Europe in Autumn

Europe in Autumn, David Hutchison, Rezension, Thomas Harbach
Dave Hutchinson

Als Dave Hutchison den jetzt ersten Band einer „Near Future“ Serie „Europe in Autumn“ Anfang 2014 präsentierte, wirkte sein in Kleinstaaten zerfallenes, das Schengen Abkommen ignorierendes Europa wie eine klassische Dystopie. Inzwischen holt die Wirklichkeit mit der Flüchtlingsproblematik seine dunkle, wie eine Mischung aus John le Carre und Franz Kafka erscheinende Vision ein und droht sie sogar zu überholen. Der Nationalismus ist nach Europa zurückgekehrt. Solange sich Hutchisons mit seinem Koch/ Kurier Rudi in dieser dunklen Prämisse bewegt, ist „Europe in Autumn“ ein überdurchschnittliches Buch. Leider fällt er gegen Ende in die Muster zurück, die nicht nur Philip K. Dick in „The Man in the High Castle“ sondern auch „Elleander Morning“ auf eine vergleichbare Weise etabliert haben. Hutchison hat in den achtziger Jahren eine Reihe von Kurzgeschichten publiziert, bevor er mit verschiedenen phantastischen Romanen klassische Science Fiction Themen wie auch Fantasy umfassend auf die literarische Bühne zurückgekehrt ist. Vor allem die Grundidee des „Boten“ in einem zerstückelten, sich isolierenden, paranoiden Europas erinnert an Thomas Pynchons „Die Versteigerung von No. 49“. Wie schon angedeutet hat sich der Autor vielleicht für den Inhalt zu früh entschieden, den vorliegenden Roman zu einer Serie auszubauen, so dass ein fatalistisches, nicht unbedingt optimistisches, aber viel zu offenes Ende den Leser nicht gänzlich zufriedenstellt. Zu viele Figuren und zusätzlich zu viele Fragen hinsichtlich einer unkontrollierten und vor allem auch in der paranoiden Gegenwart unkontrollierbaren „Zone“ bleiben in der Luft hängen. bzw offen. Angesichts der teilweise liebevollen Zeichnung der Protagonisten, Hutchisons Geschichtswissen und vor allem den leicht erkennbaren Seitenhieben auf die Alternativweltliteratur eine spürbare Enttäuschung.   

Hutchisons Europa ist in Kleinststaaten verfallen. Absurd und surrealistisch wird seine Geschichte, wenn sich selbst die Bewohner eines städtischen Parks unabhängig erklären. Auch wenn immer wieder darauf hingewiesen wird, scheint es in diesem Vielstaatenkomplex so etwas wie eine funktionierende Wirtschaft zu geben. Eine Schattenwirtschaft. Als Allegorie erscheint der Bau einer transkontinentalen Eisenbahn von Portugals Küsten bis zum Ural. Kaum ist der Lindwurm fertig, erklärt er sich für unabhängig, bildet zusammen mit den einzelnen Bahnhöfen einen eigenständigen Staat und ermöglicht es den Bürgern im Grunde, den Kontinent mit zwei Passkontrollen zu überqueren. Auslöser für diese Isolation könnte neben dem ökonomischen Kollaps auch eine Pandemie gewesen sein. In diesen Punkten bleibt der Autor bewusst vage und erhöht zumindest was den dreidimensionalen Hintergrund angeht die Spannung. Auch wenn immer wieder von den ehemaligen Habsburgern,  den Erben des Zaren oder verschiedenen anderen eher monopolistisch organisierten Staaten gesprochen wird, bleiben die Herrscher im Dunkeln und viele politische Ränkespiele brechen nicht auf den einfachen Mann herunter. Vieles wirkt wie bei Kafka wie das Labyrinth, das die Menschen nicht nur einsperrt, sondern ihren Geist vernebelt. Der Autor braucht diesen Hintergrund, um eine neue Gattung von Dienstleistern zu etablieren, die in einer perfekten Welt der Überwachung anachronistisch und modern zu gleich erscheinen. In diesem Punkt wendet sich Hutchison von Kafka ab und John le Carre zu. Seine Spione in einem kontinuierlichen Krieg gegen ambivalent gezeichnete Mächte und Interessengruppen sind so weit weg wie James Bond von einer friedlichen Koexistenz. Sie kämpfen auf ihren gefährlichen, ihnen unbekannten Missionen nicht selten angetrieben von verbrecherischen Organisationen um ihr Leben und Überleben. Politik ist eine Machtausübung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner, was die vorliegende Geschichte vor allem mit einem anfänglich unscheinbaren Antihelden so lesenswert, so dreidimensional und vor allem trotz der Kälte auch so warmherzig erscheinen lässt.

Rudi ist ein Koch aus Estland. Erst später erfährt man, wie er sich über die Lust am Kochen die polnische Sprache beigebracht hat. Inzwischen arbeitet er in Krakau. Eines Tages übernimmt er einen Gefallen für einen lokalen Mafiaboss. Er soll ins benachbarte Hindenburg reisen und dort einige Codewörter austauschen. Schnell findet Rudi Gefallen an den gut bezahlten Aufträgen und er wird Mitglied der „Les Coureurs des Bois“, einer weiteren Organisation innerhalb einer großen „Familie“, die im Schatten agierender nicht nur Botschaften, sondern aus Schriftstücke oder Geld über die zahllosen Grenzen transportieren. So sieht sie Rudi als Nachfolger der literarischen Spione des 20. Jahrhunderts. Hutchison bleibt bei seinen Beschreibungen auch sehr nahe an den verschiedenen Spionageromanen der Ära und versucht sie als selbstbestimmte Organisation zu beschreiben. Im Laufe einiger Jahre wird Rudi immer erfahrener. Ihn zeichnet ein Instinkt aus, der ihn später zweimal bei einer extrem gefährlichen, aber rückblickend die phantastische Handlungsebene in Gang setzenden Aktion das Leben rettet.  Dabei verzichtet der Autor wie bei seinem Europa auf Geradlinigkeit. Rudi wird erst in seinem rückblickend wahren Element beschrieben. Der Küche in einem eher schäbigen Restaurant, in dem er von der alten Köchin das Handwerk auf die harte Art und Weise gelernt hat. Wie in seiner Jugend sorgen diese Stahlbäder dafür, dass er überleben kann. Fragmentarisch erfährt der Leser vor allem sehr viel mehr über Rudi in dem Augenblick, in dem er die Identität eines Toten angenommen hat, um sich vor seinen Verfolgern zu schützen.

Diese indirekte Art der Information der Leser durchzieht den Roman wie ein roter Faden. Nicht selten unterbricht der Autor den eher ruhigen, aber atmosphärisch erdrückend dichten Handlungsaufbau, um die Geschichte seines Europas zu zelebrieren und nicht selten verbal die Unterschiede zum dem Leser bekannten Kontinent herauszuarbeiten. Aber wie die Titel suggeriert, liegt dieses Europa im Sterben. Der Herbst mit einer zusammengebrochenen Ökonomie, fehlender neutraler staatlicher Ordnung und vor allem eine Art politischer Struktur hat Einzug gehalten. Auch wenn Hutchisons Völkerwanderung aus den armen Gegenständen des europäischen Ostens gekommen ist, sind die Vergleiche erschreckend aktuell. Interessant, wenn auch nicht ganz befriedigend ist, dass der Autor dieses surrealistische Bild eines zerfallenden Europas zusammengehalten nur noch von der transkontinentalen Eisenbahn, die wie in „Snowpiercer“ zu einem eigenständigen Wesen geworden ist, zu Gunsten vom mehr und mehr im Mittelpunkt stehenden Rudi aufgibt. Aus dem schüchternen Jungen ist ein Mann geworden, der über Erfahrung, aber kein Selbstvertrauen verfügt. Auch wenn er viele Jahre ein erfolgreicher Kurier ist, kann er niemandem trauen. Diese paranoide, aber wahrscheinlich realistische Einstellung durchdringt den ganzen Roman und sorgt dafür, dass unabhängig von der konstruierten Sperrigkeit gegen Ende des Buches der Plot lesbar bleibt. Immer wieder sind es die kleinen Einfälle wie eine britische Grenzsicherung gegen alles, was aus Schottland kommen könnte und nichts gegen etwas, das Großbritannien verlassen möchte, die das Geschehen irreal, verrückt erscheinen lassen. Ohne Übertreibung, ohne Humor präsentiert der Autor diese verschiedenen Punkte ausgesprochen homogen und macht den für verschiedene Preise nominierten Roman über weite Strecken, aber leider nicht abschließend zu einem nachdenklich stimmenden Lesevergnügen. Vor allem weil sich der Autor auch positiv auf die Form seines Romans konzentriert. Die wenigen Actionszenen kommen nicht nur aus dem Nichts heraus, um die Gefährlichkeit der Kurier Missionen doppelt zu unterstreichen, nicht selten rettet sich der Antiheld nicht aus eigenem Antrieb aus ihnen, sondern wird von nicht einzuschätzenden Kräften „gerettet“, so dass er am Ende eher hilfloser erscheint als zu Beginn. Natürlich werden der politische Hintergrund und die einzigartige Atmosphäre dieser kleinen Schmelztiegel vor allem osteuropäischer Zweckgemeinschaften sehr detailliert und so kritisch offenherzig beschrieben, dass man die Menschen nicht nur voneinander unterscheiden, sondern sie vor allem hinsichtlich ihres alltäglichen Kampfes um das wirtschaftlichen Überleben respektieren muss. Dabei überschreitet der Autor niemals die Grenze zum zwangläufigen Mögen. Hinzu kommt eine sich langsam entwickelnde Hintergrundhandlung um das große Geheimnis, das eher enttäuscht und viel zu viele Auswege aus diesem dunklen wie verstörend betörenden Ort anbietet, die vielleicht zu lange auf sich warten lässt. Aber die minutiösen Beobachtungen, diese stilistische Mischung aus alternativer politischer Lehrstunde und bescheidenem Hardboiled Krimi fesselt auf den ersten zweihundertfünfzig Seiten so sehr, dass man Rudi/ Leo eher noch weitere Missionen wünscht als schließlich die Zonen zu öffnen. „Europe in Atumn“ ist ein ungewöhnlicher Science Fiction Roman mit vielen bizarren kleinen Hintergrundideen, die sich wie sein zerstückeltes Europa mit Gewalt zusammensetzen lassen und doch isoliert voneinander faszinierender sind.                 

 

  • Taschenbuch: 432 Seiten
  • Verlag: Solaris (28. Januar 2014)
  • Sprache: Englisch
  • ISBN-10: 1781081948
  • ISBN-13: 978-1781081945