Clarkesworld 115

Clarkesworld 115, Titelbild, Rezension
Neil Carke

In seinem Vorwort geht der Herausgeber auf die lange Beziehung zu seiner Frau ein, symbolisiert vor allem am Titelbild dieser Ausgabe.  Das Interview mit David Brin ist allerdings eine Enttäuschung. Zu wenige oberflächliche Fragen, zu viele ausweichende Antworten und vor allem keinen konkreten Anlass. Wer sich mit David Brins vielschichtigem Werk nicht auskennt, wird eher voller Fragezeichen zurückbleiben, als das er vielleicht eine seiner Kurzgeschichtensammlungen oder eines seiner Bücher antesten würde.  Margot Atwells "Another Word: Technology creates a New Golden Age of Speculative Fiction" geht auf die Veränderungen durch die Popularisierung der E- Book Reader sehr objektiv und vor allem sehr progressiv ein. Aus der Sicht der Herausgeberin in einem Kleinverlag geschrieben zeigt sie auf, welche positive Veränderungen vor allem für die kürzeren Texte bis zur Novellenlänge die Etablierung des E- Books hat. Der beste Artikel stammt nicht zum ersten Mal von Jason Heller. In "Silver Machine: Hawkwind´s Space Rock Journey throughout Science Fiction and Fantasy" geht der Autor auf die inzwischen mehr als 45 Jahre umfassende Geschichte dieser progressiven Rockband, ihre Themenalben, ihre Zusammenarbeit mit Moorcock sowie andere Musikgruppen ein, die immer wieder auf nicht nur klassische Science Fiction Themen in ihrem Werk zurück gegriffen haben. Alleine David Bowie wird schmerzlich vermisst und zeigt, dass Jason Heller vielleicht zu fokussiert an das interessante, ausbaufähige Thema heran gegangen ist. Um den Bogen zu Margot Atwells Essay zu schlagen. Das Internet ermöglicht eine Art Interaktion, in dem der Leser Jason Hellers Argumenten folgen und gleichzeitig viele der relevanten und expliziert genannten Musikstücke hören kann.

 Die beiden Nachdrucke "Old Friends" von Garth Nix und Elizabeth Hands "Winter´s Wife" vermischen mit ihren melancholischen Grundstimmen verschiedenen Mythen mit der gegenwart. Von Urban Fantasy zu sprechen, würde den Tenor der Geschichten zu sehr einschränken.  Garth Nixs todtrauriger Held, der fatalistisch sich gegen eine Bedrohung aus dem Meer stellt, gehört in den Bereich der klassischen Fantasy. Nix räumt seinem Protagonisten viel Zeit ein. Der Leser lernt ihn ohne seine Mission, seine versteckten Waffen und seiner Heroik kennen, ohne ihn wirklich einschätzen zu können. In dem Augenblick, in dem Schwung in die laufende Handlung kommt und die Charakterisierung in den Hintergrund tritt, füttert der Autor die Erwartungen des Publikums, bevor der Text sehr offen abbricht. Es sind die leisen zutiefst menschlichen Zwischentöne zu Beginn der Geschichte, welche "Old Friends" so ungewöhnlich, lesenswert und zeitlos erscheinen lassen. Kritisch gesprochen beinhaltet Elizabeth Hands Novelle wenige wirklich originelle Aspekte. Eine Coming of Age Geschichte, die Betrafung des Schurken und schließlich die Verbindung von nordischen Mythen mit der Umweltschutzthematik.  Der Leser weiß, wie der Plot verlaufen wird. Und trotzdem ist diese längere Arbeit eine der besten Geschichten dieser Sammlung. Am liebsten möchte der Leser wie die Charaktere der Zivilisation den Rücken kehren, in Holzhütten leben und von der Arbeit der eigenen Hände leben. Diese teilweise verklärte Romantik zeichnet sicherlich kein realistisches Bild der teilweise unwirtlichen Bedingungen während der Winter im nördlichen Maine und nicht jede Familie hat einen menschlichen Bär von Nachbarn, der ihnen über die ersten schwierigen Schritte hilft. Aus der Perspektive eines heranwachsenden Jungen, den seine Mutter absichtlich jenseits der Zivilisation aufzieht, wird die Freundschaft nicht nur zu dem seltsamen, aber warmherzigen Mann beschrieben, sondern seiner auch seiner zierlichen Frau, die er auf einem Wochentrip aus Island mitgebracht hat. Wenn Vala mit ihrem ersten Kind schwanger wird und ein neureicher Unternehmer auf dem Nachbargrundstück beginnt, die alten Eichen abzuholzen, kommt es zu einem Konflikt. Hand entwickelt eine faszinierende, fast mystisch märchenhafte Atmosphäre, in welcher die phantastischen Elemente spät, dann aber effektiv einsetzen. Es ist eine Rachegeschichte, getrieben von modernen ökologischen Ansätzen,  dreidimensionalen sehr menschlichen Charakteren und einem konsequenten, aber auch sehr zynischen Ende, das an die Grausamkeit der Märchen der Gebrüder Grimm erinnert. 

 Bei den Erstveröffentlichungen stehen drei Novellen einer Kurzgeschichte gegenüber. "The Cedar Grid" aus der Feder Sara Saabs ist leider eine konfuse Kurzgeschichte um einen außerirdischen Terroristen, der den kleinen Bruder des Protafgonisten auf der Erde tötet. Die Mutter zwingt ihren anderen Sohn dazu, quasi im Gedenken zur Erde zu reisen, wo er sich eher konstruiert verliebt. Die Reise scheint Teil seines auch innerlichen Genesungsprozesses zu sein, aber die Autorin packt die wichtigen Handlungspunkte nicht in einen umfangreicheren Rahmen, was der Text verdient hätte, sondern setzt sporadisch Glanzlichter, ohne den Hintergrund wirklich überzeugend zu extrapolieren. Die Leidensgeschichte des Protagonisten steht im Vordergrund, während hinter den Kulissen wichtigere Dinge ablaufen. Natürlich ist es schön, wenn jemand die menschlichen Schicksale ausführlich und auch emotional überzeugend darstellt, aber die Bindung zum politisch ohne Frage ausbaufähigen Szenario fehlt. Ebenfalls unter einem unwahrscheinlichen Ausgangsszenario leidet "The Bridge of Dreams" aus der Feder von Gregory Feeley. Der Autor verbindet die nordischen Mythen mit einem Science Ficton Hintergrund, wobei neben der sehr phlegmatischen, stilistisch überbetonten Plotentwicklung vor allem die physikalischen Grundlagen nicht stimmen. Eine Brücke zwischen Pluto und Charon kann der Leser noch akzeptieren, aber alleine die Idee der Kontaktaufnahmen nach Jahrtausenden des Schweigens wirkt bemüht. Gegen Ende verwischt Feeley wieder an Ansatz, die nordische Götterwelt mit einer klassischen Science Fiction Problematik einer untergehenden Welt zu verbinden und dringt nicht in die Tiefe ein. Anstatt die Handlung zu beenden, wird ausführlich und umständlich argumentiert, bevor der Handlungsbogen quasi im Nichts endet. Sich hinter den Schutzwall der mystischen Fantasy zurückziehen als wie bei der Urban Fantasy die Probleme offensiv anzugehen, ist der abschließende Sargnagel dieser enttäuschenden Novelle.

 Die beiden anderen humanistischen, sich mit "fremden" Leben auseinandersetzenden Novellen gleichen die Schwächen dieser beiden Enttäuschungen teilweise aus. „Touring with the Alien“ aus der Feder von Carolyn Ives Gilman nutzt dabei eine eher altbekannte Idee nicht immer auf eine wirklich originelle Art und Weise, die aber ohne Kitsch oder übertriebene Emotionen trotzdem berührt. Die Aliens haben die Erde besucht und hängen buchstäblich dort ab. Die junge Avery lebt von ungewöhnlichen Botenfahrten. Ihr Chef gibt er den Auftrag, mit einem der Außerirdischen und einem Übersetzer durch die USA auf eine besondere Sightseeing Tour zu gehen. Während die eigentliche Fahrt eher enttäuschend und wenig spektakulär bis zum melodramatischen Ende ist, sind es die gut geschriebenen, philosophischen, aber nicht belehrenden Dialoge zwischen den menschlichen Charakteren mit dem Alien stets im Hintergrund beobachtend, lernend, welche den Reiz dieser Novelle ausmachen.  Der Außerirdische sieht mit seinem Medium die Chance, menschlich zu werden. Es sind viele kleine Szenen wie die erste Begegnung mit gesalzenem Schinken, welche den Reiz ausmachen. Avery beginnt sich fast auf eine mütterliche Art und Weise in Lionel zu verlieben, ohne das die Autorin zu sehr auf Klischees zurückgreift. Die Diskussionen über die Wichtigkeit des bewusstes Lebens oder des unterbewussten Empfinden; die Auseinandersetzung mit dem menschlichen Gewissen als einem nicht planbaren Faktor   und schließlich die Auswirkungen der Fremden auf die Menschen machen den Reiz dieser sich ruhig entwickelnden Novelle aus. 

 Wieder von Ken Liu übersetzt ist „Balin“ eine dieser Novellen, die eher in den Zwischentönen überzeugen, auch wenn sie der Gattung melancholische Ich-kann-die-Zeit-nicht-zurückdrehen Geschichten angehört.  Obwohl er eigentlich einen Hund haben möchte, erhält der junge Peng einen „paoxiao“, einer dieser mystischen menschenähnlichen Kreaturen mit einer einzigartigen Fähigkeit der Mimikry.  Als Erwachsener erforscht er diese Gattung eher aus der Ferne, denn der Balin ist bei seinem Vater geblieben, der ihn schließlich aus Geldnot verkauft. Mit der Rückkehr des auf den ersten Blick aufmüpfigen Sohnes zu seinem schwerkranken sterbenden Vater und impliziert auch in die langweilige dörfliche Heimat schließt sich der Kreis. 

Während die phantastischen Elemente eher subtil angeboten worden sind und in einer ergreifenden Szene enden, ist es die soziale Veränderung innerhalb der chinesischen Gesellschaft, die von Beginn an den zwischenmenschlichen Handlungsverlauf bestimmt. Der Erzähler wehrt sich dagegen, dass sein Vater sein Leben bestimmt. Aber diese indirekte Grausamkeit auch gegenüber dem Balin ist nicht immer beabsichtigt, sondern wirkt wie eine klassische Gegenreaktion auf jede Aktion.  Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn ist schwierig. Da der Vater als Charakter nicht ausreichend genug gezeichnet worden ist, kann der Leser nicht erkennen, ob es wirklich Angst vor dem Einsamkeit ist oder Teil seines komplizierten Plans, doch die Nachfolge für das Teegeschäft zu sichern.  Es ist der stumme Balin, welcher mehr und mehr zum stummen Mittler nicht nur zwischen Vater und Sohn, sondern vor allem zwischen den unsympathischen Charakteren und dem Leser wird. Wenn als zusätzliches Science Fiction Element die virtuelle Realität eingeführt wird, verliert der Autor überambitioniert und nicht notwendig seine Leser. Zusammengefasst ist es aber in einigen Szenen eine ergreifende Geschichte, welche eher den Leser nachdenklich stimmt als das die schwierig zu mögenden Figuren sich weiter entwickeln. 

 Von den immerhin sechs teilweise längeren Geschichten können vier Texte auf unterschiedliche Art und Weise überzeugen. Auch wenn im Vergleich zur letzten „Clarkesworld“ sich kein roter Faden durch die Storys zieht, ist es eine solide Ausgabe, die ganz anders als das Titelbild erwarten lässt,  den Gedanken der Nächstenliebe sehr originell interpretiert.