Ein Lord zu Tulivar

Dirk van den Boom

Mit „Ein Lord zu Tulivar“ legt Dirk van den Boom seinen ersten weniger „klassisch“ im Sinne von High, sondern bodenständig mit Exkursen in die Politik und Marktwirtschaft Fantasy Roman vor. Das Ende ist abgeschlossen, aber zwei Handlungsstränge – die weiterhin im Hintergrund aktive zweitmächtigste Familie des Reiches sowie die Idee einer seit Jahrhunderten verschollenen Stadt im Hohen Norden – bieten ausreichend Potential für Fortsetzungen.
Auch wenn es auf den ersten Blick ein wenig absurd erscheint, erinnert die Grundprämisse ein wenig an eine geschickt ausgeschmückte mittelalterliche Version von Kevin Costners „Der mit dem Wolf tanzt“. Hauptmann Gerades Kathain hat dem Reich in einem anscheinend Jahrzehnte andauernden, aber letzt endlich erfolgreich verlaufenen Krieg nicht nur treu gedient, sondern sich in mehreren Schlachten und als Lebensretter einiger adliger Söhne überdurchschnittliche Verdienste erworben. Der etablierten überwiegend adligen Obrigkeit ist er als Bürgerlicher ein Dorn im Auge. So erhält er zu Belohnung nicht den versprochenen Baronstitel, sondern wird als Lord in die ärmste Provinz Tulivar im Norden abgeschoben. Im Gegensatz zu Kevin Costner begleiten ihn dreißig Mann seiner Garde. Zusätzlich verfügt er über eine mehr oder minder größere Abfindung, mit welcher er seine Leute und sich zumindest über den ersten Winter bringen kann. Wie Kevin Costner begegnet er dem fremden Land aber mit offenen Augen und versucht die vorgefundene Kultur nicht Untertan zu machen, sondern geschickt für den eigenen Vorteil zu nutzen. Der Respekt vor dem Land trägt ihm schließlich den Sieg in einer der fabelartigen Sequenzen des Buches zu.
Gerades Kathain akzeptiert diesen kargen Lohn und macht sich auf, aus Tulivar mehr zu machen als es momentan den Anschein hat. Das er dabei den Widerwillen und Widerstand der eigenbrötlerischen Einwohner der Provinz überwinden ist, steht auf einem anderen Blatt historischen Papiers.
Dirk van den Boom beschreibt in seinem unterhaltsamen, aber nicht gänzlich befriedigenden Roman im Grunde den Einzug der historischen Moderne in das Hinterland. Dabei folgt der Autor klassischen Methoden. Geradus Kathain ist natürlich mehr als nur ein brillanter Anführer. Er weiß mit soldatischen Effizienz und einem Auge für die Methoden der moderneren Marktwirtschaft anzukurbeln. Ausbau des einzigen wehrhaften Gebäudes – eines großen von Timo Kümmel sehr auf seinem stimmungsvollen Titelbild festgehaltenen Turms - , Versorgung der Soldaten, Etablierung eines Handels und schließlich Direktinvestitionen. Obwohl die Einwohner dem neuen Lord anfänglich höflich gesprochen sehr misstrauisch gegenüber stehen, rennt Kathain bei ihnen nur leicht geschlossene Türen ein. Im Land herrscht nach dem langen Krieg ein Mangel an Männer im heirats- und zeugungsfähigen Alter. Die Aufträge, die Kathain großzügig aus seiner eigenen Tasche vorfinanziert, beleben natürlich den darbenden Handel und erwecken die Gier nach mehr. Dirk van den Boom folgt dem Lehrbuch einer modernen Wirtschaftshilfe zur Selbsthilfe, wobei Kathain mit seinen Männern alles in einem überschaubaren Rahmen abwickeln kann. Das hilft bei der großen Aufgabe.
Was die große Politik angeht, holt ihn schnell die Realität ein. Im Norden erkundet er Felsdom, die nördlichste Siedlung Tulivars. Hier gerät er in einen Hinterhalt, den ihm die Bergkrieger gelegt haben. Bislang haben diese wilden Gesellen nur regelmäßig die Einwohner Felsdoms überfallen und ausgeraubt. Jetzt werden sie von Hintermännern der Kathain hassenden Lords angestachelt, den Emporkömmling auszuschalten. Um Kathain im Grunde aus einer unmöglichen Falle zu holen, bedient sich Dirk van den Boom der ersten von leider mehreren „Deus Ex Machina“ Lösungen, die angesichts der bislang bodenständigen Entwicklung negativ aus dem Plot herausragen. Kathain wird ein Fluchtweg aus seinem Gefängnis gezeigt und natürlich stellen sich die zurückgelassenen Wachen trotz späteren Widerstands ein wenig dümmlich an.
In einer der im letzten Drittel des Romans folgenden Szenen versuchen die Hintermänner Kathain inzwischen deutlich rabiater zu vertreiben, in dem neben den Bergmännern auch eine Kriegerschar der Jahrhunderte lange anscheinend verschollenen und im unwirtlichsten Norden liegenden Stadt mobilisiert wird. Aber auch für diese zahlenmäßige Übermacht findet sich in Dirk van den Booms Köcher eine interessante, aber eher konstruierte Lösung. In Tulivar leben nicht nur arme Menschen, sondern naturverbundene weibliche „Magier“. Sie werden Sprecherinnen genannt und können die Kräfte des Landes beschwören. Das gipfelt in zwei absolut positiven, aber auch konstruiert erscheinenden Szenarien. Zum einen wird in den Tälern der Bergregion Gold gefunden, was Tulivar indirekt unabhängig macht, da Kathain einen Pakt mit einer der mächtigeren Fürsten schließt. Ziel ist es, das die Nordregion und die Förderung des Goldes in der Theorie ausreichend bewacht wird, während der Fürst einen ordentlichen Anteil an den anscheinend großen Funden erhält. Als diese Theorie nicht ganz funktioniert, greift das Land nach Schließung des Paktes unter vollem körperlichen Einsatz von Kathains Ersatzkörper – die Idee ist so bizarr, das die Szene einfach gelesen werden muss – nach den unerwünschten Erobern und vernichtet sie vollständig. Diese Szenen lesen sich alleine eindrucksvoll, wirken aber konträr. Während Kathains Geschäftstüchtigkeit für eine Reihe von gut zu lesenden Überraschungen gut ist und zum Beispiel auch an seinen „Eobal“ im positiven Sinne erinnert, wirkt das Eingreifen der Sprecherin mit der Beschwörung der Tierwelt zu esoterisch und zu aufgesetzt. Bislang hat Dirk van den Boom im Laufe des stringenten, allerdings dank der Episodenstruktur niemals langweiligen Roman die magischen Kräfte eher als Aberglauben betrachtet. Jetzt dreht sich für einen Moment das Blatt. Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, auch für diese Bedrohung eine eher handgreifliche Lösung zu finden, die besser im Einklang mit dem bisherigen Plot gewesen ist.
Kathain zeigt schon in ausreichend vielen, aber für die Gesamtstruktur positiv nicht allen Szenen, dass er immer ein As im Ärmel bzw. ein einzigartiges Geschenk im Koffer hat. Manchmal funktioniert seine Vorgehensweise sehr gut. Dirk van den Boom umgibt seinen nicht überdimensionierten Protagonisten mit einer Reihe von bizarren in erster Linie Ureinwohnern, die ihn mit ihrer spröden, ablehnenden und phlegmatischen „nichts muss sich ändern“ Haltung an den Rand des Wahnsinns treiben. Dann findet der Leser aber in den späteren Episoden auch eine Reihe von Situationen, in denen der Autor nur Klischees bedient. Kriegsheld, aber in Bezug auf Frauen eher unerfahren und tollpatschig. Kaum wird er Vater – und das zweimal im ganzen Buch -, ist er mit der Situation überfordert. Die Art und Weise, in welcher der Pakt mit der Sprecherin besiegelt werden muss, sticht in dieser Hinsicht heraus. Wie die verschiedenen Sexszenen in seinen „Tentakel“ Romanen versucht Dirk van den Boom hier ein wenig zu provozieren und gegen manches Klischees anzuschreiben, aber irgendwie passt diese Szene nicht in das Konzept des Romans.

Der Hintergrund Tulivars ist interessant, aber nicht zu übertrieben beschrieben. Stimmungstechnisch hätte ein erfahrener Autor wie Dirk van den Boom mehr daraus machen können und müssen. Die Einsamkeit und die herbe „Schönheit“ des Landes kommen manchmal zu kurz. Anfänglich neigt er ein wenig zu Schwafeleien und Wiederholungen. So erblickt Lord Tulivars Auge zu Beginn kurz hintereinander zweimal Dinge, die ihm an seiner ärmlichen neuen Provinz gefallen. Es sind in beiden Fällen die gleichen sorgsam bestellten Felder. Auf der anderen Seite beschreibt er überzeugend, warum die Menschen trotz fehlender Zukunft – bis zu Kathains Eintreffen – in dieser Einsamkeit ausharren und ihr Leben dort verbringen. Auch wenn manche Leser das vielleicht nicht nachvollziehen können, gibt der Autor ihnen zumindest entsprechende Hinweise auf den Weg.

Die wenigen Schlachtenszenen sind gut beschrieben, wobei der finale Kampf um das Kastell vielleicht zu nihilistisch erscheint. In Bezug auf die einzelnen Konfrontationen ist ein Höhepunkt ohne Frage die erste Begegnung zwischen der von einem der Adligen angeheuerten von Süden in das Land eindringenden Söldnertruppe sowie den zurückgebliebenen Ureinwohnern. Es stellt sich vielleicht die Frage, ob ein Lord wirklich Männer aus dem Land anheuert, das er erobern und unter seine Kontrolle bringen will, aber diese Brillanz, die in einzelnen Szenen aufblitzt, macht aus „Ein Lord zu Tulivar“ mehrmals eine vergnügliche Lektüre.

Was die Protagonisten angeht, so hat Dirk van den Boom eine interessante Truppe zusammengestellt. Natürlich ist Kathain eine Art Überheld, wobei der Autor ihm eine Reihe von Schwächen zugesteht. Nach seinen Kriegserfahrungen versucht er auf der einen Seite vieles pragmatischer und ruhiger zu sehen. Auf der anderen Seite bleibt er ein Mann der Tat, dessen Instinkte vielleicht ein wenig eingerostet sind, der aber planerisch überzeugen kann. Positiv für den ganzen Handlungsbogen überlässt der Autor ihm nicht alle Triumphe. Als der hinterlistige wie kluge Steuereintreiber kommt, versuchen ihm die Tulivaner mit einer sich im Krieg gegen die Bergvölker befindlichen Hilfstruppe zu unterstützen. Neja, die Seherin ist eine interessante Figur, während Kathains Ehefrau Dalina anfänglich nur Kuchen backen muss. Und den gibt es in verschiedenen Geschmacksvariationen. Später schaut sie ein wenig kokett und gebiert zwei Kinder. Aus ihr hätte der Autor deutlich mehr machen können. Der stetig für Vaterfreuden sorgende, aber auch sexuell ambivalente Adjutant erscheint eher wie ein Klischee, während die Ureinwohner Tulivars mit ihren Ecken und Kanten, sowie der typisch norddeutschen spröden Herzlichkeit – vielleicht hat sich Dirk van den Boom hier an seine geburtstechnische Heimat erinnert – sehr gute individuelle Züge erhalten haben.
Zusammengefasst überzeugt „Ein Lord zu Tulivar“ trotz eines Hangs zu teilweise zu einfachen Lösungen bei unmöglichsten Problemen, während die bodenständigen wie alltäglichen Herausforderungen mit einer Mischung aus Erfahrung, Glück und Bauernschläue überzeugender und rückblickend inhaltlich sehr viel zufriedenstellender gelöst werden. Die zahlreichen Dialoge sind von Dirk van den Boom mit viel lesenswerter Ironie und verbaler Situationskomik niedergeschrieben worden. Dabei halten sich Exzentrik – siehe die beiden keckernden Marktfrauen – und Bodenständigkeit – Dalinas Vater mit seinem in der anderen Grafschaft sei hier exemplarisch erwähnt – sehr gut die Waage. Ein solides Fantasy Debüt des Saarbrücker Autoren.

Dirk van den Boom: "Ein Lord zu Tulivar"
Roman, Softcover, 236 Seiten
Atlantis- Verlag 2012

ISBN 9-7838-6402-0582

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