausführlich und vor allem hinsichtlich der Motive erschöpfend, er liefert eine Reihe von interessanten Ansätzen, auf welche der Interviewer leider zu wenig und wenn dann zu unkritisch reflektierend eingeht. Es ist schade,  dass dieses Interview insbesondere im Vergleich zu den „Gesprächen“ der letzten Ausgaben so deutlich abfällt.   

Zusammenfassend eine wieder gut inhaltlich in sich abgewogene Ausgabe des „Online“ Magazins, wobei nicht zum ersten mal der chinesische Beitrag aus den „amerikanischen“ oder im vorliegenden Fall der einen aus der Feder eines Briten stammenden Geschichten herausragt.