Die Familie

Richard Laymon

Auf den ersten Blick hat Richard Laymons Roman "Die Familie" große Ähnlichkeit mit Neil Marshalls Debüt "The Descent". Nur das Laymons Roman fast eine halbe Generation früher veröffentlicht worden ist. Es ist weiterhin eines von nur zwei Büchern, die der Amerikaner unter einem Pseudonym - Richard Kelly - veröffentlicht hat. Der Ausgangsplot ist ein klassisches Szenario. Eine Gruppe von ungefähr dreißig Touristen entschlossen sich, von ihrem Hotel aus das Höhlenlabyrinth Mordock´s Cave zu besuchen. Während ihrer geführten Tour fällt durch ein Feuer die Stromversorgung für das direkt über den Höhlen gelegene Hotel aus. Auch der Strom auf den Wegen innerhalb des Höhlenlabyrinths ist davon betroffen. Die Touristen sind in doppelter Hinsicht gestrandet. Als die Tourführer durch einen bislang verschlossenen Tunnel brechen, befreien sie eine tödliche Gefahr: psychotische Kannibalen, die sich der Dunkelheit angepasst haben. Die Grundidee ist nicht neu. Jack Ketchum hat diese mit seinem in den dunklen Wäldnern lebenden Kannibalenstamm genauso verarbeitet wie im Grunde Tope Hopper in "The Texas Chainsaw Massacre" oder Joe Lansdale in einigen sehr frühen Geschichten. Man kann also nicht sagen, dass Laymon der Erste gewesen ist. Im Vergleich allerdings zu den angesprochenen Filmen und Geschichten versucht Laymon, seinen konzentrierten Plot deutlich zu erweitern. Auch wenn der Amerikaner in seinen Romanen sehr selten mit derartig vielen Figuren arbeitet, lockert er die Handlung durch zahlreiche Rückblenden auf. Im Laufe dieser Exkurse werden verschiedene, sehr unterschiedliche Figuren ausgesprochen überzeugend vorgestellt. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Menschen die Tour letzt endlich überleben werden oder nicht. Nicht selten sind es die tragischen Protagonisten mit ihren brutalen Schicksalen, welche am meisten in Erinnerung bleiben. Laymon ist kein Autor, der zu Beginn seiner Geschichte überlebensgroße Helden definiert. Seine Figuren müssen an ihren im Grunde unmenschlichen Herausforderungen wachsen. Der Leser weiß, dass ihnen Ungemach bevorsteht. Dieses Wachsen balanciert auf einem schmalen Grad zwischen brutalen Splatterszenen, die Laymon sich insbesondere für den finalen Showdown aufhebt, und den körperlichen Anstrengungen, in vollkommener Dunkelheit durch ein Höhlenlabyrinth zu klettern. Das dabei nur die Tourguides über eine adäquate Ausrüstung verfügen, während die Touristen sich auf einen gefälligen Exkurs eingestellt haben, steht weiterhin außer Frage. Mit dem Sohn des Hotelbesitzers Kyle und seinem Vater verfügt der Plot über zwei sehr exzentrische Figuren. Vielleicht übertreibt Laymon im Vergleich zum effektiveren Neil Marshall Thriller ein wenig zu sehr, wenn er eine direkte Beziehung zwischen den Kannibalen und den Hotelbesitzern herstellt. Alleine die schon angesprochene Prämisse hätte für einen harten Thriller ausgereicht. Zumindest gibt Laymon insbesondere Kyle ein Motiv, lieber die anderen Touristen mit zu opfern, bevor seine jahrelangen Taten offenbar werden. Trotzdem wirkt der Zusammenhang zwischen den beiden zynisch gesprochen Interessengruppen zu stark konstruiert, da es unwahrscheinlich erscheint, das ein derartig gehäuftes Verschwinden von jungen Frauen in und um das Hotel nicht auffallen sollte. Auch arbeitet er zu wenig die Verbindung zwischen den Kannibalen, den Hotelbesitzern und dem Höhlenlabyrinth heraus. In erster Linie geht es Laymon darum, einen geradlinigen schockierenden Horrorroman zu schreiben. Im Vergleich zu seinen späteren Arbeiten ist "Die Familie" ausgesprochen stringent angelegt. Alle Exkurse sind plottechnisch vielleicht nicht notwendig, lassen aber die Figuren dreidimensionaler erscheinen. Von der Struktur her ist der vorliegende Roman ein klassischer Laymon. Die beiden anfänglich parallel laufenden Spannungsbögen werden im letzten Drittel des Buches überzeugend miteinander verknotet. das birgt aber auch entsprechende Risiken. Die Angreifer ähneln sehr stark den Figuren aus seiner "Cellar" Trilogie. Im Gegensatz zu Ketchum macht sich Laymon auch nicht die Mühe, die kannibalistischen Angreifer ausreichend zu charakterisieren. Dadurch fehlt insbesondere im ansonsten zufriedenstellend kompakten Mittelteil ein ausgleichendes Element. Die Kannibalen werden zum Abfallverwerter der menschlichen oder besser männlichen Gelüste. Nur impliziert arbeitet der Autor heraus, dass die Kannibalen selbst Opfer der Hotelbesitzer geworden sind. Dieser zynische Kreislauf des Bösen wird gegen Ende des Buches - wie es sich für dessen Romane gehört - ohne Rücksicht auf die Einzelschicksale durchbrochen. Die schwarzweiße Färbung insbesondere der zu Tätern gewordenen Opfer lässt "Die Familie" sehr viel kruder, einfacher konzipiert und stellenweise zu konstruiert erscheinen als es der Plot eigentlich verdient hat. Der zahlenmäßige "Vorteil" der im Überlebenskampf wenig geschulten Touristen wird durch die komplette Dunkelheit zu Gunsten der Kannibalenfamilie ausgeglichen. Das Höhlenlabyrinth ist zusätzlich so gut angelegt, dass es - im Gegensatz zu den Western, an denen sich Laymon in einigen seiner Romane orientiert - keine klassische Verteidigungsmöglichkeit gibt. Da durch den Stromausfall die "normalen" Zugänge zum Höhlenlabyrinth nicht passierbar sind, bleibt den Touristen und ihren Führern im Grunde gegen die Klischees des Genres nichts anderes übrig, als nach vorne zu gehen und allen unbekannte "Wege" zu erkunden. Hinzu kommt ein ohne Frage ausgesprochen blutiger Showdown. Es ist nicht selten, dass in einem Laymon Roman am Ende das "Auge um Auge, Zahn um Zahn" Prinzip vorherrscht und seine Protagonisten ihre ohnehin dünnen Zivilisationsmäntel ablegen. Aber bei "Die Familie" übertrifft er sich an Brutalität. Das er die Grenzen des guten Horrorgeschmacks mehrfach schon überschritten hat und auf der erotisch sexuellen Ebene nicht selten Perversitäten einfließen lässt, ist bekannt. Das Problem ist eher, dass Laymon zu selten die Szenen ausführlicher und zum Wohle des ganzen Buches sadistischer vorbereitet. Es gibt kein Unwohlsein, keine Schauer, welche dem Leser über den Rücken laufen. Zu sehr wird auf Gewalt und Gegengewalt mit Exkursen in den Bereich des Inzests und der Vergewaltigung zurückgegriffen, ohne das der Autor ein entsprechendes Gegengewicht wie in seinen überdurchschnittlichen Büchern aufbaut. So gehört "Die Familie" ohne Frage zu seinen härtesten Büchern und ist alleine deswegen seinen zahlreichen Fans zu empfehlen, wobei Neueinsteiger eher von diesem Splatterbuch abgestossen werden.

Originaltitel: Midnight's Lair
Originalverlag: Zebra
Aus dem Amerikanischen von Marcel Häußler

Deutsche Erstausgabe

Taschenbuch, Broschur, 352 Seiten, 11,8 x 18,7 cm
ISBN: 978-3-453-67625-1
Heyne- Verlag

Kategorie: