Clarkesworld 111

Clakresworld 111, Titelbild, Rezension
Neil Clarke (Hrsg.)

Das Vorwort des Herausgebers Neil Clarkes ist der Jahreszeit angemessen. Ein Rückblick auf Cons, ein Ausblick auf kommende Aufgaben und einige Anmerkungen zum Zustand der Science Fiction Kurzgeschichte. Ohne oberflächlich ist das Interview zwischen dem Routinier Gene Wolfe und Kate Baker, die dessen Werk anfänglich rühmt und dann auf seinen neuen Roman inklusiv Hinweisen auf die Fortsetzung eingeht. Da es keine kritische Reflektion gibt, stehen Gene Wolfes Aussagen in einer Art Vakuum. Cat Rambo streift ein weiteres Feld in seinen Bemerkungen zum Lesen, zum Schreiben und den Klassikern. Aus der Vorinternetzeit kommend spricht Cat Rambo von ihren eigenen Lese Erfahrungen, die insbesondere der jungen Generation archaisch erscheinen könnten. Aber die Streifzüge durch die Bücherschränke der Eltern und die Büchereien haben die Sinne geschärfte und Opportunitäten erschaffen, die aus heutiger sofort greifbarer Sicht unglaublich erscheinen. Der stärkste Artikel dieser Ausgabe stammt von Jason Heller. Er geht auf den heute eher vergessenen Musiker Marc Bolan ein, der mit 29 Jahren durch einen Autounfall gestorben ist. Der Titel des lesenswerten und vor allem auch informativen Essays sagt im Grunde alles. „A Dance with Futuristic Dragons: The Science – Fantasy Glamour of Marc Bolan and T.Rex”. Heller stellt nicht nur den Künstler und seine Einflüße wie “Herr der Ringe” sehr ausführlich und sehr pointiert vor. Er geht auf die Persönlichkeit des extrovertierten Künstlers ein. Er zeigt die Wege auf, die sein Werk noch hätte nehmen können und stellt dessen Aussagen zu Lebzeiten in einen durchaus ambivalenten wie kritischen Kontext mit anderen Quellen und Zeitzeugen. Das Internet – damit schließt sich der Kreis zu Cat Rambo – ermöglicht es den Lesern, mittels Videoaufzeichnungen und weiteren Interviews Marc Bolan quasi künstlerisch lebendig zu machen und sich selbst einen tiefer gehenden Eindruck zu geben. Die Ansätze sind alle in diesem kurzweilig zu lesenden Essay vorhanden.

 Die Nachdrucke sind zwei aus unterschiedlichen Gründen eindrucksvolle längere Texte, von denen Walter Jon Williams „Daddy´s World“ 1999 auch mit dem Nebula Award ausgezeichnet worden ist. Ein kleiner Junge scheint in einer paradiesischen Welt aufzuwachen, in der alles nach den Bonbonländern der amerikanischen Unterhaltungsindustrie ausschaut. Seine Familie besucht ihn regelmäßig. Alles scheint zeitlos zu sein, bis seine anfänglich kleinere Schwester die Illusion zerstört. Aufgrund der Krankheit des Jungen haben die Eltern ihn dank zahlreicher Beziehungen als künstliche Intelligenz konserviert, bis laut den Planungen die Fortschritte im Klonen ausreichen, um ihn wieder menschlich zu machen. Allerdings gibt es nicht nur politische Widersprüche, welche das Projekt zum Stillstand gebracht haben. Wie David Keyes Klassiker aus den fünfziger Jahren entwickelt Walter Jon Williams nicht nur überzeugende, zutiefst menschliche Figuren, sondern verblüfft den Leser mit einer ausgesprochen tiefschichtigen, philosophischen Geschichte, in der es um den Punkt geht, was einen Menschen noch auszeichnet. Ohne innere Dynamik, ohne Action,  alleine auf den familiären Zusammenhalt basierend gibt es bei Williams weder Täter noch Opfer. Der Ehrgeiz des Vaters, seinen Sohn zu retten, ist genauso anzuerkennen wie das Verschließen des Jungen gegenüber der Realität und das Finden einer eigenen Persönlichkeit in einer Zukunft, die durch einen Knopfdruck auf die Löschtaste im Grunde alles wieder auf einen unbestimmten Anfang stellen könnte. Die zweite Novelle „Technarion“ von Sean McCullen ist im Grunde eine Art Terminator des Steampunks. Der Ich- Erzähler ist ein junges mathematisches Genie, das nach London gerufen wird, um an einer seltsamen Maschine zu arbeiten. Das Technarion ist eine Art Zeitteleskop, mit dem die Unternehmer durch Einhalten verschiedener Formeln einen begrenzten Blick in die Zukunft erhaschen, den sie vor allem durch konkrete Aktienspekulationen für sich ausnutzen. Als eine junge Dame um eine Anstellung als Typpisten bittet, scheint das letzte Manko über eine passive Kontrolle der Zukunft aus dem Weg geräumt, nur müssen alle Menschen anscheinend ihren Preis für diese Art der Zukunft zahlen. Von  Beginn an durch den starken, dominierenden, aber auch sich entwickelnden Ich- Erzähler gut geformt entwickelt sich die Geschichte nicht nur durch den dreidimensionalen Hintergrund, sondern vor allem durch die wie bei einem Puzzle ineinander passenden Teile. Nach der Hälfte der Geschichte dreht sich der Plot und McCullen packt weitere, vielleicht zu viele Ideen in den Text. Tenor ist ohne Frage, das selbst aus der Zukunft indirekt kommend oder die weitere Ereignisse kennend nicht viel geändert werden kann. Egal wie sehr sich der Ich- Erzähler schließlich anstrengt. In diesem zweiten Teil stecken so viele Ideen, die wie McCullen „Seelen in der großen Maschine“ ohne Probleme zu einem interessanten und vor allem auch politisch vielschichtigen Roman ausgebaut werden könnten, um den originellen Plot deutlich besser und weiterhin so zynisch abzurunden. Ursprünglich ist diese Geschichte in zwei aufeinander folgenden Ausgaben des britischen „Interzone“ Magazins erschienen. Sie unterstreicht, das McCullen einer der interessanten, modern denkenden und den Steampunk nicht nur als Spielwiese nutzenden Science Fiction Autoren ist und ohne Frage gehören „Technarion“ wie auch „Daddy´s World“ zu den besten Nachdrucken, die „Clarkesworld“ in 2015 präsentiert hat.

 Liu Cixin ist ein regelmäßiger Gast in den „Clarkesworld“ Ausgaben. Nicht selten beschreibt er in seinen doppeldeutigen, intelligenten Geschichten ganze Leben. Aus „Yuanyuan´s Bubble“ gehört zu diesen Novellen. Die kleine Yuanyuan liebt es, Seifenblasen herzustellen. Ihre Mutter arbeitet an einem Bewässerungsprojekt und kommt dabei aufgrund der alten antiquierten Technik ums Leben. Sie entwickelt gigantische perfekte Seifenblasen und als sie ihrem Vater ein Geschenk zu seinem Geburtstag macht, kommt dem Bürgermeister einer inzwischen durch die Trockenheit evakuierten Provinzstadt eine Idee. In einem sehr getragenen, durchaus politisch nicht immer unkritischen Stil beschreibt Cixin das Leben eines klassischen Außenseiters, der eine im Grunde absurde Idee – gigantische perfekte Seifenblasen – gegen alle Widerstände weiterentwickelt. Erst im Umkehrschluss zeigt sich, wie wichtige diese Idee für ein modernes China sein könnte, das unter seiner Umweltzerstörung leidet. Dem Autoren gelingt es dabei immer wieder, dreidimensionale Figuren zu entwickeln, menschliche Schicksale intensiv ohne Kitsch zu beschreiben und das innere Zusammengehörigkeitsgefühl der Familie teilweise über den Tod hinaus zu beschreiben.

Tamsyn Muers „Union“ ist eine der schwächeren Geschichten dieser Ausgabe. Das liegt weniger an dem Plot – Siedler auf einem unwirtlichen Planeten oder nur einer abgelegenen Ortschaft .- züchten nicht nur Kühe und bauen dank der genetischen Forschung auf ihren Feldern an, auch ihre Frauen scheinen gezüchtet, dem Boden entnommen und später wieder für die nächste Aussaat dem Boden zurück gegeben worden zu sein. Ohne die Figuren nachhaltig zu entwickeln und dem Plot vor allem ausreichend Dynamik zu schenken bleiben viele Zusammenhänge eher oberflächlich, so dass ein Gefühle der Distanz den stringenten, aber nicht unbedingt effektiv geschriebenen Text bestimmt.  

Die kürzeste Geschichte dieser Ausgabe ist Cassandra Kahns „When We Die on Mars“. Auch wenn die in Singapur lebende Autorin einen thematischen Klassiker der Science Fiction – das Terraforming des Mars – in Angriff genommen hat, zeigt sie auf wenigen Seiten eine gänzlich neue Facette zu diesem Thema. Aus Hunderten von Freiwilligen werden schließlich zwölf Menschen herausgefiltert, die auf einer Einbahnstraßenmission den Mars anfliegen und rudimentär mit dem Terraforming beginnen sollen. Ohne in die Tiefe zu gehen stellt die Autorin die wichtigsten Protagonisten über ihre Handlungen und Träume, ihre Hoffnungen und Ängste vor. Wenn das Raumschiff schließlich startet, hat sich eine neue Familie gefunden. Emotional ansprechend ohne kitschig zu sein beschreibt sie die inneren Konflikte zwischen Pflichterfüllung und Privatleben mit überzeugend gezeichneten Figuren.

Die längste Geschichte von Seth Dickinson „Morrigan in Shadow“ lebt eher von ihren Ambitionen als der literarischen Umsetzung. Es ist die Fortsetzung zu „Morrigan in the Sunglare“. Es ist nicht unbedingt notwendig, diesen ersten Teil zu kennen, aber es hilft ein wenig, sich an Dickinson aufgesetzt erscheinenden experimentellen Stil zu gewöhnen. Der Plot selbst ist eine ambitionierte Space Opera mit ausreichend Konfliktpotential, überdimensionalen Helden und Schurken sowie der einsetzenden Legendenbildung. Anstatt den Plot aber geradlinig und vor allem chronologisch zu erzählen versucht der Autor mittels der Kombination mit auf Augenhöhe beschriebenen Ereignissen, Vor- und Rückgriffen Spannung zu erzeugen, die aus der Handlung heraus sich entwickeln sollte. Diese Vorgehensweise wirkt anfänglich noch fesselnd, im Mittelteil allerdings sehr bemüht, wobei das dynamische Ende ein wenig das Konstrukt zu Gunsten einer fortlaufenden Handlung wieder auflösen kann. Zusammengefasst muss sich der Leser die eher oberflächliche „Moral“ in dieser Novelle erarbeiten, auch wenn die exzentrischen, überdimensionalen und vielleicht ein wenig zu ambivalent beschriebenen Protagonisten für diese Schwächen im Spannungsbogen ein wenig entschädigen.

Das überzeugende und schöne Titelbild von Peter Mohrbacher „Kokabiel, Angel of the Stars“ leitet eine zusammengefasst überzeugende, aber nicht herausragende „Clarkesworld“ Ausgabe ein, die vor allem bei den Nachdrucken einen überdurchschnittlichen Eindruck hinterlässt, während bei den neuen Kurzgeschichten sowohl Cixin und Khan als Vertreter asiatischer Science Fiction die angloamerikanischen Autoren zum wiederholten Male in den Schatten stellen.